Editorial

März 2005

Den politischen Angriffen der Unternehmerverbände auf die Tarifautonomie im Jahr 2003 folgten im letzten Jahr massive Angriffe auf bisherige Tarifstandards: Niedrige Lohnabschlüsse bis hin zu tariflich vereinbarten Nominallohnsenkungen, weitere Schritte der Arbeitszeitflexibilisierung und Arbeitszeitverlängerung wurden erzwungen, tariflich abgesegnete Öffnungsklauseln für betriebliche Verhandlungen genutzt, um mit der Drohung von Betriebsschließungen, Arbeitsplatzverlagerung und Massenentlassungen von den Belegschaften „Sanierungsbeiträge“ in Millionenhöhe zu erpressen. Siemens war Vorreiter; die Konzerne der Automobilindustrie (DaimlerChrysler, Opel, VW) zogen nach. Die Kapitaloffensive richtet sich, wie Frank Deppe bilanziert, auf „Systemwechsel“ und hat die Gesamtheit der institutionalisierten Beziehungen von Lohnarbeit und Kapital im Visier: Tarifvertrag, Mitbestimmung, kollektives Arbeitsrecht und Sozialstaat.

Gibt es unter diesen Bedingungen für Gewerkschaften und Belegschaften Chancen, aus der Defensive herauszukommen? Diese Frage wird in den Beiträgen zum Schwerpunkt „Kampfplatz Betrieb: Anpassung oder Widerstand?“ unter verschiedenen Gesichtspunkten erörtert: Mit historischem Rückgriff auf vorhergehende Umbruchkonstellationen im Kapitalismus des 20. Jahrhunderts und dem Blick auf die aktuellen Veränderungen in den Klassenbeziehungen der Bundesrepublik wie im globalen high-tech-Kapitalismus (Deppe); mit Blick auf einzelne Branchen (Dietmar Düe zur Automobilindustrie, Steffen Dörhöfer zur Informations- und Telekommunikationsindustrie); in Berichten von zwei Betriebsräten (Leo Mayer , Stephan Krull), die aus den Erfahrungen des Arbeitskampfes bei Siemens und der Tarifauseinandersetzung bei VW ihre Schlüsse für eine an Belegschafts- und Klasseninteressen orientierte gewerkschaftliche und betriebliche Strategie ziehen. Deppe fordert eine „Kombination von Prinzipienfestigkeit ... und Lernfähigkeit“, um den Kampfbedingungen der heutigen Formation des Kapitalismus (Internationalisierung, Restrukturierung der Klassenverhältnisse, Umbau nationaler und supranationaler Staatlichkeit, Rolle des Finanzkapitals usw.) gerecht zu werden, wobei dem Aufbau von Allianzen zwischen Beschäftigten und neuen Randschichten sowie der internationalen Kooperation von Belegschaften und Gewerkschaften besondere Bedeutung beigemessen wird.

Wie wirkt sich die Krise der Automobilindustrie auf die künftigen Arbeitsbeziehungen aus, welche Konsequenzen müssen Belegschaften und Gewerkschaft ziehen? Dietmar Düe zeigt, dass die deutsche Autoindustrie nicht unter verschlechterten Wettbewerbsbedingungen im internationalen Kontext leidet. Er hält eine über reaktive Abwehrhaltungen hinausgehende handlungspolitische Offensive für notwendig, die z.B. die Diskussionen über Arbeitszeit-Verkürzung sowie Umweltbelastungen der Motorisierung einschließen muss. Stephan Krull sieht als Ergebnis seiner Analyse der Tarifauseinandersetzung bei VW die Hauptaufgabe der IG Metall darin, auf Krise und Defensive im Bereich der Automobilindustrie mit Politisierung und einer europaweiten bzw. globalen Koordination zu antworten. Die konsequentere Verteidigung erkämpfter Standards z.B. in der Arbeitszeitverkürzung müsse mit Konzepten der Konversion und Diversifikation der Automobilproduktion verbunden werden. Leo Mayer zeigt, unter welchen Bedingungen in dem Großbetrieb Siemens Hofmannstraße mit einem „partizipativen“ statt auf Stellvertreterpolitik setzenden Ansatz eine erfolgreiche Mobilisierung gegen Massenentlassungen organisiert werden konnte. Steffen Dörhöfer schildert die Konturen neuer Arbeitsorganisation in der Informations- und Telekommunikationsindustrie sowie gewerkschaftliche Projekte, mit denen auf Entgrenzung von Arbeit, zunehmende Heterogenität und Akademisierung der Belegschaften und Individualisierung des Interessenhandels reagiert werden soll.

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Zwei Beiträge dieser „Z“-Ausgabe beschäftigen sich mit dem politisch-ideologischen System der USA: Tobias Bader untersucht die Denkschule des Neokonservatismus und deren Einfluss auf die us-amerikanische Politik, den ihr die zweite Präsidentschaft von Bush eröffnet; Clyde Barrow analysiert den Aufstieg der neokonservativen Republikaner als Wirkung eines religiös-politischen „Kulturkampfs“. In der Rubrik „Marx-Engels-Forschung“ berichten Rolf Hecker und Eike Kopf aus der Arbeit der dem „Kapital“ gewidmeten II. Abteilung der MEGA: Hecker beleuchtet die Rolle von Friedrich Engels als Bearbeiter und Herausgeber der Marxschen Manuskripte zum zweiten Band des „Kapital“, Kopf gibt einen Einblick in die Edition des soeben erschienenen Bandes II/15, der den dritten Band des „Kapital“ umfasst. Gesellschaftstheoretische Beiträge steuern zum vorliegenden Heft Lothar Peter mit einem Besprechungsaufsatz zu Problemen einer historisch-materialistischen Gesellschaftstheorie, Anneliese Braun mit dem zweiten Teil ihres in Z 60 begonnenen Aufsatzes zu Möglichkeiten emanzipatorischen Handelns und Helmut Peters mit einer eingehenden Analyse des sozialen Transformationsprozesses in China bei. Die beschleunigte Modernisierung Chinas ist mit außerordentlichen Zugeständnissen an das internationale Kapital verbunden, wobei Peters die Chance eines Offenhaltens der chinesischen Entwicklung für einen sozialistischen Weg noch nicht vertan sieht.

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Über Lenins Umgang mit den Klassikern und der Geschichte notierte Jupp Schleifstein 1988: „Das Vergleichbare, Anwendbare, zu Lernende ist für ihn immer an die Voraussetzung der konkret-historischen Analyse gebunden, an die Untersuchung der eigenen ökonomischen, sozialen, politischen, geistig-ideologischen Bedingungen, an die Konstellation der Klassenkräfte und Parteiströmungen...“ Gerade das, was er an Lenin hervorhob, konnte man von Jupp Schleifstein als marxistischem Politiker und Historiker lernen. Dies Heft gibt Gelegenheit, an seinen 90. Geburtstag am 15. März zu erinnern.