I. Die Krise ist unübersehbar – aber um was für eine Krise handelt es sich?
Die Krise der Automobilproduktion in Deutschland ist unübersehbar. Es ist keine Krise der Automobilindustrie, keine der Automobilhersteller insgesamt, denn diese haben Produktion und Absatz zu einem guten Teil schon verlagert.[1] Es ist eine (Über-)Produktionskrise, eine Absatzkrise, eine Krise mit strukturellen und konjunkturellen Aspekten und großen Unterschieden zwischen den Regionen der Triade und innerhalb dieser Regionen. Es ist also vor allem auch eine Beschäftigungskrise. Seit 50 Jahren verzeichnet die Automobilproduktion in Deutschland eine aufsteigende Linie – mit zyklischen Dellen und Einbrüchen in den Krisenjahren 1973 und 1993. Nunmehr ist die Produktion seit 1998 tendenziell fallend – auch in der Europäischen Union. Während deutsche Konzerne im Jahr 2002 weltweit 9,86 Mio. Pkw produzierten, waren es 2003 nur 9,7 Mio. Fahrzeuge, also 160.000 Autos weniger. Bei Zulassungen und Produktion in Deutschland sah es laut Verband der Automobilindustrie (VDA) folgendermaßen aus:
Im Jahr 2003 wurden 600.000 Fahrzeuge weniger zugelassen als vier Jahre zuvor und rund 200.000 Fahrzeuge weniger produziert. Für 2004 meldet der VDA, dass der Automarkt „erstmals seit vier Jahren nicht mehr geschrumpft, sondern bei 3,24 Millionen Neuzulassungen stabil geblieben“ sei. Die Bedeutung des Exportes einerseits wird deutlich, andererseits die tendenzielle Überproduktion. Dies vor allem, wenn berücksichtigt wird, dass die Produktion den Absatzmärkten folgt – bei der Automobilproduktion ebenso wie bei Vorprodukten und der Zulieferindustrie.
Für den Volkswagenkonzern sehen relevante Daten folgendermaßen aus:
VW-Konzern: Kennziffern 1998-2003
Tabelle siehe Datei zum Download!
Quelle: VW-Bilanzen und eigene Berechnungen
Mindestens bei VW handelt es sich um eine Krise der Profite, weil die Umsatzrendite inzwischen wieder auf 1,3% gesunken ist, weil in anderen Industriebereichen erheblich höhere Umsatz- und Kapitalrenditen erzielt werden.[2]
Da wir es absehbar in den nächsten Jahren mit Überkapazitäten und Überproduktion in Deutschland und Westeuropa zu tun haben werden (zumindest gemessen an der kaufkräftigen Nachfrage), ist die Frage zu beantworten, wie diese Krise aufgelöst werden kann bzw. werden wird. Die kapitalistische Ökonomie zwingt zu einer Krisenauflösung, die in einer Liquidierung der Überkapazitäten mündet. Auf neoliberale Weise bedeutet dies Standortschließungen und Massenentlassungen ohne Rücksicht auf Menschen und Regionen. Auf sozialstaatliche Weise bedeutet dies Standortschließungen und Massenentlassungen mit regionaler Kompensation und sozialer Abfederung. Die brutale Art der Krisenauflösung ist unmenschlich, unsozial und deshalb inakzeptabel. Die sozialstaatliche Art der Krisenauflösung ist von den Herrschenden in diesem Land nicht (mehr) gewollt. Nun müssen die Beschäftigten, die Gewerkschaften und Betriebsräte neue Wege der Krisenlösung suchen und finden. Dies wird zunächst keine Krisenlösung außerhalb der kapitalistischen Wirtschaft sein, dennoch wird eine akzeptable Lösung nur in scharfer Auseinandersetzung mit den Einzelkapitalen und dem eine ganz andere Politik praktizierenden Staat errungen werden können. Alles andere wären Illusionen, die in bitteren Enttäuschungen enden würden.
Beim Niedergang anderer Industrien, wie z.B. der Textilindustrie und dem Kohlebergbau, gab es „soziale Netze“ aus Frühverrentungen und auskömmlicher Arbeitslosenunterstützung, für jüngere Opfer der Umstrukturierung neue Beschäftigungsmöglichkeiten; so ist Opel in Bochum als Kompensation für entfallene Bergbauarbeitsplätze im Ruhrgebiet industriepolitisch gezielt installiert worden. Auch die Werftindustrie aus dem Erfahrungsbereich der IG Metall wurde umstrukturiert und – zu einem großen Teil – abgewickelt. Zu notwendigen qualitativen Veränderungen hat das bisher nicht geführt.
Die Umstrukturierung der genannten Industriebereiche weist Parallelen und Unterschiede zur gegenwärtigen Krise der Automobilproduktion in Deutschland auf. Als Parallele ist die Verlagerung in „Billigstandorte“[3] zu bezeichnen; die Textilindustrie ist in den letzten Jahrzehnten von Deutschland über Griechenland, die Türkei bis China und Vietnam und neuerdings nach Bulgarien und Rumänien gezogen. In all diesen Ländern wird ohne Skrupel und ohne Rücksicht auf Menschenrechte und Religionen produziert. Am Beispiel China könnte dieses zur Nagelprobe für das Menschenrechtsgehabe von Politikern und Managern werden angesichts von 10.000 vollstreckten Todesurteilen und 7.000 Unfalltoten im Bergbau pro Jahr, von Zwangsarbeit und anderen Repressionen ganz zu schweigen.
Der Unterschied zu den anderen genannten Industriebereichen ist augenfällig. Die Kapitalbindung in der Automobilproduktion ist höher, die örtliche Flexibilität ist deshalb eingeschränkt bzw. das Verbleiben an einmal gewählten Standorten dauert länger an als in der weniger kapitalintensiven Textilindustrie. Das Fehlen des „sozialen Netzes“ und der Unwille der Herrschenden, die Krise zivilisiert zu lösen, sind der andere Unterschied – wobei deutlich gesagt werden muss, dass der „sozialverträgliche“ Personalabbau z.B. durch Vorruhestandsregelungen immer zu Lasten der Sozialversicherung ging. Der soziale Konsens ist mit Hartz IV (benannt nach dem Stichwortgeber aus der Vorstandsetage von Volkswagen) vollends aufgekündigt. Über die sozialen Konsequenzen gewinnen wir jetzt Klarheit, vor den Konsequenzen im Bereich des Repressionsapparates sollten wir nicht die Augen verschließen – bestenfalls dadurch, dass wir den Protest gegen Hartz IV aktiv unterstützen und den Repressionsapparat und die politische Klasse damit möglicherweise zumindest kurzfristig überfordern könnten.
Ein weiterer Ausdruck der Krise ist der doppelt gespaltene Automobilmarkt: Gespalten in Deutschland und gespalten zwischen Binnenmarkt und Export. Luxus- und Oberklassen-Hersteller kommen mit der Produktion kaum nach. Porsche und Mercedes machen beste Geschäfte, bei Audi kann von einer Krise keine Rede sein. Dass VW mit seiner Luxusstrategie bisher keinen Erfolg hatte, hängt mit Faktoren zusammen, die an anderer Stelle beleuchtet werden. Demgegenüber sind Hersteller von Mittelklassefahrzeugen, also Massenhersteller und beschäftigungsintensive Betriebe, in der Krise: Opel, Ford und eben Volkswagen. Mag es jeweils spezifische Gründe und natürlich auch „Managementfehler“ geben, alles in allem hängt dieses mit der gesunkenen Kaufkraft zusammen und ist Ergebnis von Sozial-, Steuer- und Tarifpolitik der letzten Jahre, also „hausgemacht“. Dieser gespaltene Binnenmarkt ist Ausdruck der Tatsache, dass die Reichen reicher werden, sich immer mehr und immer luxuriösere Autos leisten, während der Mittelstand und die Armen ärmer werden und sich seltener und dann preiswertere Autos kaufen.
Dieser Prozess ist nicht beendet, das Problem löst sich nicht von alleine, sondern verschärft sich in den nächsten Monaten weiter.[4]
Die zweite Spaltung, die zwischen Binnenmarkt und Export, ist offensichtlich und lange andauernd. Dies ist Ausdruck einer Politik, die wegen ihres neoliberalen und marktradikalen Fundamentalismus blind ist für Notwendigkeiten und Möglichkeiten antizyklischer Interventionen. Mit der überproportionalen Entwicklung des Exports wird Arbeitslosigkeit exportiert, was sich andere Volkswirtschaften nicht dauerhaft bieten lassen wollen und können. Werksschließungen von GM und Chrysler in den USA und der Niedergang einiger asiatischer Hersteller sind Ausdruck dieses Krieges in der Automobilindustrie, der jetzt in Westeuropa seine Fortsetzung findet. In der Logik kapitalistischer Ökonomie liegen die Liquidierung von Überkapazitäten und ein gewisser Zwang, Produktion zu verlagern, um näher an den aktuellen Absatzmärkten zu produzieren. Dabei werden zum Teil, wie am Beispiel Südamerika deutlich wird, fundamentale Fehleinschätzungen getroffen. Die nächste Fehlentscheidung drohen Investitionen in China zu werden. Im schlimmsten Fall werden Milliarden in weitere Überkapazitäten investiert, die schon bald nach Verwertung oder Liquidierung lechzen. Wie in kapitalistischer Wirtschaft üblich, wird nicht die Frage gestellt, ob es ökologisch und sozial erträglich und wünschenswert ist, zum Beispiel China so zu motorisieren, wie Westeuropa motorisiert wurde.
Die notwendige Debatte über den Charakter der Krise und Wege aus der Krise steht in der IG Metall noch aus. Unterschwellig wird sie mit den Stichworten „Standortsicherung/Zukunftssicherung“ geführt. Praktisch ist es so, dass die Abschlüsse des vergangenen Jahres keine Antworten auf diese Krise sind: Mit Lohnsenkungen und gleichzeitiger Arbeitszeitverlängerung (Siemens, Daimler-Chrysler, Opel, VW und viele andere Vereinbarungen) ist der Krise nicht beizukommen. Die Arbeitgeber und ihre Lobby nutzen die Krise zum Generalangriff auf soziale Errungenschaften und die Rechte von Erwerbstätigen und Erwerbslosen. Durch die Schwächung der Kaufkraft/Binnennachfrage wird die Krise verschärft. Nicht einmal die „Standorte“ werden dadurch dauerhaft gesichert, lediglich die Belegschaften werden in die Standortkonkurrenz getrieben. Schon kurzfristig stellt dieser Standortpoker eine Zerreißprobe für die Gewerkschaft dar, denn es handelt sich um das Gegenteil von Solidarität. Die Gewerkschaft wird einer ihrer Aufgaben, Konkurrenz unter den Lohnabhängigen zu minimieren, nicht gerecht und stellt sich damit selbst in Frage.
II. Ansätze zur Krisenbewältigung bei Volkswagen
Während die Krise in den 70er Jahren – nach Auseinandersetzungen – mit Einstellungsstopp, Kurzarbeit und „sozialverträglichem Personalabbau“ (S1-Plan) „gemeistert“ wurde, wurde für die Krise 1993 eine andere Antwort gefunden: Arbeitszeitverkürzung mit proportionalen Entgeltreduzierungen. Diese Lösung konnte erst nach der Drohung mit 30.000 Entlassungen umgesetzt werden und war in der Gewerkschaft umstritten wegen des „Tabubruches“ der Arbeitszeitverkürzung ohne „vollen“ Lohnausgleich. Volkswagen spart mit dieser Krisenlösung 1 Milliarde € Personalkosten pro Jahr, die Beschäftigung wurde fast auf dem damaligen Niveau gehalten, den Trägern der Sozialversicherung wurden viele Millionen Ausgaben erspart sowie Einnahmen gesichert und die Produktivität bei Volkswagen stieg sprunghaft an. Für viele Beschäftigte war – zumindest subjektiv – mit der Arbeitszeitverkürzung eine erhebliche Leistungsverdichtung verbunden. Inzwischen hat sich diese Form der Arbeitszeitverkürzung zu einem Instrument der Arbeitszeitflexibilität entwickelt, was eine erhebliche Belastung für die Beschäftigten bedeutet und oft überlange tägliche und wöchentliche Arbeitszeiten ohne entsprechende Vergütung bzw. Zuschläge beinhaltet. Der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen, der 1993 erstmals vereinbart wurde, wurde in Anschlusstarifverträgen immer wieder verlängert. Dies ist zweifellos die größte Errungenschaft des Tarifvertrages, die – bei genauerer Betrachtung – einige Belastungen nicht gut überstanden hat.
Das Projekt „Auto 5000“ wie auch der Tarifvertrag 2004 wurden unter dem Druck der Verlagerung von Produktion und damit unter dem Druck von Beschäftigungsabbau durch den Konzernvorstand erzwungen – unabhängig von den Bestandsgarantien, die es seit 1993 für die Standorte der VW AG gegeben hat.
Das Projekt „Auto 5000“ wurde als „neues Produktionsmodell“ auf großer Bühne inszeniert und beinhaltet tiefe Einschnitte in die entwickelten Tarifstandards, Arbeitsnormen und Arbeitsbeziehungen, die dazu berechtigen, von einer neuen Etappe zu sprechen.[5] Die gravierenden Punkte in diesem Zusammenhang:
- Arbeitszeitverlängerung auf 38 Stunden pro Woche;
- 1,5 Stunden unbezahlte obligatorische „Qualifikation“ als Arbeitszeit;
- Implikation einer „Teamarbeit“ genannten Arbeitsorganisation, die mit Autonomie und Selbststeuerung, mit den Ansprüchen an demokratische Arbeitsorganisation nichts zu tun hat;
- Vereinbarung eines „Programmentgeltes“ ca. 20% unterhalb des VW-Haustarifes, das die Zeit nicht als Bezugspunkt kennt, sondern die Erfüllung des Produktionszieles. Dementsprechend gibt es Arbeitszeiten von mehr als 50 Wochenstunden auf Basis einer Vergütung von 36,5 Stunden.
Den Beschäftigten und dem Betriebsrat gegenüber wurde immer betont, dass das Projekt „Auto 5000“ nicht gegen den Haustarif gerichtet ist. Inzwischen fordern Personalvorstand und Betriebsratsvorsitzender unisono die Übernahme wesentlicher Elemente des Projektes „Auto 5000“ für die gesamte Produktion von Volkswagen.[6] In einem Zeitungsgespräch quasi als Weihnachtsgruß an die Beschäftigten Ende letzten Jahres äußert sich der Betriebsratsvorsitzende Volkert mit der Forderung, der „Golf - Geländewagen, der 2007 in Wolfsburg gefertigt wird, soll nach dem organisatorischen Vorbild von Auto 5000 gebaut werden.“[7] Und tatsächlich beinhaltet der Tarifvertrag 2004 wesentliche Elemente, die über eine kurze Zeitachse das Auslaufen bisheriger haustarifvertraglicher Regelungen bedeuten. Zumindest insoweit muss das Projekt „Auto 5000“ im Rückblick als Mogelpackung bezeichnet werden – auch wenn die wissenschaftliche Begleitforschung vom SOFI in Göttingen unter Leitung von Michael Schumann zu anderen Ergebnissen kommt.[8] Eine notwendige kritische Betrachtung des Projektes und der Begleitforschung unterbleibt hier aus Platzgründen.
Kennzeichnend für das Einleiten der neuen Etappe ist die Konstruktion der „AutoVision GmbH“, einer 100%igen Tochter von Volkswagen, die ihrerseits Mutter von „Auto 5000 GmbH“ und vielen anderen „neuen“ Unternehmen ist. Es ist inzwischen ein fast unüberschaubares Geflecht von Unternehmen entstanden, die es den Regisseuren dieses Theaters erlauben, ihre Bühnen, Szenarien und Komparsen fast täglich zu wechseln.[9] Für die „AutoVision“ wurde ein Tarifvertrag mit der IG Metall vereinbart, der u.a. eine 35-Stunden-Woche und eine Entlohnung teils unterhalb des Flächentarifvertrages der Metallindustrie vorsieht. AutoVision übernimmt per Werkvertrag einige Logistik- und Produktionsbereiche innerhalb der VW-Werke – und schon stehen da Beschäftigte mit unterschiedlicher Entlohnung und unterschiedlichen Arbeitszeiten bei gleicher Tätigkeit nebeneinander.
Im „Zukunftstarifvertrag“ vom November 2004 heißt es unter Punkt 4.5:
„Ist das Beschäftigungsvolumen aus Wettbewerbsgründen unter Tarifvertragsbedingungen der Volkswagen AG nicht darstellbar, können die Betriebsparteien auch die Vergabe von Dienstleistungsprojekten an die AutoVision GmbH oder den Einsatz anderer Tochtergesellschaften der Volkswagen AG vereinbaren. …“
Und in der Presse wird über den Betriebsratsvorsitzenden folgendes berichtet: Er kündigte überdies an, dass es 2005 zu Versetzungen kommen könnte – meist in der Verwaltung. „Es geht nicht um Arbeitsplatzabbau, sondern um temporäre Projektarbeiten von VW-Mitarbeitern etwa für die Wolfsburg AG oder die AutoVision.“[10] Dieses alles zusammengenommen, ist die Funktion der „AutoVision“ offensichtlich: Tätigkeiten werden aus dem Haustarif ausgelagert, verbleiben aber als Profitbasis innerhalb des Konzerns.
Der Betriebsratsvorsitzende bezeichnete solche Unternehmenspolitik und die daraus abgeleiteten Anforderungen an die Tarifpolitik als „Haus mit vielen Fenstern“. In dieser Situation käme es darauf an, die Vorhänge beiseite zu ziehen, die Fenster zu öffnen, allen Beteiligten alle Konditionen zu erklären, vollständige Transparenz herzustellen, um gegenüber den Spaltungsabsichten der Unternehmensleitung nicht wehrlos zu sein. Aber das passiert nicht, viele der Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen, in denen die jeweiligen Konditionen geregelt sind, sind kaum den Beschäftigten bekannt, schon gar nicht denjenigen der jeweils anderen Unternehmenseinheiten.
Ursächlich dafür ist auch die Tatsache, dass die IG Metall darum bemüht ist, frühzeitig tarifliche Regelungen zu treffen; d.h., es werden Tarifverträge abgeschlossen, wo es noch gar keine Belegschaft gibt bzw. gab. Oft wird auch die betriebliche Interessenvertretung per Vereinbarung eingesetzt – und die Beschäftigten haben über mehrere Jahre keine Gelegenheit, ihre betriebliche Interessenvertretung selbst zu wählen.
Natürlich gab es in dieser Entwicklungsetappe auch Managementfehler in Produkt-, Modell- und Preispolitik, ebenso in der Produktionsstrategie. Die Luxusklasse hat dem Unternehmen keinen Gewinn gebracht, in vielen Modellen ist zu viel und zu teure störanfällige Elektronik. Es fehlt ein preiswerter erschwinglicher Volkswagen. Der Technikfetischismus einiger „genialer“ Manager, die teils mehrfach mit Ehrendoktorwürden dekoriert und nie persönlich zur Verantwortung gezogen wurden, hat das Unternehmen viele Millionen gekostet, ohne sich zu amortisieren. Der Fehler gäbe es mehr aufzuzählen, und es ist zweifellos auch ein Mangel an Mitbestimmung, der zu solchen Fehlentwicklungen führt. Aber die Mitbestimmung, die dieses verhindern will, bedarf einer höheren Qualität, als sie bisher vorhanden ist. Letztlich ist festzustellen, dass in den Managementfehlern System steckt: Kapitalismus oder die Verfügungsgewalt einiger weniger über das, was Zehntausende erarbeiten; mangelnde Demokratie und mangelnde Beteiligung der Produzenten am Prozess und Ergebnis der Arbeit!
Zur Entwicklung von VW in der letzten Dekade und zur Beurteilung der aktuellen Krise gehört eine kurze Betrachtung der Rolle des Aufsichtsrates, hier vor allem der Belegschafts- und Gewerkschaftsvertreter. Die Entscheidung zum Bruch des Haustarifvertrages mit dem Projekt „Auto 5000“ wurde damit begründet, dass es nicht gelungen war, die Produktion des Touareg (teure Geländelimousine) in Wolfsburg zu realisieren. Im Wettbewerb der Standorte habe VW Bratislava in der Slowakei das Rennen gemacht. Von einem solchen Wettbewerb und einer diesbezüglichen Auseinandersetzung im Aufsichtsrat ist aber rein gar nichts öffentlich gewesen. Und letztlich haben die Vertreter im Aufsichtsrat diese Entscheidung getragen, ebenso die Entscheidung über die Gründung der „AutoVision GmbH“, die Gründung der Sitzefirma Sitech GmbH, die Expansion in Brasilien und viele mehr. Eine gründliche, abwägende und kritische Debatte dazu hat im Betriebsrat (und auch in der IG Metall-Fraktion des Betriebsrates) nie stattgefunden. Ganz im Gegenteil hat der Betriebsratsvorsitzende öffentlich erklärt, der Standort Bratislava werde angesichts ausreichender Kapazitäten nicht weiter ausgebaut und das Werk in Györ/Ungarn sei am Aufsichtsrat vorbei projektiert worden. Insoweit sind die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat direkt beteiligt an der Entwicklung und den gegenwärtigen Problemen der Interessenvertretung; und wenn man den Betriebsratsvorsitzenden gelegentlich hört, weiß man nicht genau, ob er Vertreter der Belegschaft oder Sprachrohr der Unternehmensleitung ist;[11] es entspricht dies wohl seinem Selbstverständnis als Aufsichtsratsmitglied. So stellt sich die Frage nach Nutzen und Wert der Unternehmensmitbestimmung, wenn negative Entscheidungen nicht beeinflußt werden (können), sondern nach Zustimmung durch den Aufsichtsrat als richtige Strategie und Erfolg der Arbeitnehmervertretung gepriesen werden.
III. Die Tarifverhandlungen: Der Weg in den Abgrund
ist mit guten Vorsätzen gepflastert!
Als Ausgangssituation wird der 29. April 2004 gewählt, der Vorabend des 1. Mai. An diesem Tag fand die Betriebsräteversammlung statt, bei der der VW-Personalvorstand Hartz sein Konzept vorstellte. Im Spiegel-Interview[12] erläutert er einige seiner Positionen: „Unsere Tarifpolitik hat einen schlichten Titel: 176544. Das ist die Summe all unserer Konzern-Arbeitsplätze in Deutschland. Wenn wir diese im Land halten wollen, müssen wir konkurrenzfähiger werden. Die Arbeitskosten müssen bis zum Jahr 2011 um rund 30 Prozent runter. Um die Kosten zu senken, müssen wir flexibler und besser werden – bei der Arbeitszeit, bei der Entlohnung und in der Weiterbildung. Wir schlagen eine demografische Arbeitszeit vor. Jeder Mitarbeiter führt ein eigenes Konto für seine Lebensarbeitszeit. Überstundenzuschläge soll es erst ab der 40. Stunde geben. Künftig müssen wir dazu übergehen, die wirklich „Wert schöpfende Arbeitszeit“ zu vergüten. Wie die IG Metall meine ich, dass wir mehr in die Weiterbildung unserer Mitarbeiter investieren müssen. Die Kosten sollten sich aber Unternehmen und Arbeitnehmer teilen, um deutsche Standorte wettbewerbsfähig zu halten. Im Zuge der EU-Osterweiterung rechnen wir mit einem verschärften Standortwettbewerb. Viele günstige Facharbeiter werden in den Westen kommen. Wenn VW demnächst die Produktion konzernweit ausschreibt, wird sich Deutschland bewerben wie andere Standorte auch. Wir liefern ein in sich schlüssiges Konzept, 176544 Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten. Aber: Wer Kuchen backen will, muss auch Eier zerschlagen können.“
Reaktionen von Betriebsrat und IG Metall hörten sich dann unter anderem so an: „Das positive ist, dass VW die Jobs in Deutschland halten will. Wir halten Job-Familien personalpolitisch für eine gute Sache. Generell ist der Hartz-Vorstoß (bei demografischer Arbeitszeit) zu begrüßen, er geht uns aber noch nicht weit genug. Wenn Hartz fordert, bis zur 40. Arbeitsstunde soll kein Überstundengeld bezahlt werden, verschließt er die Augen vor der Realität. Überstunden zum Nulltarif, das machen wir nicht mit.“[13]
Eine andere Zeitung weiß folgendes zu berichten: „Von der IG Metall in Hannover waren klare Signale zu vernehmen. Zwei Vorschläge gelten als diskutabel: Die Einführung einer demografischen, also altersbezogenen Arbeitszeit wird von der IG Metall als sinnvoll angesehen. Die Teilung der Kosten für Weiterbildung zwischen Konzern und Arbeitnehmern wurde teilweise beim Projekt 5000x5000 umgesetzt. Es gilt als denkbar, einzelne arbeitsplatznahe Weiterbildungen von Arbeitnehmerseite mitzutragen.“[14]
„Jobs oder Mäuse? Volkert deutet an, dass für ihn die Sicherheit der Arbeitsplätze Vorrang habe. So hält er bei der Übernahme der Auszubildenden oder der demografischen Arbeitszeit veränderte Wege für möglich. Wir müssen Innovative Lösungen finden, um die Flexibilität der Arbeit entsprechend den veränderten Marktanforderungen weiter zu entwickeln. Das erfolgreiche Modell 5000x5000 sei dabei ein Maßstab, vor allem was Qualifizierung, Weiterbildung und lebenslanges Lernen betreffe. Er geht davon aus, dass die Höhe der Ausbildungsvergütungen von Seiten des Unternehmens zum Thema gemacht werde. Hierbei wäre auch eine Verknüpfung mit der zukünftigen Gesamtzahl der Ausbildungsplätze denkbar.“[15]
Hartz hatte gelegentlich die medizinische Leistungsfähigkeit als Arbeitszeit- und Belastungsgrenze vorgeschlagen und formuliert, dass für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neue Zumutbarkeitsgrenzen gelten könnten, für die derzeit Beschäftigten jedoch Besitzstandswahrung vereinbart werden könne.
Wesentliche Elemente des sechs Monate später abgeschlossenen Tarifvertrages finden sich bereits frühzeitig in ähnlicher Diktion beim Personalvorstand wie beim Betriebsrat.
In vielen Ausführungen zur bevorstehenden Tarifrunde war von „Produktion in Deutschland“ die Rede; dies auch in Anlehnung an das Projekt 5000x5000, bei dem es vorgeblich darum ging, „Arbeitsplätze zurück nach Deutschland zu holen“.[16]
An weiteren Beispielen ließe sich deutlich machen, dass es in dieser „Standort“-Debatte einen gefährlichen Trend gibt, mit nationalistischen Gefühlen und Vorurteilen zu spielen, Standorte und Beschäftigte in anderen Ländern offen gegen Standorte und Beschäftigte in Deutschland auszuspielen. Unternehmensseitig ist diese Propaganda als Spaltungsstrategie offensichtlich, aber im Widerspruch gegen die sonst gepflegte Internationalität. Als dramatisch ist zu bewerten, dass viele Beschäftigte – mehr noch zuschauende und kommentierende Journalisten – auf diesen Zug aufspringen.
Der Verhandlungsprozess dauerte von Mitte September bis Anfang November und beinhaltete mehrere Sitzungen der Tarifkommission sowie etliche Verhandlungen mit der Unternehmensseite. Bei der ersten Sitzung der Tarifkommission am 19.8.04 wurde nicht nur die Forderung beschlossen (4% Entgelterhöhung für 12 Monate und Beschäftigungssicherung), sondern es wurden auch die Rahmenbedingungen vorgestellt und diskutiert: die EU-Erweiterung, der Tarifabschluß in der Metallindustrie, die Vereinbarungen bei Siemens und Daimler von Juli/August 2004, die wirtschaftliche Lage von VW (2 Mio. Fahrzeuge Überkapazitäten im Konzern) sowie die Erfahrung, dass in keinem der sechs Werke zu Bedingungen des Haustarifes neue Arbeitsplätze geschaffen worden seien. Das Ergebnis dieser Sitzung der Tarifkommission wurde – wie alle anderen Zwischenstände auch – per Flugblatt veröffentlicht.[17] Unmittelbar danach vermeldet der VW-Vorstand, dass die Entscheidung für die Produktion des Golf-Geländewagen noch offen sei.[18]
Am 15. September fand nicht nur die erste offizielle Verhandlung statt, sondern zeitgleich auch eine Betriebsversammlung in Emden, bei der Hartz als Berichterstatter des Vorstandes minutenlang ausgepfiffen wurde. In der Verhandlung selbst erklärte VW sich außerstande, Arbeitsplätze zu garantieren. Der Verhandlungsführer erklärte der Öffentlichkeit unermüdlich, dass die Beschäftigten erhebliche Einschnitte zu erwarten hätten, Voraussetzung für einen Tarifabschluß sei eine Senkung der „Arbeitskosten“ um 2 Mrd. €. Der Start der Verhandlung sah ganz nach Konflikt aus.
Für die nächsten Verhandlungsrunden wurde die Belegschaft mobilisiert. Am 5. Oktober unterstützten tausende VW-Beschäftigte aus allen Standorten die IG Metall bei der Verhandlung. Substanziell hat das allerdings keine Bewegung gebracht.
In der folgenden Sitzung der Tarifkommission wurden die kritische Situation bei Opel, das sich daraus ergebende Zeitfenster für Verhandlungen bei VW und der geringe Spielraum für materielle Erhöhungen dargestellt. Die Eckpunkte für den Zukunftstarifvertrag wurden umrissen. Unternehmensseitig war deutlich gemacht worden, dass zu den aktuellen tariflichen Bedingungen künftig keine Einstellungen mehr vorgenommen werden und dass es ohne Zugeständnisse der IG Metall keine Produktentscheidungen für die Werke der VW AG geben wird. In einer davon ausgehenden und die Produktivitätsfortschritte berücksichtigenden Personalprognose wurde ein Personalüberhang von bis zu 25.000 Beschäftigten dargestellt – bzw. offen mit entsprechendem Personalabbau gedroht.
Bei der Debatte in der Tarifkommission wurde u.a. die Frage aufgeworfen, ob dieses die Aufkündigung der bisher geübten kooperativen Konfliktlösung sei oder nur Theaterdonner. Schwerpunkt der Diskussion war die Realität der Krise, die Bedeutung der Beschäftigungssicherung und die Hypothek der Vereinbarungen bei Siemens und Daimler.
Für die Sicherheit der Arbeitsplätze, so der Abschluß der Diskussion, müssen durch Belegschaft und Gewerkschaft auch „Opfer“ gebracht werden, dieses könnten abgesenkte Konditionen für Neueinstellungen und Auszubildende sein sowie eine Regelung für Vergabe von Fertigung an die AutoVision.
Erst Ende Oktober bis Anfang November kam Bewegung und eine gewisse Dynamik in die Verhandlungen, offensichtlich auch durch zunehmende Aktionsbereitschaft der Belegschaften. Die Unternehmensseite reduzierte ihren Anspruch, die „Arbeitskosten“ zu senken, auf 1 Mrd. € bis 2008, danach müsste die 2. Milliarde gebracht werden, bot weitere Altersteilzeitregelungen zur Personalreduzierung an, erklärte sich bereit, den Punkt „Gesundheitsbaustein“ zu „verschieben“, wenn 100 Mio. € dafür anderswo eingespart würden und bot an, eine „Besitzstandswahrung“ für die derzeit Beschäftigten zu vereinbaren. Schließlich verzichtete das Unternehmen auf Vereinbarungen zu Co-Investment[19], wenn die „Pforzheimer Erklärung“[20] bei künftigen Produktentscheidungen Anwendung fände.
Die IG Metall wertete dies als wichtige Schritte und machte ihrerseits Angebote bei Arbeitszeitverlängerung und Entgeltreduzierung für Neueinstellungen sowie Arbeitszeitflexibilisierung. Fast nebenbei wurde in diesem Gespräch das für die Umsetzung des Entgeltrahmenvertrages (ERA) angesparte Geld (zwei mal 0,7% nicht ausgezahlte Lohnerhöhung) als Kostensenkungsbeitrag dem Unternehmen zur Verfügung gestellt sowie ein „Pflichtbeitrag“ von 66 Stunden Mehrarbeit pro Jahr (1,5 Stunden Mehrarbeit pro Woche) für ein Lebensarbeitszeitkonto für alle Beschäftigten verabredet.
Der „Zukunftstarifvertrag“ gewann Gestalt durch Produktvereinbarungen mit den Werkleitungen und den „Ausweg“ AutoVision sowie die Erweiterung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrates und dessen Beteiligung „an der Umsetzung der Zielsetzung“, die wie folgt beschrieben ist: „Die veränderten Rahmenbedingungen in der Automobilindustrie stellen besondere Herausforderungen für die Wettbewerbsfähigkeit der sechs westdeutschen Standorte und Beschäftigung dar. Die Tarifvertragsparteien sind vor diesem Hintergrund entschlossen, gemeinsam besondere Anstrengungen zu unternehmen, um den sechs westdeutschen Standorten auf der Grundlage des heutigen Beschäftigungsniveaus eine nachhaltige und wettbewerbsfähige Perspektive zu verschaffen. Hierzu gehören u.a. Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit, zur Förderung der nachhaltigen Beschäftigungsfähigkeit ...“[21]
Zwischendurch kam nochmals Dramatik auf, als die Unternehmensseite nur durch nächtliche Telefonate mit dem Personalvorstand am Verhandlungstisch gehalten werden konnte. Ursächlich waren weitgehende zusätzliche Forderungen von VW mit zum Teil Verzicht auf gesetzliche Ansprüche (Zusatzurlaub für Schwerbehinderte), die als nicht durchsetzbar schließlich zurückgezogen wurden.
Als Erfolg wurde abschließend gewertet, dass es keine „ewige Nullrunde“[22] geben wird, sondern lediglich keine Entgelterhöhung für die Laufzeit des Tarifvertrages von 28 Monaten.
Die nun folgende Information der Beschäftigten über das Verhandlungsergebnis, die teils ohne Vertragstexte auskommen musste, und die daraus resultierende Rückmeldung an die Tarifkommission beinhaltete eine sehr differenzierte Stimmung bei Vertrauensleuten und Beschäftigten. Von Wut und Tränen, ebenso von Pfiffen und eisigem Schweigen, überwiegend aber von Akzeptanz bis hin zu Ovationen wurde berichtet. Auf dieser Basis wurde am 5. November das Verhandlungsergebnis mit 93 Ja-Stimmen zu 15 Nein-Stimmen in der Tarifkommission beschlossen.
Ohne vielfältige betriebliche Aktionen hätte es kein Ergebnis wie dieses gegeben. Während die Beschäftigten in jeder Phase der Auseinandersetzung hoch motiviert waren, kann dieses von Gewerkschaft und Betriebsrat nicht immer gesagt werden. Der Betriebsratsvorsitzende hat mehrfach laut und öffentlich betont, dass ein Streik nicht beabsichtigt ist und Arbeitsplätze wichtiger als Entgelterhöhungen seien. Der stellvertretende IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber hat laut und pressewirksam darüber räsoniert, dass eine Arbeitszeitverkürzung derzeit nicht auf der Agenda der Gewerkschaften steht und „es kein Gesetz für ständig steigende Löhne“[23] gäbe. Der Bezirksleiter Hartmut Meine hat gelegentlich die Möglichkeit weiterer Kampfmaßnahmen dargelegt – und genau das hat zu heftigen Reaktionen beim Vorstand von Volkswagen geführt. Hartz sinngemäß: Wir müssten dann (bei einem Streik) unsere Investitionsentscheidungen ändern und unsere Beschäftigungspolitik beenden.[24] Die Panik derjenigen, die in der Standortfalle sitzen, ist nachvollziehbar, weil bei einem Streik – es hätte sich um den ersten Streik in der Geschichte innerhalb der VW AG gehandelt – der ganze Konzern von China bis Brasilien, von Südafrika bis Mexiko schnell zum Stillstand gekommen wäre. In einigen Werken, z.B. bei VW-Sachsen, war bereits vorsorglich Kurzarbeit angemeldet. Aufgrund von Verbundproduktion wäre auch die Fertigung einiger Modelle bei Porsche zum Erliegen gekommen, von Auswirkungen auf die Zulieferindustrie und der Signalwirkung für die Beschäftigten bei Opel ganz zu schweigen.
Aufgrund der Motivation der Belegschaft kam es in allen Werken zu den größten Protestaktionen, die es bisher bei VW gegeben hat. Sicher hätten diese betrieblichen Aktionen bis zum Streik gesteigert werden können. Doch sind in diesem Kontext einige Probleme zu beleuchten. Es ist zu fragen, wie eine Urabstimmung verlaufen wäre. Zu beantworten gewesen wäre in der Urabstimmung die Frage, ob die Beschäftigten bereit seien, für 4% mehr Lohn für 12 Monate und Beschäftigungssicherung, die ursprüngliche Forderung der IG Metall, zu streiken Es kann davon ausgegangen werden, dass es eine ausreichende Mehrheit von über 80% gegeben hätte - entsprechende Aktivitäten der IG Metall, der Vertrauensleute und Betriebsräte vorausgesetzt. Der Organisationsgrad von über 90% spricht dafür, dass diese Auseinandersetzung hätte geführt und gewonnen werden können. Aber – und das ist die entscheidende Frage – was hätte das Ergebnis eines solchen Arbeitskampfes sein können angesichts der hohen Erwartungen, die Urabstimmung und Streik ausgelöst hätten? Natürlich sind keine sicheren Prognosen möglich, aber folgende erfahrungsgestützten Annahmen:
Die „Öffentlichkeit“, die bürgerliche Presse von Bild über Spiegel bis zu Christiansen und im Gefolge davon „der Stammtisch“ und die große rotgrünschwarzgelbe Koalition hätten eine bisher nicht da gewesene Hetze gegen IG Metall und VW-Belegschaft entwickelt. Von den „Arbeitsplatzbesitzern“, die fette Gehälter kassieren und ohne Rücksicht auf die Arbeitslosen das zarte Pflänzchen Konjunktur zertreten, wäre ununterbrochen die Rede gewesen. Um unter solchen Umständen einen Arbeitskampf zu führen, müssten die IG Metall und die anderen DGB-Gewerkschaften eine gemeinsame große Kampagne starten. Davon war realistisch nicht auszugehen. Weiter ist die Reaktion des VW-Vorstandes zu bedenken – und hier sind u.a. Erfahrungen aus Mexiko, Südafrika und Deutschland zu berücksichtigen. In einigen Fällen ist durch Unternehmensentscheidungen regelrecht ein Arbeitskampf provoziert worden (Mexiko 1992, Südafrika 2000). Im Gefolge davon sind große, unbequeme Teile der Belegschaft entlassen worden. Ein vergleichsweise kleines Ereignis in Emden endete mit einer Niederlage, als nach einer Auseinandersetzung mit betrieblicher Mobilisierung und einer Vereinbarung auf Gesamtbetriebsratsebene in Emden keine befristet Beschäftigten übernommen wurden als Reaktion auf ungenügende und verspätete Unterordnung, während in anderen Werken bis dahin befristet Beschäftigte zumindest teilweise unbefristet übernommen wurden.
Das ist keine Absage an einen Streik und schon gar keine vorzeitige Absage, wie es in dieser Tarifrunde mehrfach geschehen ist. Es handelt sich vielmehr um eine rückblickende Beschreibung einiger Risiken, die ein Arbeitskampf mit sich bringt.
Das Ergebnis der Tarifverhandlungen wird hier nicht im Einzelnen dargestellt, die Texte – Verhandlungsergebnis und Zukunftstarifvertrag – sind nachzulesen bei der IG Metall oder im Labournet (http://www.labournet.de ).
Lediglich folgende Schwerpunkte sollen hervorgehoben werden:
1.) Bis Dezember 2011 sind betriebsbedingte Beendigungskündigungen ausgeschlossen, verbunden mit der Absichtserklärung, das gegenwärtige Beschäftigungsniveau zu sichern: „Die Volkswagen AG verpflichtet sich daher auf das Ziel, das Beschäftigungsvolumen an den sechs inländischen Standorten auf dem Niveau von 99.000 Beschäftigungsverhältnissen zu halten, zuzüglich der vereinbarten Ausbildungsverhältnisse.“[25] Über einen Vertragspassus ist der „Ausweg“, Arbeit in Tochtergesellschaften zu anderen Konditionen zu verlagern, wie beschrieben geöffnet. Der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen ist ein wichtiges positives Ergebnis der Tarifverhandlung. Es gibt eine Revisionsklausel für den Fall außerordentlicher Krisen in Produktion und Absatz – was die latente Gefahr der Arbeitsplätze in kapitalistischer Ökonomie deutlich macht.
2.) Für die Dauer des Tarifvertrages (28 Monate) gibt es keine Entgelterhöhung. In diesem Zusammenhang wurde darüber informiert, dass es im Jahre 2005 keinen „Erfolgsbonus“ geben wird (der entsprechend TV vom Gesamtbetriebsrat ausgehandelt wird), allerdings im März 2005 eine Einmalzahlung von 1.000 €, außer für die Auszubildenden.
Kurze tabellarische Darstellung von altem und neuem Tarifvertrag
Tabelle sie Datei zum Download!
Ausschluss betriebsbedingter Kündigung, jährlich kündbar, Revisions-klausel; Übernahme aller Ausgebildeten
Ausschluss betriebsbedingter Kündigung bis 12/2011, Revisionsklausel und Verleihmöglichkeit/Umsetzung in VW-Töchter (Interner Arbeitsmarkt)
Keine garantierte Übernahme, 15% zu VW-Tochter ohne Beschäftigungs-sicherung
3.) Für alle Neueingestellten und übernommenen Auszubildenden gilt ab 2005 ein neues Arbeitszeit- und Vergütungssystem mit auf 35 Stunden verlängerter Arbeitszeit und weniger Entgeltstufen (10 bis 14 statt 22 Entgeltstufen). Das Entgeltniveau wird um ca. 20% reduziert.
4.) Die Vergütung für Auszubildende wird um ca. 20% reduziert, es werden nur noch 85% statt grundsätzlich aller Ausgebildeten in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen, die restlichen 15% (nach Leistungskriterien sortiert) bekommen einen Arbeitsvertrag bei AutoVision oder einer anderen VW-Tochter angeboten.
5.) Es werden Arbeitszeitkonten von plus/minus 400 Stunden eingerichtet. Bis zu plus 400 Stunden werden Mehrarbeitszuschläge in Stufen erst ab der 40. Stunde/Woche fällig.
6.) Pro Jahr werden 66 Mehrarbeitsstunden (1,5 Stunden pro Woche) auf ein Lebensarbeitszeitkonto zwecks möglichen Ausscheidens vor Rentenbeginn gebucht.
7.) Produkt- und Investitionsentscheidungen für die sechs VW-Werke; Mitbestimmung des Betriebsrates (des Betriebsausschusses bzw. des Gesamtbetriebsausschusses) an der Erarbeitung der standortspezifischen Beschäftigungsstrategie, Beteiligung des Betriebsrates an der Umsetzung der Zielsetzungen.
Zu den Produktentscheidungen gehören der Golf-Geländewagen für Wolfsburg, der Micro-Bus für Hannover (im Projekt 5000 x 5000 bereits enthalten), eine „Bewerbung zur Einrichtung einer Drehscheibe in der B-Klasse“ für Emden und entsprechende Projekte für Salzgitter, Kassel und Braunschweig.
Die IG Metall beurteilte den Tarifabschluss insgesamt als einen fairen Kompromiss. In einem das Tarifergebnis vorstellenden Flugblatt wird der Betriebsratsvorsitzende, der auch Mitglied des Vorstandes der IG Metall ist, wie folgt zitiert: „Mit dem neuen Zukunftstarifvertrag ist es gelungen, die Ziele Arbeitsplatzsicherung einerseits und das Interesse des Unternehmens nach Kostenentlastung andererseits zu einem fairen Ausgleich zu bringen. Das ist ein weiteres Beispiel für vorausschauende Tarif- und Gewerkschaftspolitik der IG Metall bei Volkswagen.“ In einer Erklärung des Gesamtbetriebsrates heißt es, dass das Ergebnis „sowohl den Bedürfnissen der Beschäftigten als auch der notwendigen finanziellen Entlastung des Unternehmens Rechnung trage.
In etwas ausführlicheren Beurteilungen[26] wird hervorgehoben, dass dieser Tarifabschluss zustande gekommen ist, weil die IG Metall die Realitäten akzeptieren musste, die negative Rendite von Volkswagen zu berücksichtigen, und das heißt, einen Beitrag leistet, aus der „negativen Rendite“ einen von der Börse akzeptierten Profit zu machen. Mittelbar kann dieser Aspekt etwas mit Beschäftigungssicherung in einem einzelnen Unternehmen einer kapitalistischen Ökonomie zu tun haben. Aber mit einer Analyse der Komplexität der Krise und notwendigen Antworten auf diese Krise hat das nichts zu tun. Unmittelbar ist dieser Aspekt (Verbesserung der Rendite) eine Verschärfung der Konkurrenz mit anderen Massenherstellern, also ein großer Schritt in der Standortkonkurrenz. In dem Zusammenhang wird hervorgehoben, dass Investitionszusagen erkämpft wurden. Abgesehen davon, dass Investitionen für Fortschritte in der Produktion und neue Produkte und also Profit unerlässlich sind, im Zusammenhang mit der neuen Qualität der Mitbestimmung des Betriebsrates ergibt sich eine Verantwortung für den Betriebsrat, die zu tragen er wesentlich mehr Autonomie, mehr Rechte und Ressourcen benötigte. So wie es im Zukunftstarifvertrag vereinbart wurde, ist es die Rolle des Betriebsrates als Co-Manager, als Juniorpartner, als Verbündeter in der Konkurrenz zu anderen Automobilproduzenten, die festgeschrieben wurde. Die IG Metall hat Bedingungen dafür geschaffen, dass VW zu Lasten der Entgelt- und Leistungsbedingungen in der gesamten Automobilindustrie als Sieger aus dem Autokrieg hervor gehen kann. Ergänzt um die jeweiligen „Standortpolitiken“ bei Opel oder Ford hebt sich dieses Konzept selbst auf bzw. führt zum Zusammenbruch des einen oder des anderen Unternehmens. Am konkreten Beispiel betreibt die IG Metall Politik als „Betriebsgewerkschaft“, die tendenziell unfähig ist, die Interessen der Beschäftigten einer Branche oder die Interessen aller Erwerbstätigen und Erwerbslosen zu vertreten.
Ein weiterer beurteilender Aspekt von Arbeitszeitflexibilisierung und Arbeitszeitverlängerung, wie im Tarifvertrag vereinbart, soll hier nur kurz angedeutet werden. Vor allem Frauen können die Verlängerung und Flexibilisierung der Erwerbsarbeit wegen ihrer Doppelt- und Dreifachbelastung nicht leisten. Die Folge ist ein Herausdrängen von Frauen aus der industriellen Produktion. Alternativ bleibt Arbeitslosigkeit und Hartz IV für viele Frauen oder das ausweichen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse mit allen Konsequenzen bis hin zu Alters- und Kinderarmut. Den Männern im Betrieb und in der Gewerkschaft mag dies wegen selektiver Wahrnehmung nicht bewusst sein, letztlich wirkt sich dieses emanzipatorische roll back auf die Verhältnisse im Betrieb und Gesellschaft äußerst negativ aus. Dass sowohl „arbeitnehmerfreundliche“ Arbeitszeiten als auch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie Produktivitätsfaktoren sind, gilt wohl nur in Zeiten von wachsendem Absatz und Personalbedarf, nicht aber in Zeiten von sinkendem Personalbedarf. So müssen die Tarifabschlüsse des Jahres 2004 auch als Beitrag zur geringeren Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewertet werden – ganz im Gegensatz zur häufig beschworenen Aufgabe, unser Land kinder- und familienfreundlicher zu machen. Der geringe demografische Aspekt des VW-Tarifabschlusses wird so konterkariert und in sein Gegenteil verkehrt.
Ein letztes Problem, das hier angesprochen werden soll, ist die Widersprüchlichkeit in der gesamten Politik der IG Metall und anderer Gewerkschaften. Einerseits wird, wie zum Beispiel im April 2004, zu Demonstrationen für Veränderungen in der Politik aufgerufen, es wird ein „Arbeitnehmerbegehren“ durchgeführt, in dem mit der Schädlichkeit und Dummheit von Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerung argumentiert wird. Andererseits werden Tarifverträge abgeschlossen und betriebliche Vereinbarungen „abgesegnet“,[27] die Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerung als vorgeblichen Beitrag zur Arbeitsplatz- und Standortsicherung beinhalten; und dieses oft in Betrieben, die nicht nur keinerlei Not leiden, sondern glänzende Profite realisieren und ihrerseits durch „kreative Buchführung“ keine oder nur geringste Steuern zahlen. Der Rest von Glaubwürdigkeit geht den Gewerkschaften verloren, wenn die Mitglieder heute zur Unterschrift gegen Arbeitszeitverlängerung aufgerufen werden und morgen eben eine solche Arbeitszeitverlängerung als letzte Möglichkeit der „Standortsicherung“ akzeptieren sollen und Funktionäre der Gewerkschaft diese „Kompromisse“ als Erfolg gewerkschaftlicher Kraft darstellen.
IV. Globalisierung von unten oder: wie die Krise produktiv aufgelöst werden kann
Bei der Gründung eines Solidaritätskomitees für die Opel-Beschäftigten in Rüsselsheim trat der Jesuiten-Pater Professor Friedhelm Hengsbach auf. Im Kontext der aktuellen Krise plädierte Hengsbach für alternative Produktionsmodelle ebenso wie für neue Verkehrsleitsysteme jenseits des auf das Auto fixierten Individualverkehrs sowie für die Schaffung von alternativen Arbeitsplätzen im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Es ist das Plädoyer für überfälliges Umsteuern aus mehreren Gründen. Wie beschrieben ist die kaufkräftige Nachfrage nach Mittelklassefahrzeugen gesunken und wird bestenfalls auf geringerem Niveau stabilisiert. Bei gleichzeitiger realer Steigerung der Produktivität führt dies zu Einbrüchen in den erforderlichen Arbeitsvolumen und Personalbedarfen.
Die gesunkene Nachfrage nach Automobilen hat – zumindest in unserem Land – aber auch Vorteile. Wenn wir uns die Verkehrssituation in Innenstädten und auf Autobahnen ansehen, dann darf man heute getrost vom Verkehrsinfarkt sprechen. Oft geht stundenlang gar nichts mehr. Dabei handelt es sich um eine gigantische Verschleuderung von Zeit und Volksvermögen, abgesehen von Aggressionen, die dabei aufgestaut werden. Intelligente Systeme für die Bewältigung von Transportaufgaben zu entwickeln – auch unter Berücksichtigung vorhandener Alternativen wie Eisenbahn- und Schiffsverkehr – wäre doch eine wichtige Zukunftsaufgabe, die die Städte und das Land viel attraktiver machen würden. Der Nachfragerückgang bringt den Vorteil mit sich, dass Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung reduziert werden. Eine lohnenswerte Aufgabe wäre es, die ökologischen Herausforderungen mit den Mobilitätsbedarfen von Individuen und Gesellschaft in Übereinstimmung zu bringen.
In diesem Sinne ist eine Konversion und Diversifikation der Automobilproduktion in unserem Land erforderlich. Die dazu notwendigen Anregungen und Anstrengungen sind von den Managern der Automobilunternehmen nicht zu erwarten bzw. werden in einer Weise vorgenommen, die weder sozial noch ökologisch noch gesellschaftlich verträglich sind. Gewerkschaften würden also ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen, im Sinne der Beschäftigten und in gesellschaftlicher Verantwortung, diese Prozesse kräftig anzustoßen und von Politik und Wirtschaft einzufordern. Die Debatte in der IG Metall, aber auch in der übrigen Gesellschaft einschließlich VW (Goeudevert), war zu diesen Fragen vor 15 Jahren weiter, als sie heute geführt wird.[28] Weiter war auch schon die Diskussion um Arbeitsumverteilung und der Kampf um Arbeitszeitverkürzung. Diese weiterhin notwendigen Bestandteile eines Veränderungsprozesses werden hier aus Platzgründen nicht weiter dargelegt.
Erforderlich zur Krisenbewältigung wäre eine Europäisierung, schließlich eine vollständige Internationalisierung und Globalisierung von Gewerkschaft und Tarifpolitik. Dieses Axiom wird theoretisch nicht bestritten, schließlich zwingt die Internationalisierung von Produktion und Kapital, die Erweiterung der EU zu dieser Erkenntnis. Schritte auf dem Wege der Europäisierung waren zwischen den Metallgewerkschaften verabredet, wie zum Beispiel die Orientierung der Lohnabschlüsse an Inflationsrate und Produktivität. Aber die stärkste Abteilung dieser Metallgewerkschaften, nämlich die deutsche IG Metall, hat als erste gegen diese Verabredung verstoßen. Geopfert wurde die Einhaltung dieser Verabredung dem Druck des Kapitals, der Scheu, größere Konflikte mit der notwendigen Politisierung und Koordination zu führen. Begründet wurde die Missachtung der Verabredung mit der „Notwendigkeit“, in der Konkurrenz der Standorte die jeweiligen Arbeitsplätze zu sichern. In diesem Kontext ist auch die Verlängerung der tatsächlichen und tariflichen Arbeitszeit zu sehen. Weil es der IG Metall nicht gelang, im Osten Deutschlands die 35-Stunden-Woche zu verankern, weil die IG Metall und andere Gewerkschaften in Deutschland reihenweise Vereinbarungen zur Arbeitszeitverlängerung akzeptiert haben, ist die gesetzliche 35-Stunden-Woche in Frankreich gefallen. Es wäre möglich und dringend notwendig, im Rahmen der europäischen Verfassungsdebatte soziale Mindeststandards oder soziale Konvergenzkriterien zum Inhalt gewerkschaftlicher Aufklärung und gewerkschaftlicher Aktion zu machen, zum Beispiel Beschäftigungsgrad, Höchstarbeitszeiten, Grundeinkommen für alle Bürgerinnen und Bürger. Dies würde eine positive Rolle der Gewerkschaften in Europa befördern und die durchaus begründete Angst vor Erweiterung und daraus resultierendem, durch die „Standort“-Propaganda verstärkten Nationalismus begegnen. Und wo sollten zumindest Ansätze einer europäischen Tarifpolitik besser darstellbar seien als in einem so „modernen“ Unternehmen wie Volkswagen mit entsprechenden Interessenvertretungsstrukturen wie Europäischem Betriebsrat und Weltkonzernbetriebsrat einschließlich der institutionellen Mitarbeit von IG Metall-Vertretern in diesen Gremien?
Statt diese allgemein als notwendig erkannte Politik der Europäisierung zu verfolgen, wird von vielen Gewerkschafts- und Betriebsratsrepräsentanten der betrieblichen Orientierung der Tarifpolitik das Wort geredet – und der Tarifabschluss bei VW ist ein praktisches Beispiel dafür.
Die Kritik an der konkreten Art und Weise der „Mitbestimmung“ trifft nun auf den Bereich der Tarifpolitik. Wenn die „Mitbestimmung“ dazu missbraucht wird, einzelne Standorte gegenüber anderen Standorten konkurrenzfähiger zu machen, wird die Gewerkschaft nicht nur ihrer ursprünglichen Aufgabe nicht gerecht, sondern stellt sich selbst völlig in Frage!
Wenn es, wie dargelegt, um Konversion und Diversifikation der Automobilproduktion und der Automobilunternehmen geht, gewinnt die Frage Bedeutung, welche Rolle in diesem Prozess die Beschäftigten spielen können und müssen. Es ist Zeit für die Gewerkschaft, die schon angestoßene Debatte um Qualifizierung und lebenslanges Lernen um diese Dimension zu erweitern. Qualifizierung für andere Produkte und andere Tätigkeiten – das sind Chance und Herausforderung, der sich nicht nur die IG Metall stellen muss. Die Qualifizierungsvereinbarungen, die dazu in einigen Tarifverträgen des vergangenen Jahres verankert wurden, genügen diesen Anforderungen nicht, da sie „lediglich“ die Qualifizierung für die derzeitige Produktion und die derzeitigen Produkte beinhaltet. Die Vereinbarungen genügen den Anforderungen nicht, weil Qualifikation nicht als eine gesellschaftliche Aufgabe definiert wird, für die Unternehmen, Staat und Bürgerinnen und Bürger zu unterschiedlichen Teilen Verantwortung haben. Einige Vereinbarungen bürden den Beschäftigten alle finanziellen und zeitlichen Lasten der Qualifizierung auf, die doch eine gesellschaftliche und betriebliche Aufgabe sind. Die Anforderungen, die Gewerkschaften in diesem Kontext an den Staat, an die Weiterentwicklung sozialstaatlicher Verantwortung stellen müssen, sind auch geeignet, die positive Rolle und Attraktivität von Gewerkschaften zu erhöhen – nicht bei Herrschenden und Regierenden, wohl aber bei Erwerbstätigen und Erwerbslosen. Hier ist staatliche Aktivität und konkretes Handeln einzufordern. Solches staatliche Handeln setzt Ressourcen voraus, die eine weitere finanzielle Schwächung des Staates verbieten. Und insoweit ist eine Auseinandersetzung mit der Politik der Regierenden zwingend erforderlich, aber eben auch viele Menschen ansprechend und mobilisierend möglich.
Eine Lösung der Krise erfordert schließlich ein grundsätzliches Umsteuern in der Politik. Die Umverteilung muss in der Richtung geändert werden. Der richtigen Erkenntnis, dass Gewinne steigen, aber Steuereinnahmen ebenso wegbrechen wie Investitionen unterbleiben[29], muss die Forderung und praktische gewerkschaftliche Politik folgen, die Masseneinkommen zu entlasten, die Spitzeneinkommen und Gewinne zu belasten. Und dafür sollen in Zeiten von Hartz IV und Raffkementalität allenthalben die Menschen nicht zu mobilisieren sein?
Schließlich geht es um die brisante Frage von Rüstungspolitik und „Verteidigungshaushalt“. Milliarden werden sinnlos und kontraproduktiv verschleudert, die Bundesrepublik Deutschland entwickelt sich zu einer Interventionsmacht, die Kriege führen kann und führt. Aber die Probleme der Menschheit werden damit nicht gelöst, sondern verschärft. Ein Bruchteil des Geldes, das für Kriege und Rüstung ausgegeben wird, genügte, um das Verhungern von 30.000 Kindern täglich zu stoppen. Ein Bruchteil des Geldes für Kriege und Rüstung genügte, ein Tsunami-Warnsystem weltweit zu installieren, das die verheerende Katastrophe in Südasien erheblich verkleinert hätte. Ein Bruchteil des Geldes, das in Deutschland für Kriege und Rüstung ausgegeben wird, genügte, den anstehenden Strukturwandel in der Automobilproduktion positiv und produktiv, die menschlichen Bedürfnisse unterstützend zu gestalten, den Sozialstaat auszubauen und weiter zu entwickeln, statt ihn abzureißen. Dies setzt, wie das Umsteuern in anderen Politikbereichen, einen scharfen Konflikt mit den Regierenden und vor allem mit den Profiteuren von Rüstung und Krieg voraus.
Eingangs dieses Aufsatzes wurde betont, dass Beschäftigte, Gewerkschaften und Betriebsräte neue Wege der Krisenlösung finden müssen, dass es zunächst keine Krisenlösung außerhalb der kapitalistischen Ökonomie sein wird und dass diese Krisenlösung in scharfer Auseinandersetzung mit dem Kapital und dem politisch ganz anders agierenden Staat errungen werden muss. Ebenso wurden Ansätze für diese Krisenlösung aufgezeigt und die sozialpartnerschaftliche Politik der „Standortsicherung“ als untauglich kritisiert. Wenn das Kapital den Klassenkampf von oben verstärkt, wenn es sich um einen Generalangriff handelt, hilft es nicht, an „sozialer Partnerschaft“ festzuhalten. Dieses auch deshalb, weil der Konsens seitens des Kapitals aufgekündigt wurde. Sie wollen mit Gewerkschaftsvertretern keine Verbesserungen für die Arbeitenden mehr vereinbaren. Sie sehen die Zeit gekommen, ihre Bedingungen zu diktieren. Sehr deutlich wird dies auch in anderen Industrien wie z.B. der Chemischen Industrie. Die Bosse von Continental pfeifen auf die Gewerkschaft und die jahrzehntelange „partnerschaftliche Zusammenarbeit“ und ziehen stattdessen Werksschließungen in größtem Ausmaß durch. Als die Conti-Filiale Euskadi in Mexiko illegal geschlossen wurde, konnten Gewerkschaft und Betriebsrat sich zu Solidarität nicht aufraffen. Selbst betriebswirtschaftlich intakte Unternehmen wie Phönix in Harburg werden ohne Wimpernzucken übernommen, um liquidiert zu werden. Durch jahrzehntelange Akzeptanz der „Realität“ der Renditeansprüche, durch die Illusion der „sozialen Partnerschaft“, hat sich die Gewerkschaft selbst entwaffnet. Die Drohung mit dem Arbeitskampf ist unglaubwürdig geworden. Sozialpartnerschaft verkommt zu entwürdigender Bettelei. Aber gegen Klassenkampf von oben hilft nur der Klassenkampf von unten!
Und dieser kann nur international erfolgreich geführt werden. Gewerkschaften, gewerkschaftliche und betriebliche Aktivistinnen und Aktivisten sollten z.B. den Sozialforumsprozess von Porto Alegre, das Weltsozialforum, die europäischen Sozialforen und das Sozialforum in Deutschland nutzen, sich zu vernetzen und autonome Kampagnen zu planen, weil es so eine Verbindung zu anderen sozialen, demokratischen und emanzipatorischen internationalen Aktivitäten gibt: Globalisierung von unten.
Es ist die Frage zu stellen, welche Rolle die Beschäftigten selbst in diesen Prozessen spielen. Am Beispiel des Tarifabschlusses bei Volkswagen „sichert“ der „Kompromiß“ den Betriebsfrieden und die Beschäftigungsverhältnisse für die aktuell Beschäftigten. Es gibt Lohneinbußen und Leistungsverdichtung, aber weniger für diejenigen, die jetzt in Arbeit sind. Die „Verführung“ in diesem Abschluß besteht u.a. darin, die Lasten auf Auszubildende und diejenigen abzuwälzen, die zukünftig Volkswagen bauen werden. Die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg macht die Menschen reif für Ungerechtigkeiten. Diese Ungerechtigkeit aber macht die Beschäftigten von Volkswagen, die über 90% IG Metall-Mitglieder, nicht nur zu Opfern, sondern auch zu Tätern[30]. Allen ist bewußt, dass die eigenen Arbeitsbedingungen verteidigt wurden, indem die Arbeitsbedingungen anderer verschlechtert wurden. Wir sind Opfer des Klassenkampfes von oben, verharren aber freiwillig in der Illusion der betrieblichen und standortbezogenen nationalen Sozialpartnerschaft, statt die Perspektive internationaler und globaler Solidarität konkret zu entwickeln. Wir akzeptieren diese Opferrolle ohne größeres Murren, weil sie aktuell und kurzfristig geringere Belastungen mit sich bringt. In dieser Feststellung liegt die Chance, dass die Beschäftigten ihre Lage erkennen, ihre Unterdrückung und Bevormundung wahrnehmen und selbständig Beiträge zur Überwindung leisten. Das ist Voraussetzung für die notwendige Richtungsänderung der Tarif- und Sozialpolitik der Gewerkschaften.
[1] Der VW-Auslandsabsatz hat sich seit 1994 von 2 Mio. Fahrzeuge auf 4 Mio. Fahrzeuge verdoppelt, der Inlandsabsatz ist bei 900.000 Fahrzeugen konstant. Die Auslandsproduktion hat sich im gleichen Zeitraum von 1,6 Mio. Fahrzeugen auf 3,3 Mio. Fahrzeuge mehr als verdoppelt, im Inland lediglich von 1,4 Mio. auf 1,7 Mio. erhöht. Ein – besonders negatives – Beispiel: Daimler sieht sich Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ausgesetzt, weil Fahrzeuge unter Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz an Iran geliefert wurden, FR vom 13.12.2004.
[2] Eine detaillierte Erläuterung der Profitkrise unterbleibt aus Platzgründen. Sie würde ergeben, dass der überwiegende Teil des ausgewiesenen geschmälerten Profites nicht in der Automobilproduktion erwirtschaftet wird, sondern in anderen Unternehmensbereichen.
[3] „Billig“ sind Standorte nicht wegen geringer Löhne, sondern wegen kostenloser Infrastrukturleistungen, wegen Subventionen und geringster Steuersätze.
[4] Siehe den im Januar 2005 von der Bundesregierung veröffentlichten Armutsbericht „Lebenslagen in Deutschland“.
[5] Siehe die Kritik im Artikel des Autors: „Neue Zumutbarkeiten – Das Modell Volkswagen und die Reform am Arbeitsmarkt“, in: Z Nr. 53, März 2003, Seite 7 ff.
[6] „Bei der Auto 5000 habe sich gezeigt, dass … die Effizienz um ein vielfaches erhöht werden kann. Diese Beispiele müssten im Unternehmen verbreitet werden.“ (Volkert laut Pressemitteilung zur Betriebsversammlung in Wolfsburg am 8.12.2004) sowie Wolfsburger Allgemeine Zeitung vom 23.12.2004.
[7] Wolfsburger Nachrichten, 23.12.2004: “Das Werk in Wolfsburg sei zu groß und zu wenig überschaubar“, so Volkert. „Ich halte es für sinnvoll, daraus vier oder fünf Einheiten zu bilden – mit klaren Verantwortlichkeiten.“
[8] Zwischenbericht: AUTO 5000 - eine Kampfansage an veraltete Fabrikgestaltung; VW-Projekt 5000x5000 - auf Erfolgsspur, Sozialwissenschaftliche Begleitforschung zieht Zwischenbilanz, beides unter http://www.sofi-goettingen.de/index.html.
[9] Die zu diesem Konglomerat gehörende Firma Sitech bildet (angeblich „schwer vermittelbare“) Jugendliche mit öffentlichen und privaten Zuschüssen des „Regionalverbundes für Ausbildung“ ohne Tarifvertrag und mit untertariflicher Vergütung aus.
[10] Wolfsburger Nachrichten vom 23.12.2004.
[11] Pressemitteilung des BR vom 31.10.04: Appell zur Besonnenheit im Tarifkonflikt bei Volkswagen. Aufgrund solcher Äußerungen wurde der BR-Vorsitzende in Medien bereits als „Schlichter“ und „Vermittler“ zwischen VW und IGM bezeichnet.
[12] Spiegel vom 3.5.2004.
[13] H. Meine in Wolfsburger Allgemeine vom 5.5.2004.
[14] Wolfsburger Nachrichten, 4.5.2004.
[15] Braunschweiger Zeitung, 19.7.2004.
[16] „Volkswagen holt 5000 Arbeitsplätze vom Ausland nach Deutschland zurück“, VW-Presseinfo vom 30.11.1999 und „Vorrang für deutsche Werke“, Braunschweiger Zeitung vom 20.11.1999.
[17] IGM-Flugblatt vom 23.8.04: „Die Kaufunlust hat ihren Grund. Die Belastungen nehmen zu. Deshalb muß die Kaufkraft gestärkt werden. ... Mehr Geld ist notwendig – viele haben den Gürtel schon enger geschnallt. Jedes Prozent ist deshalb ein Prozent für den Aufschwung. ... Bei einem Organisationsgrad von 97% werden wir nicht zulassen, dass die VW-Beschäftigten abgezockt werden.“
[18] „Volkswagen wird voraussichtlich im Herbst 2004 entscheiden, wo der neue Golf-Geländewagen produziert wird. Das sagte VW-Personalvorstand Hartz heute. Auf einen konkreten Termin und welche Werke im Rennen seien, wollte er sich nicht festlegen.“ dpa-Meldung vom 23.8.2004.
[19] „Co-Investment für Beschäftigungssicherung: Mit diesem Baustein erhalten die deutschen Standorte ein Instrument, um ihre Wettbewerbsfähigkeit bei internen Ausschreibungen des Konzerns zu stärken – etwa für die Produktion neuer Modelle. Das einzelne Werk kann zum Beispiel durch temporär längere Arbeitszeiten eine Gegenleistung für Einmal-Investitionen bieten und damit den Zuschlag erhalten. Das heutige Tarifsystem ermöglicht das nicht“, VW-Presseinfo vom 23.8.2004.
[20] Tarifliche Öffnungsklausel für Arbeitszeitverlängerung bzw. Entgeltverzicht in krisenhaften Situationen bzw. zur Sicherung oder „Schaffung“ von Arbeitsplätzen.
[21] Zukunftstarifvertrag § 2, Präambel.
[22] H. Meine in metall-nachrichten Nr. 9/4.11.2004.
[23] Huber in der FR, 11.11.04.
[24] Hartz in der FAZ vom 27.10.2004.
[25] Beschäftigungsstand am 31.12.2004: 98.303 plus 4.217 Auszubildende.
[26] Handelsblatt vom 4.11.2004 und vom 7.12.2004.
[27] Siehe Tarifverträge bei Daimler-Chrysler, Siemens, Opel, Volkswagen. Ähnliches trifft auf die Organisationsbereiche anderer Gewerkschaften zu – siehe die Vereinbarungen bei Karstadt, Bundesbahn usw.
[28] Siehe Heft 122 der Schriftenreihe der IG Metall „Auto, Umwelt und Verkehr; Umsteuern, bevor es zu spät ist“; ohne Datum.
[29] Dierk Hirschel, „Chefökonom“ des DGB, in der FR vom 4.1.2005.
[30] Frigga Haug, „Opfer oder Täter“, Volksuni Berlin, 1980: „Jede Unterdrückung, die nicht mit äußerem Zwang arbeitet, muß mit der Zustimmung der Beteiligten arbeiten.“