Für Z. interviewte Ingar Solty im Januar den amerikanischen Sozialwissenschaftler Clyde Barrow zu seiner Einschätzung der US-Politik nach den Wahlen.. Das Interview wurde vom 3.1. – 6.1.2005 per E-mail geführt. Übersetzung: Ingar Solty
Demokraten und Republikaner
Clyde, Du warst sehr pessimistisch hinsichtlich der Chancen John Kerrys, die Wiederwahl von George W. Bush zu verhindern und aus den Präsidentschaftswahlen 2004 als Sieger hervorzugehen. Im Vorfeld der Wahlen gingen viele Beobachter davon aus, daß der Ausgang der Wahlen letztlich in besonderem Maße davon abhängen würde, welcher Diskurs in den letzten Wochen vor der Stimmabgabe der dominante sein würde. Die Umfragen deuteten an, daß Bushs Wirtschaftspolitik, präziser gesagt, seine Steuersenkungspolitik nur bei wenigen Amerikanern auf Gegenliebe stieß, da sie den amerikanischen Haushalt massiv belastete, gleichzeitig aber nur einer sehr kleinen Minderheit der amerikanischen Bevölkerung zugute kam und dabei sogar von einigen der führenden angebotsorientierten Wirtschaftswissenschaftlern als ein Va-Banque-Spiel kritisiert wurden. Die Umfragewerte hinsichtlich der Diskussionen um die Terrorismus- und Irakfrage sowie die Vietnam- und Patriotismusdebatten schienen hingegen George W. Bush Vorteile zu bringen. Zur Überraschung der meisten europäischen Beobachter entpuppte sich dann aber die Frage nach den „Werten“ als entscheidend. Vielleicht kannst Du erläutern, was der Hintergrund für diesen Zusammenhang ist.
Bevor wir uns mit allgemeinen Aussagen über die Vereinigten Staaten oder die Amerikaner beschäftigen, sollten wir uns zunächst über einen wichtigen Ausgangspunkt jeglicher Überlegung verständigen, nämlich den, daß lediglich 60% der eigentlich Wahlberechtigten in dieser Wahl überhaupt ihre Stimme abgegeben haben. Mit anderen Worten: Mehr Menschen haben sich dazu entschlossen, gar nicht zu wählen, anstatt einem der beiden Kandidaten ihre Stimme zu verleihen. Tatsächlich kursiert unter amerikanischen Politikwissenschaftlern der Witz, daß wir seit 1968 überhaupt keinen Präsidenten mehr gehabt hätten, wenn man die eigentliche Wahlentscheidung der amerikanischen Bevölkerung tatsächlich ernst nähme.
Ganz im Gegensatz zu Europa, wo die Klassenfrage beim Wählen eine Rolle spielt, drückt sich das Klassenspezifische in den USA in der Form des Nichtwählens aus: 75% der amerikanischen Nichtwählerpartei rekrutieren sich aus der Industriearbeiterschicht und dem Niedriglohn-Dienstleistungssektor. Die Arbeiterklasse ist praktisch vom amerikanischen Wahlprozeß abgekoppelt. Sie bildet keine Mehrheit der eigentlichen Wähler mehr. Genau dies meinte C. Wright Mills, als er vor vierzig Jahren davon sprach, daß es in den USA keine working class gibt, sondern nur eine working mass. Die Folge hieraus ist, daß die Demokratische Partei sich mit ihrer Wahlwerbung nahezu bei jeder Wahl an die Mittelschichten wendet. Letztendlich wird man sie sich so gut wie nie an die Arbeiterklasse richten sehen, wohingegen die Republikaner den Klassencharakter ihrer Agenda meistens dadurch verbergen, indem sie von „dem Volk“, „der Nation“ oder „den Durchschnittsamerikanern“ sprechen.
Das alles hat zur Konsequenz, daß die Demokraten nicht mehr über eine „natürliche“ Wählerschaft verfügen, mit der sie sich von den Republikanern unterscheiden. Stattdessen sind die Demokraten gezwungen, mit den Republikanern um eine stetig schrumpfende und enger definierte Wählerschicht zu konkurrieren. Vor diesem Hintergrund einer aus dem Wählerkollektiv nun ausgeschiedenen Arbeiterklasse hat sich die Demokratische Partei seither leider für die kurzfristig angelegte Strategie gegen die Republikaner entschieden, um eben jene schrumpfende Masse von aktiven Wählern zu werben, eine Masse, die nach ihrer Klassenlage jedoch aller Wahrscheinlichkeit eher den Republikanern ihre Stimme geben wird. Und da die Demokraten im Zuge dessen mehr und mehr in die politische „Mitte“ rücken, um eben jene Wähler den Republikanern abspenstig zu machen, verabschiedet sich ein immer größer werdender Teil ihres linksliberal gesonnenen Wählerblocks und geht nicht mehr wählen. Folge hieraus wiederum ist, daß sich die Demokraten aufgefordert fühlen, gar noch weiter nach rechts zu marschieren, weshalb die Wahlkampagne John Kerrys im Grunde genommen auf das Motto hinauslief, er könne die Bush-Agenda besser fortführen als Bush selbst. Nun sagte aber einst schon Präsident Truman ganz richtig: „Wenn man die amerikanische Bevölkerung vor die Wahl stellt, zwischen einem Republikaner und einem Republikaner zu wählen, dann wählen sie jedes Mal den Republikaner.“ Oder, wie es in einem anderen Witz heißt: Die Vereinigten Staaten haben mit den Republikanern und den Demopublikanern das am heftigsten umkämpfte Eineinhalbparteiensystem der Welt.
Ich weiß, daß die meisten Europäer, aus einem Anti-Bush-Gefühl heraus, John Kerry aus den US-Präsidentschaftswahlen hervorgehen sehen wollten. Aber ich bin überzeugt, daß die meisten Europäer dem, was John Kerry so von sich gab, nicht besonders aufmerksam zugehört haben. Sicher, er sprach eine versöhnliche und multilateralistische Sprache. Gleichzeitig jedoch stimmte er für den Irak-Einmarsch. Im Rahmen seiner Wahlkampagne konstatierte Kerry besonders emphatisch, daß im Irak „den Frieden zu gewinnen“, zusätzliche Bodentruppen erforderlich machen würde, wobei er hiermit eine europäische Unterstützung im Auge hatte. Kerry sah auch vor, die Truppenstärke der US-Armee dauerhaft um 40.000 Soldaten, d.h. zwei Divisionen, zu erhöhen, damit gewährleistet sei, daß die Vereinigten Staaten ihre gegenwärtigen militärischen Verpflichtungen aufrecht erhalten könnten und noch für zusätzliche andere Kampfeinsätze gerüstet seien. Im Vergleich zu Bush gerierte er sich sogar noch aggressiver, wenn er von der Notwendigkeit sprach, noch mehr Truppenkontingente nach Afghanistan zu senden. Zudem redete er ununterbrochen über ein weltweites „Töten von Terroristen“. Ich bin davon überzeugt, daß die meisten Europäer keinerlei Unterschied in der US-amerikanischen Außenpolitik festgestellt hätten, wenn Kerry tatsächlich neuer Präsident der USA geworden wäre. Kerrys zentrale Botschaft bestand darin,daß den neuen Krieg besser zu führen als Bush. Worin also bestand die eigentliche Wahlalternative?
Allerdings ist das nur einer der Gründe, warum ich hinsichtlich der Wahlchancen Kerrys pessimistisch war. Du sprachst vorhin davon, daß es viele Europäer überrascht habe, daß die Frage nach den „Werten“ bei der Wahlentscheidung Priorität hatte. Deswegen möchte ich zunächst einmal daran erinnern, daß es Max Weber war, der die Politik als den „Kampf um Werte“ definierte. Was auf der Linken viele vergessen haben, ist, daß ökonomische Fragen lediglich einen Teil eines Gesamtzusammenhangs bilden, in dem politische Werte und kulturelle Werte, welche die persönliche Moral, informelle Gebräuche und die Religion umfassen, ebenso wichtig sind. Im Rahmen der Tatsache, daß die Arbeiterklasse kein Teil der zur Wahl gehenden Schicht mehr ist, blieb Kerry hinsichtlich seiner ökonomischen Alternativen zu Bush nichts anderes übrig, als eine von Bush lediglich im Detail unterschiedene Steuersenkung anzubieten. Auch hier haben wir es wieder mit der gleichen Litanei zu tun: „Ich kann das, was Bush macht, besser als er machen.“
Während das Ökonomische in letzter Instanz entscheidend sein mag, entscheidet in den Vereinigten Staaten in erster Instanz die Religion. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die meisten Europäerinnen und Europäer Schwierigkeiten haben zu verstehen, wie wichtig die Religion für die durchschnittlichen Amerikaner ist. Schaut man sich vergleichende öffentliche Meinungsumfragen aus den letzten 30 bis 40 Jahren an, so sieht man, daß die Amerikaner durch und durch zu den religiösesten Völkern in der westlichen Welt gehören, und genau seit jener Zeit befinden wir uns in Amerika in einer unserer periodisch wiederkehrenden „Kulturrevolutionen“, die als die religiösen „Great Awakenings“ bezeichnet werden. Diese religiösen, auf Bekehrung angelegten Aufbrüche sind in der bisherigen Geschichte Amerikas bereits viermal aufgetreten, wobei jede einzelne Welle zwischen 30 bis 40 Jahren anhält. Bei diesem Phänomen handelt es sich um ein fundamentalistisches Aufbegehren, das dem fundamentalistischen Aufbegehren in der islamischen Welt in einigen Punkten sehr ähnlich ist.
Ich werde nun versuchen, diese Beobachtungen in einen politischen Kontext zu stellen. Die ursprüngliche New-Deal-Koalition, so wie sie zwischen 1932 und 1972 von der Demokratischen Partei organisiert wurde, basierte auf der Industriearbeiterschicht und ihren Gewerkschaften im Norden, die sich mit ärmeren Bewohnern des südlichen Teils der Vereinigten Staaten zusammen taten. Dies wurde dadurch möglich, daß Letztere (als ein Vermächtnis aus dem Bürgerkrieg) gewohnheitsmäßig noch anti-republikanisch eingestellt waren und der New Deal zudem immense Transferzahlungen, öffentliche Investitionen und Regierungseinrichtungen in den Süden brachte. Diese Klassenallianz schloß außerdem noch eine ethnisch-religiöse Wählerbasis bestehend aus Afroamerikanern, Hispanics, Juden und Katholiken ein. Dieser „liberale“ Wählerblock blieb in seiner wirtschaftlichen Ausrichtung stets sozialdemokratisch, kulturell jedoch konservativ.
Im Kontext u.a. der Anti-Vietnam-Bewegung, der Bürgerrechtsbewegung, der Frauenbewegung, der Umweltbewegung und der Homosexuellenbewegung in den späten 1960er und 1970er Jahren löste sich diese liberale Koalition folgerichtig sukzessive auf, da diese Bewegungen die politische Agenda der Liberalen/Linken von der sozialen Frage hin zu gesellschaftlichen und kulturellen Fragen verschoben. Die Ursache dieses Zusammenhangs ist darin zu suchen, daß diese Bewegungen Themen wie den Patriotismus, die „Rassenbeziehungen“, das Arbeitsethos, die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft, Sexualität, Religion und eine Unmenge anderer Themen streiften und in Frage stellten, was als ein Angriff auf die „traditionellen amerikanischen Werte“, insbesondere das Arbeitsethos und die traditionelle Familie, verstanden wurde.
Es ist wichtig festzuhalten, daß die von der nationalen Ebene ausgehenden politischen Initiativen wie z.B. die Desegregierung der Schulen, die Abschaffung der Schulgebete, die Einrichtung von Homosexuellen-Rechten und erst kürzlich die Homo-Ehe in Massachusetts keineswegs gesellschaftliche Veränderungen waren, die sich auf eine gesunde zivilgesellschaftliche Debatte stützten und quasi von einer Mehrheit in Gesetze gegossen wurden. In der breiten Bevölkerung hatte man vielmehr den Eindruck, daß es sich hierbei um politische Entscheidungen handelte, die der amerikanischen Bevölkerung von der liberalen Agenda einer politischen Elite aufgedrückt wurden. Tatsächlich zeigen die öffentlichen Meinungsumfragen, daß die meisten Amerikaner viele dieser Politiken nie wirklich akzeptiert haben. Ganz gleich, wie löblich diese politischen Richtungsentscheidungen erscheinen mögen, so hatten sie doch ein objektives Resultat: die Demokratische Partei trieb einen Keil durch ihre eigene Wählerbasis. Viele Angehörige der Arbeiterklasse und der Mittelschicht gingen in der Folge zusehends dazu über, die Aktivisten der Demokratischen Partei als eine randständige „antiamerikanische“ Elite anzusehen, die einen Kulturkampf gegen das amerikanische Volk zu führen trachtet.
Mitte der 1970er Jahre hatten insofern die führenden Strategen der Republikanischen Partei richtig erkannt, daß man mit der Berufung auf traditionelle amerikanische Werte bzw. gesellschaftliche und kulturelle Fragen, das Mittel gefunden hatte, mit dem man die Wählerbasis der Demokratischen Partei spalten und insbesondere im Süden kulturkonservativ ausgerichtete Angehörige der Arbeiterklasse für sich gewinnen konnte. Ihre erste Dividende warf diese Strategie 1980 mit der Wahl Ronald Reagans ab. Weder die Demokratische Partei noch der (links-)liberale Wählerblock haben sich seither von dieser Niederlage erholt.
Darüber hinaus gab es damals eine nie zuvor dagewesene Einwanderungswelle in die Vereinigten Staaten. Die meisten Menschen sind sich darüber nicht im Klaren, aber in den USA hat es im Verlauf der 90er Jahre eine Einwanderung in bisher unbekanntem Ausmaß gegeben. Im Zeitraum der sogenannten „Großen Immigration“ (1910-1920) basierte ein Anteil von 35% des Bevölkerungsanstiegs in den Vereinigten Staaten auf der Einwanderung aus anderen Ländern. Zwischen 1990 und 2000 war die Einwanderung hingegen für ganze 42% des Bevölkerungswachstums verantwortlich. In manchen Staaten war die Einwanderung wie z.B. in Massachusetts für 82% des Nettozuwachses an der zur Verfügung stehenden Arbeitskraft verantwortlich. Die Hauptquellen, aus denen sich diese Einwanderungsbewegung speiste, waren v.a. Russland und die Ukraine, Indien, Mittelamerika, Brasilien und die Karibischen Inseln.
Die Amerikaner sehen sich einem Prozeß ausgesetzt, in dem die rassische, ethnische, sprachliche und religiöse Zusammensetzung ihrer traditionellen Nachbarschaften im Grunde genommen von heute auf morgen durch Dutzende von fremden Sprachen umgekrempelt werden, die plötzlich an den öffentlichen Schulen usw. auftauchen, und dort, wo sie es eigentlich gewohnt waren, kleine protestantische Kirchen stehen zu sehen, stehen heute Moscheen, Tempel und Schreine und finden Tieropferungen und alle möglichen anderen religiösen und kulturellen Praktiken statt. Dies kommt den ganz normalen Amerikanerinnen und Amerikanern sehr befremdlich vor. Addiert man zu diesen inneren Entwicklungen noch den 11. September, dann haben wir es mit einer auf Verdichtung von Geschehnissen beruhenden Entwicklung zu tun, in welcher der „Kampf der Kulturen“ dem einfachen Amerikaner als sehr real und nahe erscheint. Für ihn handelt es sich dabei nicht um das Buch eines Harvard-Professors, sondern um einen Teil seines Alltagslebens. Der Kampf der Kulturen findet nicht in Übersee statt, sondern er trägt sich in seinem Hinterhof zu, weshalb die Bewahrung seiner eigenen Kultur und seines Way of Life mehr tagtägliche Aufmerksamkeit verdient als die Steuergesetzgebung. Es geht mir hier gar nicht darum, diese Art des Denkens zu rechtfertigen. Ich möchte einfach nur erläutern, wie die Welt für die sich selbst als die „ganz einfachen Leute“ verstehenden Menschen aussieht, die Bush ihre Stimme gegeben haben. Eine Mehrheit der Amerikaner ist der Auffassung, daß ihre Lebensart und ihre Kultur unter Beschuß stehen, und das sowohl von außerhalb als auch von innerhalb der nationalen Grenzen.
John Kerry verkörpert den „Limousine Liberal“ und das trotz seiner intensiven Bemühungen, dieser Zuschreibung durch das Beschwören seines Militärdienstes in Vietnam zu entrinnen. Die Kampagnen der Republikaner erwiesen sich als sehr effektiv, die amerikanische Bevölkerung daran zu gemahnen, daß Kerry ein prominenter Antikriegsaktivist gewesen war und ein außergewöhnlich reicher Mann, dem der Luxus gegönnt war, auf einer privaten Schule auf die High School vorbereitet zu werden, der die Universität von Yale besuchte und der seinen Urlaub gern im Luxushaus seiner Frau in den Bergen von Idaho verbringt. Zur gleichen Zeit hackte sich George Bush auf seiner Ranch in Texas in einem Flannelshirt durchs Unterholz. Keine Frage, welches dieser beiden Bilder die traditionellen amerikanischen Werte besser symbolisiert.
Ich denke, daß das spezifische Problem der Demokraten bei den diesjährigen Wahlen das gleiche Problem war, daß diese Partei schon seit langem hat. Sie ist keine wirkliche Alternative zu den Republikanern, sondern wirbt für sich nur als die „verbesserte“ Version der Republikanischen Agenda. Die Demokraten lehnen es strikt ab, aus dem von Ronald Reagan etablierten hegemonialen Diskurs auszubrechen, der sich auf einen mit einer aggressiven und militaristischen Außenpolitik gekoppelten innenpolitischen Anti-Etatismus stützt. Es ist kein Zufall, daß Howard Dean gerade dadurch soviel Aufmerksamkeit auf sich zog, als er sich als einen Vertreter des Demokratischen Flügels der Demokratischen Partei vorstellte. Bill Clinton hatte als Kandidat zwei Trümpfe, die Kerry nicht hatte. Clinton hatte eine bemerkenswerte Begabung, sofort eine direkte Verbindung zwischen sich und den Leuten herzustellen und sich als einen einfachen „good ole’ boy“ aus Arkansas zu präsentieren: Ein wirklich ganz normaler Amerikaner, der auch nur bei McDonalds ißt. Ja, Amerikaner sind in der Tat so oberflächlich, wenn es um die Politik geht.
Der Aufstieg der (Neo)Konservativen
Wer die Vereinigten Staaten ein bißchen kennt, weiß, daß die (Links-)Liberalen in den USA mittlerweile einen schweren Stand haben. Die Bezeichnung „liberal“ war allerdings noch gegen Anfang der 70er Jahre, wie beispielsweise in dem bekannten Song von Phil Ochs, eine Beschimpfung von sozialistischen und anderen Linken gegen „inkonsequente“ Linksliberale. Heute dagegen wird mit dem Etikett „liberal“ von rechts alles denunziert, was nach „New Deal“ und anderem „linken Kram“ riecht. Vielleicht kannst Du noch ein bißchen mehr auf dieses Thema eingehen und die tieferen Ursachen und Entwicklungslinien dieser historischen Verschiebung nachzeichnen, die zu dem ziemlich durchschlagenden Erfolg dieses „Kulturkampfes“ gegen den Liberalismus geführt haben? Was war z.B. eher dafür ausschlaggebend, strukturelle Bedingungen oder doch eher politisch-strategische Überlegungen von konservativen Intellektuellen?
Ich habe vorhin die These formuliert, daß die makrosoziologischen und makropolitischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre den fruchtbaren Boden geschaffen haben, auf dem ein Kulturkampf gedeihen konnte. Gleichwohl möchte ich sagen, daß die unmittelbarere „Ursache” für den Kulturkampf zwischen den Liberalen und den Konservativen politischer Natur ist. Der Kulturkampf verkörpert eine unglaublich effektive politische Strategie der Republikaner, da er es ihnen möglich machte, verdrossene Industriearbeiter, “Südstaatler” und Mittelschichtswähler aus der Demokratischen Partei herauszubrechen, während man gleichzeitig eine neue Wählerbasis aus vormals apolitischen christlichen Fundamentalisten mobilisierte.
Ich möchte im Übrigen betonen, daß der Kulturkampf eine bewußte und gut vorbereitete politische Strategie war und keineswegs etwas, auf das die Republikaner durch Zufall stolperten. Der erste Schuß in diesem Kulturkampf fiel 1969, als US-Präsident Richard Nixon seine mittlerweile berühmt gewordene „Silent Majority Speech“ hielt, in der er verlautbarte, daß er keinen unmittelbaren Truppenabzug aus Vietnam durchführen werde, sondern dadurch „den Frieden zu gewinnen“ beabsichtigte, indem er die Strategie seines Vorgängers fortsetze, die auf einer auf Verhandlungen basierenden Einigung beruhte. Den Kontext der Rede bildete die starke Antikriegsbewegung, die sich gerade auf ihrem Höhepunkt befand. Nixon versuchte sich von dem Zorn der Bewegung abzuschirmen, indem er um die Unterstützung „der großen, schweigenden Mehrheit seiner amerikanischen Mitbürger“ bat.
Nixons Rede stieß eine umfassende Diskussion darüber an, ob es in den Vereinigten Staaten überhaupt keine schweigende Mehrheit mehr gebe, die im Gegensatz zu den in den Nachrichten allabendlich protestierend über den Bildschirm flimmernden Atheisten, Hippies, Wohlfahrtsbeziehern und Universitätsstudenten noch patriotisch gesinnt, familienorientiert, religiös und hartarbeitend sei. Der Kulturkampf beschleunigte sich in den 1980er Jahren mit der christlich-fundamentalistischen Welle, der die Reagan-Administration ebenfalls politische Akzeptanz verschaffte. Mit ihrem Angriff auf die liberalen Lehrplanreformen und ihren Forderungen nach einer Rückkehr zur „Grundausbildung“ trugen die Reaganites den Kulturkampf im Verlauf der 1980er Jahre auch in die Schulen und Universitäten. Die vorderste Front dieser Bewegung bildeten Figuren wie William Bennett, Reagans Bildungsminister, Lynn Cheney, die Frau des derzeitigen Vizepräsidenten, E.D. Hirsch und Diane Ravitch. Die Reaganites waren es auch, die die Angriffe auf die „liberalen Medien“ starteten, was eine besonders unangenehme Auswirkung auf den öffentlichen Diskurs hatte. Jedoch war es Patrick Buchanan, der in seiner 1992er Rede vor dem Parteitag der Republikanischen Partei die Vorstellung von einem „Kulturkampf“ erst richtig auf den Begriff brachte, als er im nationalen Fernsehen erklärte: „Diese Wahlen drehen sich um weitaus mehr als die Frage, wer was bekommt. Es geht um die Frage, wer wir sind. Es geht um die Frage, was wir glauben. Es geht um die Frage, für was wir als Amerikaner stehen. In unserem Land herrscht ein religiöser Krieg, bei dem es um die Seele Amerikas geht. Es ist ein Kulturkampf, der genauso große Auswirkungen auf die Gestalt, die unsere Nation einmal haben wird, hat, wie sie der Kalte Krieg selber hatte.“
Den Konservativen ist es sehr gut gelungen, die „Liberalen“ als außerhalb der Mitte der amerikanischen Gesellschaft stehend hinzustellen, sei es als ethnische Minoritäten, die eine gesonderte Behandlung wünschen, Immigranten mit seltsamen Sitten, Schwule und Lesben, Pornographieabhängige, arbeitslose Sozialleistungsbezieher, Drogenabhängige, zornige Feministinnen, feige Friedensfreunde, ausgebrannte Ex-Hippies oder Elfenbeinturmprofessoren. In einem solchen vergifteten Klima mag es nicht sonderlich wundern, daß der Begriff „liberal“ ein sehr negativ konnotiertes Attribut geworden ist. Jedoch gilt es anzumerken, daß (Links-)Liberale und andere progressive Kräfte häufig passiv und feige auf solche Angriffe reagiert haben. Für viele Leute waren die Präsidentschaftswahlen von 1988 diesbezüglich ein Wendepunkt, als George Herbert Walker Bush den Demokratischen Kandidaten einen „tax and spend Massachusetts liberal“ nannte, d.h. ihn als den absolut verachtenswertesten Typus von Liberalen beschimpfte! Hier, im Rahmen einer vom nationalen Fernsehen live übertragenen Debatte, vermasselte Dukakis eine ausgezeichnete Chance, indem er antwortete, daß es bei den Wahlen „nicht um Ideologie, sondern um Kompetenz“ ging. Anstatt die Situation zu nutzen und eine (links-)liberale Vision zu präsentieren, von der sich die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung hätte angesprochen fühlen können, leugnete Dukakis, ein Liberaler zu sein. Dem einfachen Amerikaner war dies eine starke Botschaft. Sie lautete: Wenn es sogar einem „Massachusetts Liberal“ wie er im Buche steht, der gleichzeitig noch der Standartenträger der Demokratischen Partei ist, peinlich ist zuzugeben, daß er ein Liberaler ist, dann muß schon eine Menge falsch daran sein, ein Liberaler zu sein.
Optionen der Linken
Du sprachst vorhin von Howard Dean, der in seinen Reden und Auftritten zu den Ausscheidungskämpfen um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten lange Zeit als der aussichtsreichste Kandidat erschien und tatsächlich eine Linkswende andeutete, zum einen, indem er durch seinen innovativen Internetwahlkampf auch eine Unmenge an Erstwählern oder jugendlichen Nichtwählern für seine Politik begeistern konnte, und zum anderen, da er durch seine Themenvorgaben eine Diskursverschiebung hin zur sozialen Frage denkbar werden ließ. So sprach er leidenschaftlich davon, daß es dieses Mal nicht um „God, Guns’n’Gays“ gehen würde, sondern um „Jobs, Education, and Health Care“. Ohne ihn wäre Kerrys zwischenzeitliches Umschwenken zu einem aggressiveren Ton gegenüber Bush und seine Zuwendung zu den Dean-Themen wohl nicht vorstellbar gewesen. Deshalb würde ich Dir gerne ein paar grundsätzliche Fragen bezüglich einer linken Strategie für die Vereinigten Staaten stellen, d.h. wie es Deiner Meinung nach gelingen kann, die amerikanischen subalternen Klassen wieder zum politischen Handeln zu bewegen. Aus vielerlei Gründen ist es den subalternen Klassen in den Vereinigten Staaten nie wirklich gelungen, einen politischen Arm zu entwickeln. Die amerikanische Linke hat deshalb immer vor der grundsätzlichen Entscheidung gestanden, sich entweder ihren Weg durch die Demokratische Partei zu bahnen und zu versuchen, diese mit dem notwendigen gesellschaftlichen Druck nach links zu verschieben, oder alternativ dazu eine dritte Partei zu gründen, wobei das grundsätzliche Problem der letzteren Fraktion darin besteht, daß man sich zum einen angesichts des amerikanischen Mehrheitswahlrechts über die vergleichsweise geringen Erfolgsaussichten eines solchen Unternehmens bewußt sein muß und man sich zum anderen auch zu vergegenwärtigen hat, daß die Konkurrenz mit der Demokratischen Partei zwangsläufig zunächst zu einer langjährigen Republikanerherrschaft führen würde. Zu welcher der beiden strategischen Überlegungen tendierst Du?
Es gibt für mich wenig Gründe zu glauben, daß es eine angemessene Strategie ist, sich durch die Demokratische Partei hindurchzuarbeiten, um eine politische Linke in den Vereinigten Staaten aufzubauen. Die Demokratische Partei ist ein intellektuell bankrotter Schatten der Republikanischen Partei.
Ich bin nicht der Auffassung, daß irgendeine politische Partei in den Vereinigten Staaten ihre Agenda oder ihre Wählerbasis jemals verschoben hat, wenn es dafür keinen Grund durch Druck von außen gab. Drittparteien haben in der amerikanischen Politik in dieser Hinsicht eine bedeutende Rolle gespielt, gerade weil sie Nichtwählerpotentiale und entfremdete Wähler (re)mobilisieren und neue Themen auf die nationale Agenda setzen. Wenn es den Drittparteien gelingt, sich für einen gewissen Zeitraum im Spiel zu halten, dann zwingen sie die beiden großen Parteien, sich an diese neuen Wählerschichten zu wenden und ihre Probleme und Themen aufzugreifen. Aus den gleichen Gründen sind auch soziale Bewegungen wichtig.
Wie Du schon angesprochen hast, gibt es eine fortwährende Auseinandersetzung über die Frage, wie es die amerikanische Linke mit einem Kandidaten und einer Partei hält, die versprachen, den Irakkrieg zu gewinnen und die – genau wie die Bush-Regierung – international den Freihandel propagieren. Diese Debatte wird übrigens mit jeder vorbeigegangenen Wahl immer heftiger ausgefochten. Es gibt eine Menge Leute, die der Demokratischen Partei den Rücken gekehrt haben und ihre Hoffnungen auf den Aufbau einer nationalen Grünen Partei setzen. 2004 kollabierte diese Strategie im Rahmen der Kampagnen, in denen das Motto „beat Bush at any cost“ zentral war. Die „grüne“ Fraktion ist in Wirklichkeit eine unentwickelte und formlose Ansammlung von Libertären, alten und neuen Linken, desillusionierten Liberalen, übriggebliebenen Hippies, Feministinnen, ausgebrannten Intellektuellen und Arbeiterradikalen, die im Grunde genommen nur sehr wenig miteinander verbindet und die sich nur auf wenig wirklich einigen können. Howard Dean war der klare Wunschkandidat derjenigen, die versuchen, die Demokratische Partei nach links zu bewegen. Das Unternehmen kann man sich aber abschminken. Bereits jetzt hört man nach der Niederlage Kerrys die übliche Litanei über die Notwendigkeit zur Gewinnung von konservativen Wählerschichten im Süden und anderswo, die Demokratische Partei „weiter ins Zentrum“ zu rücken, was in Wirklichkeit natürlich nichts anderes als weiter nach rechts bedeutet. Die Demokraten befinden sich somit in eben dem Teufelskreis, der aus einer ständigen Rechtsbewegung und ständigen Wahlniederlagen besteht. Verlieren sie eine Wahl, rücken sie nach rechts, verlieren sie weiter, rücken sie nur noch weiter nach rechts.
Denkst Du, daß ein so widersprüchliches Konglomerat wie es die „Grüne Partei” zu sein scheint, wirklich über das Potential verfügt, die arbeitenden Klassen zu integrieren. Kannst Du etwas zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der amerikanischen Grünen im Vergleich zur Grünen Partei in Deutschland sagen. Gibt es eine objektive Funktion der amerikanischen Grünen Partei, mit der sie sich von den europäischen Grünen unterscheidet?
Ungeachtet ihrer betrüblichen Vorstellung in den Präsidentschaftswahlen von 2004 – sie erhielten rund ein Prozent der abgegebenen Stimmen – ist die Green Party noch die beste existierende Chance für ein Revival der amerikanischen Linken. Zumindest könnte sie noch am ehesten zu einer Bewegung heranwachsen, die die Demokratische Partei von außen unter Druck setzt. Die „Schlüsselwerte“, die sich in der Plattform der Grünen Partei Amerikas durchgesetzt haben, sind Basisdemokratie, Chancengleichheit, Ökologie, Gewaltlosigkeit, Dezentralisierung, kommunal-basiertes Wirtschaften, Geschlechtergerechtigkeit, Vielfaltsrespekt, ein global verantwortliches Handeln und eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete ökonomische Entwicklung.
Auf der politischen Seite versucht die Grüne Partei eine Demokratisierung Amerikas voranzutreiben, die sich auf die Pfeiler Reform des Wahlkampagnenfinanzierungsgesetz, den freien Zugang zur politischen Presse, ein Listenwahlrecht mit proportionaler Repräsentation und die Abschaffung des Wahlmännersystems stützt. Welcher echte Amerikaner könnte schon etwas gegen Demokratie haben? Auf der ökonomischen Seite unterstützt die Green Party den Erlaß von Gesetzen zum Schutze von Familien, die den Zugang zu wesentlichen Dienstleistungen im Bereich der Ernährung, der Ausbildung und der medizinischen Versorgung, staatlich finanzierte Tagesbetreuungen, den Erlaß von Living-Wage-Gesetzen für Familien und eine umfassende Sozialversicherung einschließen sollen. Der Tenor ist: „Wenn uns in Amerika die Familie – in welcher Form auch immer – doch so wichtig ist, dann sollten wir die soziale und ökonomische Infrastruktur bereitstellen, auf deren Grundlage es überhaupt möglich ist, eine Familie zu ernähren, in der die Kinder abgesichert, gesund, glücklich und gut ausgebildet sind.“ Kurzum, die Grüne Partei Amerikas versucht, das nationale Steuersystem wieder nach Progressivitätsmaßstäben auszurichten und die staatlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheitsfürsorge, Tagesbetreuung und Versorgungsprogramme mit Nahrungsmitteln zu erhöhen. Außenpolitisch führt die Grüne Partei Amerikas ein tiefgründiges Argument an: Verträge mit anderen Ländern sind gemäß der US-Verfassung für die Vereinigten Staaten rechtlich bindend. Folgerichtig müsse die UN-Charta als verfassungsrechtlich verpflichtend angesehen werden. Was andere wirtschaftspolitische Vorhaben anbelangt, unterstützt die Grüne Partei alle möglichen Formen der Arbeitnehmerkontrolle von Eigentum (Arbeitnehmerfonds etc.) und Initiativen zur Arbeitsplatzsdemokratisierung sowie die Stärkung von Arbeitnehmerrechten und gewerkschaftlicher Absicherung. Sie unterstützt desweiteren die Erhebung der Tobin-Steuer auf grenzüberschreitende Währungstransaktionen und die Neuverhandlung der Handelsabkommen, damit der Schutz von Arbeitnehmern und der Umwelt Aufnahme in diese Vertragswerke bekommen. Hat nun eine solche Plattform Aussichten auf Erfolg in den Vereinigten Staaten? Tatsächlich ist sie mit traditionellen amerikanischen Werten durch und durch kompatibel, jedoch bedarf es sicherlich eines charismatischen Kandidaten von der Erhabenheit eines Eugene Debs oder William Jennings Bryan. Mir ist ein solcher in der letzten Zeit noch nicht untergekommen, zumindest nicht auf der Linken. Ralph Nader ist mit Sicherheit keine Antwort.
Die amerikanische Außenpolitik
Wenden wir uns jetzt den Konsequenzen des Wahlerfolgs von Bush auf die Außenpolitik zu. Was denkst Du, wie sich das amerikanische Imperium in Zukunft verhalten wird? Werden wir es mit einem verschärften Unilateralismus zu tun haben und einem noch verstärkten Einsatz von hard power? Werden durch den sowohl zeitlich als auch räumlich grenzenlosem Krieg, den die Sicherheitsstrategie der Bush-Regierung postuliert hat, womöglich irreversible Dynamiken in Gang gesetzt? Und wie steht es um die Artikulation von Widersprüchen hinsichtlich einer solchen Politik?
Ich denke, daß Bush mit dem Festhalten an Donald Rumsfeld als Verteidigungsminister und dem Einsetzen von Condoleezza Rice als Außenministerin der Vereinigten Staaten Europa und der Welt eine ziemlich klare Botschaft gesandt hat, was seine Pläne für die nächsten vier Jahre sind. Wahrscheinlich kennst Du den Ausspruch von Rice: „Frankreich bestrafen, Deutschland ignorieren und Rußland verzeihen.”
Hinsichtlich der Ausweitung des amerikanischen Einflusses in Zentral- und Lateinamerika ist meiner Meinung nach folgendes zu sagen: Die FTAA ist in technischer Hinsicht momentan auf Eis gelegt, da sie in den letzten Verhandlungen durch Brasilien und Argentinien hinausgezögert worden ist. In praktischer Hinsicht jedoch ist die gesamtamerikanische Freihandelszone bereits heute Realität. Gleichwohl Chile kein unmittelbares Mitglied der NAFTA geworden ist, existieren individuelle NAFTA-ähnliche Freihandelsabkommen Chiles mit Mexiko, Kanada und den Vereinigten Staaten. Den Karibischen Inselstaaten gewährte man schon 2000 ein faktisches NAFTA-Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, und die Zentralamerikanische Wirtschaftszone vereinbarte im letzten Jahr kollektiv einen Freihandelsvertrag mit den USA. In diesem Sinne erreichen die Vereinigten Staaten die FTAA durch die Hintertür einer Patchworkdiplomatie mit den interessierten Ländern. In praktischer Hinsicht befinden sich somit momentan weniger als 15% der Ökonomien in der westlichen Hemisphäre nicht in einem de facto Freihandelsabkommen.
Argentinien und Brasilien versuchen über den Mercosur ein lateinamerikanisches Gegengewicht zur NAFTA und FTAA aufzubauen, aber als eine Handelszone hat sie versagt, da sie zum einen lediglich Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay einschließt und zum anderen sowohl Brasilien als auch Argentinien diesen integrierten Raum permanent manipulieren und sabotieren, indem sie versuchen, den jeweils anderen auszubooten, um die Vormachtstellung in der Region zu erringen.
Heißt das, daß es außenpolitisch kein Gegengewicht zur USA gibt? Was hältst Du denjenigen entgegen, die den zunehmenden Einsatz von militärischen Machtmitteln als ein Anzeichen von Schwäche und einer „imperialen Überdehnung“ halten?
Die Vereinigten Staaten wurden schon vor dem 11. September und der späteren Invasion in den Irak als ein Imperium beschrieben. Jedoch glaube ich, daß die imperiale Macht der Vereinigten Staaten bis zum 11. September 2001 oft eher als soft power wahrgenommen wurde, die sich in die internationalen und multinationalen Institutionen einbinden ließe. Es gab bei vielen Nationen eine Bereitschaft, diese Macht solange zu tolerieren, sofern die Vereinigten Staaten den Weltpolizisten stets im Konsens mit der internationalen Gemeinschaft spielten. Wir sollten nicht vergessen, daß Bill Clinton der Präsident mit den historisch meisten ausländischen Militäraktionen außerhalb eines großen Krieges war.
Die Bush-Administration hat diesen guten Willen ohne Zweifel verspielt. Darüber hinaus wird man in den USA mittlerweile gewahr, daß es trotz der Tatsache, daßß man mehr Geld für seine militärischen Kräfte ausgibt als der Rest der Welt zusammengenommen, es immer noch schwierig ist, Militäroperationen in Übersee ohne die logistische Unterstützung von Alliierten aufrecht zu erhalten. Wesley Clark, der US-amerikanische General und ehemalige Oberste NATO-Kommandeur, hat angemerkt, daß 90% der US-amerikanischen Militärpotentiale mittlerweile an den Irak usw. usf. gebunden sind und im Falle eines neuen militärischen „Notfalls“ nicht in der Lage sein würden zu reagieren. Der Kommandeur der US-Reservearmee hat die bestehenden Truppen als eine „gebrochene Kraft“ bezeichnet, weshalb viele Kongressangehörige mittlerweile nach einer Wiedereinführung der Wehrpflicht verlangen. Ohne Zweifel befinden sich die Vereinigten Staaten am Rande einer imperialen Überforderung (imperial overreach) – und die Amerikaner werden sich einer solchen Gefahr allmählich bewußt.
Europa sehe ich in der internationalen Politik im Moment allerdings nicht als Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten, und zwar aus dem einfachen Grund, daß es den Europäern weder gelungen ist, einen außenpolitischen Konsens zu schmieden, noch eine glaubwürdige europäische „Verteidigungsarmee“ aufzubauen. Die Bush-Regierung hat die Europäische Union in der Irak-Diskussion ziemlich erfolgreich gespalten und Frankreich und Deutschland isoliert.
Wenden wir uns vor dem Hintergrund der außenpolitischen Entwicklung noch einmal genauer den innenpolitischen Verhältnissen zu. Wenn wir davon ausgehen, daß man den Imperialismus als die „externe Absicherung eines internen Regimes“ – sowohl ökonomisch, politisch als auch ideologisch – verstehen kann, was sind dann Deiner Meinung nach die weiteren innenpolitischen Konsequenzen des Wahlsiegs von Bush? Welche Auswirkungen hat der äußere Krieg nach innen? Und wie wird sich das neokonservative Projekt im Allgemeinen und ganz konkret die neue Zusammensetzung des Supreme Court auf die amerikanische Gesellschaft auswirken?
Es scheint mir fast sicher, daß Bush in den nächsten vier Jahren die Möglichkeit haben wird, sogar noch weitere konservative Richter in den ohnehin schon konservativen Supreme Court zu berufen. Damit wird für mindestens zwanzig weitere Jahre eine konservative Hegemonie in der Rechtsprechung festgeschrieben werden. Mich würde es tatsächlich nicht wundern, wenn die Abtreibungsrechte eingeschränkt oder stark beschnitten würden. Darüber hinaus werden wir sehr wahrscheinlich Zeugen eines Prozesses werden, in dem die Belange der nationalen Sicherheit sich über die Zivilrechte und den Schutz der Privatsphäre hinwegsetzen werden. Die Affirmative-Action-Gesetzgebung und andere „rassenbasierte“ Politiken werden wahrscheinlich unter Beschuß geraten oder abgeschafft werden. Außerdem wird es eine höhere Akzeptanz für Verflechtungstendenzen von Staat und Religion geben.
Widersprüche in der Bush-Agenda
Bergen solche scharfen Maßnahmen nicht auch ein gehöriges Maß an Konfliktpotentialen. Ist es nicht denkbar, daß die von dir antizipierten Maßnahmen der Bush-Regierung auf Widerspruch und Ablehnung stoßen?
Natürlich gibt es ökonomische, politische und ideologische Widersprüche in der Bush-Agenda und der ihr zugrunde liegenden politischen Koalition. Fangen wir mit den ökonomischen Widersprüchen an. Unter normalen Umständen hätte die allgemeine Wirtschaftslage in den USA eine Niederlage Bushs garantiert. Bis vor ganz kurzer Zeit vernichtete die US-Wirtschaft noch zahlreiche Beschäftigungsverhältnisse, obwohl wir uns seit 38 Monaten in der sogenannten Aufwärtsphase des Konjunkturzyklus befinden. Das US-Handelsdefizit wächst immer noch weiter und das trotz eines vergleichsweise schwachen Dollars. Das US-Haushaltsdefizit hat mittlerweile historische Auswüchse erreicht. Es liegt gegenwärtig bei 450 Milliarden US-Dollar. Das entspricht einem Level, das es den Vereinigten Staaten verbieten würde, sich für eine Aufnahme in den europäischen Binnenmarkt zu bewerben. Langfristig wird das Defizit die Inflation und wachsende Zinssätze anheizen, was wiederum Einfluß auf die Schulden der Privathaushalte, die sich auch auf einem historischen Hoch befinden, haben wird. Die Arbeitnehmer verlieren ihre privaten Alterssicherungen und die Arbeitgeber werden bei den Gesundheitszuzahlungen für ihre Angestellten Abstriche machen, während die sozialen Sicherungssysteme am Rand einer tiefen Krise stehen. Die individuellen Insolvenzen steigen und das trotz einer sich „erholenden“ Wirtschaft, wobei die meisten Amerikaner eine Entlassung oder einen Krankheitsausfall von einem finanziellen Desaster entfernt sind. In letzter Instanz, werden sich diese Faktoren als entscheidend entpuppen. Man dürfte eigentlich annehmen, daß ein cleverer politischer Kandidat seine Anti-Bush-Plattform auf diesen Fakten aufbauen würde anstatt der nächste Oberbefehlshaber der US-Truppen werden zu wollen. Wenigstens liegt die Zustimmungsrate für Bush just in diesem Moment bei nur 49%. Das ist die niedrigste für einen Präsidenten mit einer zweiten Amtszeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Politisch haben wir schon beobachten können, wie die internationalen Widersprüche die westliche Allianz gespalten haben, und es sieht kurzfristig nicht so aus, als ob dieser Bruch gekittet werden könnte. Innenpolitisch liegt für die regierende Republikaner-Koalition das Problem darin, daß die meisten Mitglieder der Elite-Parteiführung, das kapitalistische Zentrum der Republikanischen Partei, sehr misstrauisch auf den religiösen Messianismus und die Politik mit den Massen reagiert. Sie sind an stabilen Profiten und gesicherten Investitionen unter der Ägide internationaler Körperschaften wie der WTO interessiert. Die zentrale Führungsfraktion der Partei ist viel zu stark in die Weltwirtschaft involviert, als daß sie die Dinge auf unbestimmte Zeit aus dem Ruder laufen lassen würde und zu einem gegebenen Zeitpunkt werden sie sich auch zu einer Bremse der messianischen Wucht machen. Darüber hinaus scheint es auch Anzeichen zu geben, daß das Fourth Great Awakening, wie alle vorherigen, allmählich aus Erschöpfung abflaut.
Ein weiteres Thema ist die Sache mit dem Patriot Act und dem Supreme Court. Wenn es um ihre zivilen Freiheiten geht, dann verhalten sich die Amerikaner in letzter Instanz sehr behütend, und ungeachtet ihres moralischen Konservatismus sind sie im Allgemeinen tolerant gegenüber Verhaltensweisen, die nicht mit dem Mainstream übereinstimmen, solange sie nicht direkt mit ihnen konfrontiert werden. Der Patriot Act ist sehr unpopulär, und ich glaube auch, daß ein ultrakonservativer Supreme Court eine zivilgesellschaftliche Reaktion hervorrufen wird, wenn er sich zu schnell und zu entschieden daran macht, das Recht auf Abtreibung und Bürgerrechte wie das Recht auf den Schutz der Privatsphäre, die freie Meinungsäußerung und das Versammlungsrecht einzuschränken. Die jüngeren Leute sind darüber hinaus zunehmend über die Gesetzesvorschläge besorgt, die Wehrpflicht wiedereinzuführen.
Zu guter Letzt stehen die ganz normalen Amerikaner zwar hinter „ihren“ Truppen im Ausland, doch gibt es keinen Zweifel daran, daß sie mittlerweile verstanden haben, daß die Begründungen für den Einmarsch in den Irak erfunden waren. Es gab keine Massenvernichtungswaffen im Irak und es gab auch nie eine Verbindung zwischen Saddam Hussein und Al Qaida. Das moralische Dilemma besteht für die meisten Amerikaner nun darin, wie man unsere militärischen Kräfte aus dem Irak abziehen kann ohne der irakischen Bevölkerung ein komplettes Desaster zu hinterlassen – wenn das überhaupt geht. Wie dem auch sei: Ich denke, daß die Erfahrung mit dem Irak in der amerikanischen Öffentlichkeit nur wenig Sehnsucht nach imperialen Kriegen diesen Typs hinterlassen hat, doch sei man in Europa davor gewarnt, das als ein Nachlassen ihres Fanatismus im Krieg gegen den Terrorismus mißzuverstehen. Auf der ideologischen Ebene sehe ich allerdings immer noch keine wesentlichen Fortschritte der Intellektuellen, den hegemonialen neokonservativen Diskurs außerhalb der Seminarräume der Universitäten zu brechen. Ich glaube nicht, daß es für Intellektuelle unbedingt erforderlich ist, wie Jean-Paul Sartre auf der Straße zu stehen und Flugblätter zu verteilen, dennoch sollten sie zumindest Kolumnen für Zeitungen und Artikel für populäre Zeitschriften schreiben, im Fernsehen und in Radiotalkshows oder Newscasts auftreten und dabei Bücher schreiben, die die einfachen Leute auch verstehen können. Die Neokonservativen haben in den USA eine große Anzahl von anerkannten öffentlichen Intellektuellen produziert, deshalb empört es mich immer noch, mit welchem Widerwillen meine Kollegen dem Gedanken begegnen, sich doch mal von links in den öffentlichen Diskurs einzuschalten. Eine Repolitisierung oder einen Ausweg aus der Fragmentierung sehe ich bei der Linken wirklich nicht. Das hat es in den letzten hundert Jahren nicht gegeben. Warum sollte das gerade heute der Fall sein?
Was bleibt der amerikanischen Linken, um aus ihrer mißlichen Lage herauszukommen? Stellst Du einen Antrag auf die kanadische Staatsbürgerschaft?
Zu Frage Eins: Welche amerikanische Linke? Zu Frage Zwei: Nein. Ich hasse Kälte. Ibiza ist eine viel attraktivere Alternative.