Vom 29. September bis 2. Oktober fand in Paris und Nanterre der vierte Kongress Marx International, diesmal zum Thema imperialistischer Krieg, sozialer Krieg, statt. Ziel dieses federführend von der Zeitschrift Actuel Marx alle drei Jahre durchgeführten internationalen Kongresses ist es laut seinem Präsidenten, dem Philosophen Jacques Bidet, einen Treffpunkt der sich aus dem Marxismus speisenden Strömungen über die tradierten kulturellen und politischen Spaltungen hinweg zu schaffen. Bidet verbindet mit dem Kongress die Hoffnung, zu einer neuen marxistischen Praxis der theoretischen Subversion beizutragen, welche den Dialog mit den neueren sozialen Bewegungen (Feminismus, Ökologie und globalisierungskritischer Bewegung) sucht. Als Ermutigung mag dahingehend gelten, dass der diesjährige Kongress im Zeichen des Widerstands gegen den Neoliberalismus ein zahlreicheres (rund 1.000 Teilnehmer) und teils jüngeres Publikum anzog als sein Vorgänger im September 2001. Hatte dieser noch ganz unter dem Eindruck der Frage nach der Bedeutung von nine/eleven gestanden, so waren diesmal der imperialistische Krieg und soziale Gewalt (von der Zerstörung der Sozialsysteme bis zur Militarisierung der Gesellschaft, wie beispielsweise mit dem US-amerikanischen Patriot Act) auch programmatisch in den Mittelpunkt des Kongresses gerückt. Die zentrale Fragestellung lautete: Welche Konzepte kann die derzeitige marxistische Debatte liefern, um die aktuellen Dimensionen des Krieges (Terrorismus, religiöse Färbung, clash of civilisations etc.) zu begreifen?
Zu diesem wohl größten Kongress marxistischer Tradition der westlichen Hemisphäre kamen nicht nur Forscher aus ganz Europa. Eine – schon traditionell – starke Präsenz war auch aus Lateinamerika festzustellen sowie aus den USA, dem Maghreb und der arabischen Welt, aber auch aus China und Japan. In Hunderten von Beiträgen[1] wurde drei Tage lang in rund 15 parallelen Ateliers versucht, breit gefächert mit Marx zu denken. Der Kongress war in zehn wissenschaftlichen Sektionen (Anthropologie, Geschichte, Kultur, Ökonomie – mit 16 Ateliers und einem Plenum die größte Abteilung – Philosophie, Politik, Psychologie, Recht, Soziologie und Sprachwissenschaften) und weiteren vier themenspezifischen Sektionen (Marxistische Studien, Ökologie[2], Soziale Beziehungen und Geschlecht und Sozialismus) unterteilt. Zusätzlich gab es jeden Abend ein interdisziplinäres Plenum.
Das Eröffnungsplenum in der Sorbonne (Referenten: Jacques Bidet, Gilbert Achcar, Gérard Duménil, Susan George, Domenico Losurdo) war direkt dem Kongressthema imperialistischer Krieg, sozialer Krieg gewidmet. Die weiteren Vollversammlungen Empire/Imperialismus (Jacques Bidet, David Harvey, Toni Negri, André Tosel), Gewalt des Kapitals und soziale Zerstörung (Armando Boito, François Houtard, Margaret Maruani, Gus Massiah) sowie das Abschlussplenum Gewalt von oben, Gegenmacht von unten (Etienne Balibar, Alex Callinicos, Monique Chemillier-Gendreau, Christine Delphy) variierten die Blickwinkel auf die zentrale Fragestellung.
Hier soll nur der Versuch unternommen werden, schlagwortartig einige Höhepunkte der Tagung hervorzuheben. In vielen Ateliers, insbesondere in der Sektion Ökonomie, waren die Themen der Gegner der neoliberalen Globalisierung, wie sie auch auf den Sozialforen anzutreffen sind, sehr präsent. So z.B. beim Eröffnungsbeitrag des Kongresses, in welchen die Vize-Präsidentin von Attac, Susan George, mit Hinblick auf die Entwicklung des US-Imperialismus dazu mahnte, auf das Schlimmste gefasst zu sein, unabhängig ob Kerry oder Bush die Wahlen gewinnt. Während Bin Laden nur einen Tante-Emma-Laden im Gewerbe des Terrorismus führen würde, träte der amerikanische Präsident als Großhändler der Branche in Erscheinung.
Die Charakterisierung des derzeitigen imperialistischen Weltsystems nahm einen herausragenden Platz auf dem Kongress ein. Während Ökonomen wie Gérard Duménil und Dominique Lévy, aber auch David Harvey den sogenannten Neoliberalismus als Phase der imperialistischen Entwicklung charakterisierten, in welcher die Bourgeoisie ihre in der keynesianischen Nachkriegszeit reduzierten Profitmargen wiederherstellte, betonte Samir Amin die Unipolarität als Hauptkennzeichen der derzeitigen Expansion des Weltkapitalismus. Darin stimmt er weitgehend mit Eric Hobsbawm überein, welcher einer der herausragenden Figuren des Geschichtssymposiums in Gedenken an den vor Jahresfrist verstorbenen marxistischen Historiker Pierre Vilar war. Den Imperialismusanalysen stellte Toni Negri sein Konzept vom Empire entgegen, womit er reichlich Widerspruch auslöste, während Jacques Bidet ihm bezüglich der Multitude bescheinigte, einen treffenden Begriff für die neue Konstellation von Klassenkampf und sozialen Bewegungen gefunden zu haben.
Wichtige Beiträge in der Sektion Ökologie lieferten Jean-Marie Harribey, welcher sich u.a. mit dem Spannungsverhältnis von marxistischem und ökologischem Paradigma beschäftigte und gegen eine Perspektive des Minuswachstums argumentierte, sowie Michel Löwy, welcher gegen die schnellstmögliche Entwicklung der vom Kapitalismus geerbten Produktivkräfte als Aufgabe des Sozialismus plädierte. In ökosozialistischer Perspektive müsse der für sozialistische Bedürfnisse ungeeignete Produktionsapparat des Kapitalismus „zerschlagen“ und radikal umgestaltet werden. Frieder Otto Wolf sprach zu Aspekten der Reproduktion im Vergleich von Althusser und ökofeministischen Positionen.
Aus der Sektion Philosophie sind neben dem Atelier über Materialismus und Moral, in dem Yvon Quiniou für eine biologische Fundierung der Entstehung universeller menschlicher Werte plädierte, das Atelier zu Georg Lukács hervorzuheben, der in seinem Hauptwerk „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ genau gegenteilig die gesellschaftliche Fundierung von Moral und Ethik begründet. Nicolas Tertulian konfrontierte Adornos negative Dialektik mit dem umfassenden Erneuerungsversuch des Marxismus beim reifen Lukács, der mit seiner ontologischen Grundlegung der materialistischen Dialektik Spielräume menschlichen Handelns aufdeckt, welche prinzipiell in der Lage sind, die vorherrschenden Negativtendenzen (Imperialismus, Krieg etc.) zu meistern.
In der Sektion Sozialismus gab es eine Reihe von Ateliers, welche sich mit der Situation in China beschäftigten, sowie mit Kuba bzw. der derzeitigen brasilianischen Politik (Armando Boîto). Darüber hinaus drehte sich die Diskussion um die Frage der sozialen Aneignung im Spannungsfeld von Reform und Revolution (Michel Husson) und den Problemen von Selbstverwaltungsmodellen heute (Thomas Cutrot, Tony Andréani).
In der Sektion Soziale Beziehungen und Geschlecht sind insbesondere Beiträge zum weiblichen Gesicht von Arbeitslosigkeit (Helena Hirata) hervorzuheben – ein Thema, das auch in der Sektion Soziologie einen wichtigen Platz einnahm. Einen weiteren Schwerpunkt dort bildete eine Debatte um Klassenstrukturen heute, mit besonderem Augenmerk auf den Herausforderungen für den Klassenkampf durch die gegenwärtigen Individualisierungstendenzen (Philippe Corcuff). Während Susan George in ihrer Auftaktrede die Gefahren der gegenwärtigen imperialistischen Entwicklung betont hatte, schloss der letzte Kongressvortrag von Etienne Balibar mit seinem Vergleich von Lenin und Gandhi, zwei herausragenden Führern der Gegenmacht von unten des 20. Jahrhunderts, mit einer eher positiven Note ab. Eine Wiederaneignung der Erfahrungen von vergangenen antiimperialistischen Revolten für die Entwicklung von erfolgreichen Strategien der gegenwärtigen globalen Emanzipationsbewegungen scheint unverzichtbar.
[1] Zu einem guten Teil sind die meist französisch oder englisch gehaltenen Beiträge über die Internetseite von Actuel Marx abrufbar: www.u-paris10.fr/ActuelMarx/.
[2] Die Referate und Diskussionen insbesondere der Sektion Ökologie können per Videoaufzeichnung auf folgender Internetseite eingesehen werden: http://argon.u-strasbg.fr/applicatifs/canalunew/video.asp?idConference=329.