Unter toskanischem Himmel und bei toskanischer Küche eine Woche lang marxistische Diskussionen, diesen Vorgeschmack auf den Kommunismus gönnten sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der von der Stiftung Gegenstand organisierten Tagung, die, das Thema des letzten Jahres aufnehmend, diesmal den Fokus von den USA auf Europa verrückte. In elf Referaten und einer Abschlussdiskussion wurde der Frage nachgegangen, wie sich Europa im Rahmen der innerkapitalistischen Konkurrenz plaziert und welche progressiven Gegenkräfte sich gegenwärtig abzeichnen.
Den Ausgangspunkt bildete der Überblick von Dorothee Bohle zur EU-Osterweiterung, die von ihr als ungleicher Prozess beschrieben wurde: Handelte es sich einerseits um einen bedingungslosen Export von Kernbereichen des Deregulierungsprogramms, so erfolge in sensiblen Bereichen des Integrationsprozesses gerade keine Gleichbehandlung. Als Beispiele nannte Bohle die Struktur- und Sozialfonds, die Agrarpolitik und die eingeschränkte Mobilität. Während die exportorientierten transnationalen Unternehmen ein starkes Interesse an der Osterweiterung hätten, finde man auf Seiten der schwächeren gesellschaftlichen Kräfte einen defensiven Kampf zur Sicherung von Mindeststandarts. Kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob der Kapitalexport durch erwartete Markteroberungen oder durch die Frage der Kosten motiviert sei; einig war man sich, dass es sich nicht nur um ein ökonomisches, sondern auch ein geostrategisches Projekt handele.
Klaus Dräger widmete sich in seinem Referat dem europäischen Wohlfahrtsstaat, dessen Spezifik und Geschichte. Die auch innereuropäischen Unterschiede dieses Modells betonend konstatierte Dräger, dass sich die Sozialstaatsreformen von zunächst immanenten Reformen zu jetzt systemüberwindenden Reformen gewandelt hätten. Die Perspektive auf das angloamerikanische Modell sei allen europäischen Ländern gemeinsam, die Wege dorthin unterschieden sich aber noch. An diesem Punkt entzündete sich die anschließende Diskussion in der von Hans-Jürgen Urban (IGM) dafür plädiert wurde, nicht alles unter den Begriff „neoliberal“ zu fassen. Europa habe weiterhin ein eigenes Modell, dies gelte es genauer zu analysieren.
Mit dem letzten Vortrag des ersten Tages kam es zu einem inhaltlichen Bruch, wandte man sich doch jetzt von den harten Fakten der Politik dem ideologischen Überbau zu. Gerd Wiegel referierte über die Europakonzepte von rechts und wandte sich den ideologischen Welten einer intellektualisierten extremen Rechten zu. Am überraschendsten waren hier die zahlreichen Versatzstücke von Argumentationsfiguren, wie sie sich auch bei manchen Linken finden lassen: Die USA als personifizierte Macht des Bösen, die die Freiheit der Völker bedrohen und die Hoffnung auf Europa, hier ein machtpolitisches und ideologisches Gegengewicht zu etablieren. Die völkische Grundierung solcher Argumentationen gelte es aufzudecken, um keine falschen Gemeinsamkeiten aufkommen zu lassen.
Die „Hard Power“ beherrschte die Diskussionen des zweiten Tages. Zunächst zeichnete Tobias Pflüger die militärischen und strategischen Veränderungen Europas nach, wobei die eindeutige Dominanz der großen drei: Großbritannien, Frankreich und Deutschland deutlich wurde. Ziel dieser Veränderungen sei es, Europa zum strategischen Akteur zu machen, was der EU-Verfassungsentwurf so auch festschreibe. Diskussionspunkt war hier natürlich das Verhältnis zu den USA: Während Pflüger die gewollte Konkurrenz zu den USA in den Mittelpunkt stellte, beharrte Rainer Rilling auf den unterschiedlichen Potenzen. Die USA seien militärisch in einer anderen Liga als Europa, zudem gebe es hier eine klare Feindbildkonstruktion (den Terrorismus), verbunden mit einem Weltherrschaftsprojekt, beides sei so in Europa nicht vorhanden. Dennoch beharrte Pflüger darauf, dass die Debatte in Deutschland vornehmlich über die EU-Aufrüstung geführt werden müsse.
Unter der Fragestellung „Wem gehört Europa?“ untersuchte Ingo Schmidt die politische Ökonomie des Kapitalismus in Europa, das, so sein Ausgangspunkt, wechselnd als Marktplatz, Machtblock oder Teil des US-Empire beschrieben werden könne. Schmidts Beschreibung von Europa spiegelte die Paradoxe dieses Modells wider: So liege der Zweck der supranationalen Institutionen in der ökonomischen Integration, gleichzeitig böten sie aber die Möglichkeit der politischen Integration. Auch sei die EU kein geschlossener Handelsblock und die USA Partner und nicht nur Konkurrent. Die Eroberung von Märkten, so Schmidt, spiele für die EU eine größere Rolle als die Eroberung von Hauptstädten. In der Debatte ging es um die Frage, ob es (zumindest normativ) ein europäisches Sozialmodell gebe, das gegenwärtig gerade grundlegend verändert wird.
Eurokapitalismus und Euroimperialismus hieß das Thema von Klaus Dörre der sich in seinen Ausführungen vor allem auf die Untersuchung von Panitsch/Gindin zum neuen Imperialismus bezog. Ausgangsthese von Dörre war, dass es keinen Euroimperialismus gebe, stattdessen sei von einem „informal empire“ unter klarer Führung der USA zu sprechen, an deren hegemonialer Position sich nichts geändert habe. Die Stabilität diese „informal empire“ beruhe auf der freiwilligen Einordnung, hervorgerufen durch ein kulturelles Leitbild, das die Gesellschaft durchdringe und auch einen Elitenkonsens beinhalte. Neu sei, dass dieses „informal empire“ durch die Politik der USA jetzt manifest werde. Dörre warnte vor der Überbewertung der innerimperialistischen Konkurrenz; die Verflechtungen seien größer als die Gegensätze. Der entscheidende Punkt für die Politik sei die Frage nach den Schranken der Expansions- und Verallgemeinerungsfähigkeit des Systems. Hier verlaufe die Bruchlinie, z.B. zum Islam. Diskutiert wurde vor allem die Frage, wie weit der Begriff „Imperialismus“ die Analyse vorantreibt oder ob nicht von „Hegemonie im internationalen Staatensystem“ gesprochen werden müsse.
Nach einem Tag Freizeit ging es am dritten Tagungstag mit dem Referat von Werner Ruf zum Thema Europa und Islam weiter. Vor neuen Feindbildkonstruktionen im Anschluss an Huntigtons „Kampf der Kulturen“ warnte Ruf und verwies auf den „erweiterten Sicherheitsbegriff“ des Westens, der den Blick auf die wichtigen Rohstoffregionen lenke. In der Diskussion wurde jedoch bezweifelt, ob das von Ruf formulierte Plädoyer für gegenseitige Anerkennung ein emanzipatives Potenzial enthalte. Nicht Identität sondern deren Transformation durch soziale Kämpfe wurde als vorwärts weisend angesehen.
Christina Kaindl ging in ihrem Beitrag den Zusammenhängen von Neoliberalismus und Rechtsextremismus in Europa nach. Im Anschluss an die Arbeiten von Herbert Schui stellte sie die ideologische Nähe von Neoliberalismus und modernem Rechtsextremismus dar. Der Aufschwung des Rechtspopulismus in Europa falle zusammen mit der Krise des sozialdemokratischen Projekts. Wie schon zuvor ging es auch in dieser Diskussion um die Grenzen des Begriffs Neoliberalismus: So sei zu fragen, ob etwa die Hartz-Gesetze als neoliberal bezeichnet werden können.
Um den Aufstieg des Empire ging es im Vortrag von Thomas Seibert. Ausgangspunkt der kritisch an Hardt/Negri orientierten Analyse war der von Habermas und Derrida vorgelegte europäische Gegenentwurf zur US-Amerikanischen Politik. Dieser Entwurf wurde von Seibert als Dokument des Empire und zwar seines europäischen Teils gelesen, mit dem die Antikriegskräfte in dieses Empire eingebunden werden sollten. Die von Habermas benannte „Weltinnenpolitik“ sei der Kern des Empire – im Gegensatz zum Imperialismus. Die Einbindung der Linken in die innerimperialen Kämpfe wäre, so Seibert, eine Parallele zur Einbindung der Arbeiteraristokratie 1914. Der positive Bezug eines Teils der Linken auf „old Europe“ sei das Problem der gegenwärtigen Debatte, in der die alte Losung vom ‚Feind im eigenen Land’ vergessen werde. Die Stimmigkeit der Analyse von Hardt/Negri wurde in der Debatte bezweifelt, verbunden mit der Vermutung, dass die Proteste gegen den Irakkrieg nicht Ausdruck der revolutionären Multitude seien, sondern gerade das zum Ausdruck brachten, was Habermas und Derrida formulierten. Deren Position könne somit auch als Zeichen des Bruchs in der neoliberalen Hegemonie gesehen werden.
Eine Tagung in Italien ohne einen Beitrag aus der italienischen Linken wäre eine vertane Chance gewesen und so war die deutsch-italienische Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften sicher einer der spannendsten Punkte der Veranstaltung, zumal dank der professionellen Verdolmetschung auch eine wirkliche Diskussion stattfinden konnte. Mit Hans-Jürgen Urban von der IG-Metall diskutierten zwei Kollegen der Chemiesparte der CGIL, Sandro D’Ascenzi und Francesco Simpatico, die zusammen mit deutschen und englischen Kollegen im europäischen Betriebsrat eines transnationalen Chemieunternehmens sitzen. Probleme der politischen Repräsentanz, Gewerkschaften und betriebliche Interessenvertretung sowie die Frage der Interessenvertretung über nationale Grenzen hinweg waren die Punkte dieser Debatte. Die Ignoranz der Politik gegenüber dem sozialen Protest in Italien und in Deutschland, das Problem der oftmals rein betrieblichen Kämpfe der Gewerkschaften und die Frage der realen Interessenkonflikte zwischen den Standorten transnationaler Konzerne waren die inhaltlichen Punkte der Diskussion. Bezogen auf die weitgehenden Übereinstimmungen in den Sichtweisen bemerkte Sandro D’Ascenzi mit Blick nicht nur auf Italien, dass der Dialog über Ländergrenzen hinweg oft leichter sei als zwischen manchen Gewerkschaften in einem Land.
Den Auftakt zur Abschlussdiskussion machte Hans-Jürgen Urbarn mit einem Blick auf die Rolle der Linken in Europa, unter besonderer Berücksichtigung der Gewerkschaften. Die Linke, so seine These, könne nur erfolgreich sein, wenn sie Gegenmacht organisiere und eine eigene Richtung der Entwicklung benennen könne. Ein ökologisch geläuterter Eurokeynesianismus, verbunden mit einem alternativen Wirtschafts- und Finanzregime, sei eine pragmatische Vorstellung jenseits des großen Wurfes. Soziale Subjekte dieser Veränderung im Sinne eines neuen historischen Blocks könnten Gewerkschaften, Teile der globalisierungskritischen Bewegung, Protesbewegungen und Intellektuelle sein, noch sei jedoch niemand reif für diesen Block.
Beendet wurde die Tagung in der Villa Palagione mit einer Reflexion von Reinhard Kühnl über die Wurzeln und Perspektiven europäischer Kultur, deren Früchte die TeilnehmerInnen dann individuell genießen konnten.