Die Herausgabe des literarischen Nachlasses von Karl Marx und Friedrich Engels macht Fortschritte.[1] Dieses literarische Erbe ist so umfangreich, dass seine Veröffentlichung selbst nach der Reduzierung im Jahre 1992 in der Gesamtausgabe noch 114 Bände in 123 Teilbänden umfassen soll.[2]
Den verschiedenen Formen des literarischen Schaffens in der 1975 begonnenen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) entsprechen die vier Abteilungen, in denen ihre Bände erscheinen. Die erste Abteilung enthält Werke, Artikel und Entwürfe; die zweite „Das Kapital“ und Vorarbeiten[3]; die dritte den Briefwechsel[4] und die vierte Exzerpte, Notizen und Marginalien.[5]
Bilanz der bisherigen MEGA-Edition
Von der ersten Abteilung existieren bisher 16 Bände aus verschiedenen Schaffensperioden. In gewisser Weise liegt mit dem Marx-Engels-Jahrbuch 2003, nach den Editionsrichtlinien der MEGA bearbeitet, ein Teil des Bandes 5 vor, der die Dokumente zu „Die deutsche Ideologie“ von 1845/1846 enthalten wird.[6] Von der zweiten Abteilung gibt es bisher die Bände 1-10, 14 und 15, wobei der Band 1 in zwei, der Band 3 in sechs und der Band 4 (bisher) in zwei Teilen erschienen ist, d.h. 12 Bände (in 19 Teilbänden). Von der dritten Abteilung existieren mit den Bänden 1-10 und 13 11 Bände, die die Briefe von 1837 bis Mai 1860 und Oktober 1864 bis Dezember 1865 umfassen. Von der vierten Abteilung liegen die Bände 1-4, 6-9, 31 und 32, also 10 Bände vor. Das heißt, es gibt jetzt 50 Bände bzw. 57 Teilbände der MEGA. Im Unterschied zu bisherigen Marx-Engels-Editionen sind in der MEGA der edierte Text und der wissenschaftliche Apparat gesondert gebunden (so dass man beide „parallel“ nutzen kann); man braucht also bisher fast 4 „laufende Meter“ Regale für die 57 Text- und 56 Apparatbände[7]. Diese 113 blauen Bände findet man in allen einigermaßen größeren Bibliotheken und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen der bewohnten Erde, die auf ihren guten wissenschaftlichen Ruf bedacht sind; in ihnen (nicht zu unterschätzen die umfangreichen wissenschaftlichen Apparate!) spiegelt sich die deutsche, europäische und allgemeine Geschichte, insbesondere die Sozial- und Geistesgeschichte vor allem des 19. Jahrhunderts, in einzigartiger Weise wider und sie stellen eine Fundgrube für zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen dar.
Bearbeiter und Benutzer können also noch nicht das „Bergfest“ der MEGA begehen; dazu müssten 57 Bände erschienen sein. Die dazu fehlenden Bände befinden sich derzeit in verschiedensten Städten mehrerer Länder in Bearbeitung und könnten in etwa fünf Jahren das Licht der Welt erblickt haben.
Band II/15 im Rahmen der MEGA
110 Jahre nach der Veröffentlichung seines Originals im Dezember 2004 erschien Band II/15 der MEGA, in dem der von Engels 1894 herausgegebene dritte Band des Marxschen „Kapital“ gemäß den Editionsrichtlinien der MEGA bearbeitet wurde. Er enthält das dritte Buch „Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion“ des Marxschen Hauptwerkes (der Text von Marx bzw. Engels umfasst 859 MEGA-Seiten). Für die wissenschaftliche Nutzung dieses Bandes sollte unbedingt der ihm vorangehende Band II/14 herangezogen werden, der zum ersten Mal die Manuskripte und redaktionelle Texte zum dritten Buch des „Kapital“ von 1871 bis 1895 bietet und 2003 erschienen ist (1138 Seiten).
Der vorliegende Band schließt die Zweite Abteilung der MEGA „‘Das Kapital‘ und Vorarbeiten“ ab, die nicht nur eine unmittelbare Fortsetzung der I. Abteilung, sondern gewissermaßen eine spezifische Form der Edition von Entwürfen und Werken, nämlich von Manuskripten und Fassungen des Hauptwerkes darstellt, welches Karl Marx und Friedrich Engels seit Ende 1843, speziell 1857, erarbeitet bzw. herausgegeben haben. Vor allem durch die darin enthaltenen Untersuchungen wesentlicher ökonomischer Zusammenhänge menschlicher Gesellschaftszustände hat das Schaffen besonders von Marx seit den 1870er Jahren Eingang in die Wissenschaft gefunden.
Der vorliegende Band enthält die erste deutsche Auflage des dritten Buches von Marx’ „Kritik der politischen Ökonomie“, das den „Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion“ (S. 29.1-2) bzw. den „Bewegungsprozeß des Kapitals, als Ganzes betrachtet“, (S. 30.2-3) behandeln sollte. Die entsprechenden Manuskripte wurden nach Marx‘ Tod von Engels bearbeitet, mit einem Vorwort versehen (siehe S. 5-23) und 1894 im Hamburger Verlag von Otto Meißner als dritter Band des Hauptwerkes „Das Kapital“ in zwei Teilen herausgegeben.
Neu an der vorliegenden Edition des dritten Bandes des Marxschen „Kapital“, welche die Erkenntnisse vorangegangener Editionen auswertet (siehe Verzeichnis der im Apparat ausgewerteten Quellen und der benutzten Literatur), ist vor allem die Tatsache, dass sie sich auf Forschungsergebnisse aller Bände der Abteilung „‘Das Kapital’ und Vorarbeiten“ der MEGA, insbesondere der Bände II/4.2, II/4.3[8] und II/14, stützt.
Durch die lückenlose Veröffentlichung dieses Teils des literarischen Nachlasses von Marx und Engels ist der Benutzer zum ersten Mal in die Lage versetzt, die historische Entwicklung und das Reifen des „Kapital“ von der ersten Skizze bis zur Fassung letzter Hand, soweit diesbezügliches Material überliefert ist, nachvollziehen zu können.
Zur Erleichterung der historisch-kritischen Nutzung, vor allem des Vergleichs der von Marx zum dritten Buch „Die Gestaltungen des Gesammtprozesses“ (siehe MEGA II/4.2. S. 7) hinterlassenen Manuskripte mit der von Engels 1894 herausgegebenen Druckfassung des dritten Bandes, wird dem Benutzer ein spezielles Verzeichnis angeboten. Die Bearbeiter hatten ursprünglich vor, dem vorliegenden Band nach dem Vorbild der Bände II/6, II/8 und II/10 der MEGA ein Variantenverzeichnis beizugeben, in dem alle Veränderungen der von Engels 1894 herausgegebenen Druckfassung des dritten Bandes des „Kapital“ im Vergleich zu den entsprechenden Marxschen Manuskripten abgedruckt sind. Ein derartiges Probestück zu 110 Seiten Drucktext umfasste 390 Manuskriptseiten Variantenverzeichnis der genannten Art. Ein solches Variantenverzeichnis für den gesamten Band II/15 hätte etwa 2000 MEGA-Seiten in Anspruch genommen. Es hätte zeilen- oder absatzweise einen Zweitabdruck des größten Teils des Textes des Marxschen „Hauptmanuskripts“ von 1864/65 (MEGA-Band II/4.2) mit zahllosen Unterbrechungen dargestellt.
Bei einem großen Teil dieser mitgeteilten Veränderungen handelt es sich um von Engels vorgenommene Übersetzungen der im Marxschen Manuskript enthaltenen fremdsprachigen Passagen und Auszüge ins Deutsche (siehe die einschlägigen Erläuterungen im vorliegenden Band). Ein derartiges Verzeichnis hätte also auch eine Unterschätzung des einschlägig interessierten MEGA-Benutzers dargestellt, der nun selbst die Bände II/4.2, II/14 und II/15 unter den ihn interessierenden Blickwinkeln vergleichen kann.
Verteilung des Mehrwertes, Konkurrenz, Gesamtprozess des Kapitals – worum geht es im „dritten Buch“?
Hinsichtlich der erwähnten Tatsache, dass der vorliegende Band die „Kapital“-Abteilung der MEGA abschließt, sei auf Marx’ eigene kurze Darstellung über den logischen Platz des dritten Buches verwiesen, die sich am Beginn des ersten Kapitels befindet: „Im ersten Buch wurden die Erscheinungen untersucht, die der kapitalistische Produktionsproceß, für sich genommen, darbietet, als unmittelbarer Produktionsproceß, bei dem noch von allen sekundären Einwirkungen ihm fremder Umstände abgesehn wurde. Aber dieser unmittelbare Produktionsproceß erschöpft nicht den Lebenslauf des Kapitals. Er wird in der wirklichen Welt ergänzt durch den Cirkulationsproceß, und dieser bildete den Gegenstand der Untersuchungen des zweiten Buchs. Hier zeigte sich, namentlich im dritten Abschnitt, bei Betrachtung des Cirkulationsprocesses als der Vermittlung des gesellschaftlichen Reproduktionsprocesses, daß der kapitalistische Produktionsproceß, im Ganzen betrachtet, Einheit von Produktions- und Cirkulationsproceß ist. Worum es sich in diesem dritten Buch handelt, kann nicht sein, allgemeine Reflexionen über diese Einheit anzustellen. Es gilt vielmehr, die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, welche aus dem Bewegungsproceß des Kapitals, als Ganzes betrachtet, hervorwachsen. In ihrer wirklichen Bewegung treten sich die Kapitale in solchen konkreten Formen gegenüber, für die die Gestalt des Kapitals im unmittelbaren Productionsproceß, wie seine Gestalt im Cirkulationsproceß, nur als besondere Momente erscheinen. Die Gestaltungen des Kapitals, wie wir sie in diesem Buch entwickeln, nähern sich also schritt||2|weis der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft, in der Aktion der verschiedenen Kapitale auf einander, der Konkurrenz, und im gewöhnlichen Bewußtsein der Produktionsagenten selbst auftreten.“ (S. 29/30.)
Engels’ kurze Inhaltsangabe kann man aus einer Anzeige des Verlegers Otto Meißner entnehmen, die im Leipziger „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“ erschienen ist. Aus einem Brief Karl Kautskys an Engels vom 14. November 1894 geht hervor, dass letzterer einen Prospekt zum dritten Band erarbeitet hatte. Der Prospekt – ein Exemplar konnte bisher nicht gefunden werden – enthielt wahrscheinlich eine kurze Darstellung des Inhalts, die Inhaltsverzeichnisse der beiden Teile des Bandes (ohne Seitenangaben) und eine Buchhändlerannonce mit Angabe der Lieferbedingungen. Man vergleiche als Indiz für diese Behauptung auch die Publikation „Das Grundwerk des wissenschaftlichen Sozialismus“ in Nr. 266 des Berliner „Vorwärts“ vom 14. November 1894.
Engels’ kurze Darstellung des Inhalts lautete: „Dieses dritte Buch des Marxschen Hauptwerks bildet den Abschluss des theoretischen Theils. Das erste Buch behandelte den Produktionsprozess, das zweite den Cirkulationsprozess des Kapitals. Nachdem somit die beiden Hauptfunktionen, worin das Kapital sich bethätigt, jede einzeln und für sich in ihren Bedingungen, ihrem Verlauf und ihren Resultaten untersucht, geht der Verfasser im dritten Buch über zur Darstellung des Gesamtverlaufs des kapitalistischen Bewegungsprozesses, der beide Phasen, Produktion und Cirkulation, als seine Momente einschliesst. Wenn das erste Buch entwickelte, wie der Mehrwert produziert wird, und das zweite wie er realisiert wird, so weist uns das dritte nach, wie er verteilt wird. Es ist gerade die Spaltung des Mehrwerts in seine einzelnen Unterabteilungen: industrieller Profit, Handelsgewinn, Zins, Grundrente und deren Aneignung durch die verschiedenen Interessenten, worin die Gesamtbewegung des Kapitals augenfällig und als entscheidende Macht an die Oberfläche der Gesellschaft tritt. Die Gesetze dieser Spaltung und Verteilung unter Industrielle, Warenhändler, Geldhändler, Kredithändler, Spekulanten, Grundeigentümer werden hier vom Verfasser im einzelnen nachgewiesen ...“ (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige. Nr. 265, 14. November 1894, S. 7208/7209.)
Marx ging es – im Unterschied zu den Büchern I und II – im dritten Buch nicht mehr um die kapitalistische Produktion als vereinzelten Vorgang und den Reproduktionsprozess des einzelnen Kapitals, sondern hauptsächlich um die Bewegung des Gesamtkapitals, die aus der Bewegung der ineinander verschlungenen, sich voraussetzenden und bedingenden individuellen Kapital resultiert.[9]
Jedes individuelle Kapital kann sich nur als Element des Gesamtkapitals verwerten, und auch das nur unter bestimmten wertmäßigen und notwendigen stofflichen Bedingungen. Diese sind der Realisierung des Gesamtkapitals einer Gesellschaft vorausgesetzt. Im ersten Buch, so konstatierte Marx, hatte er sich mit der Annahme begnügt, „daß, wenn im Verwertungsprozeß aus 100 £ 110 werden, diese die Elemente, worin sie sich von neuem umsetzen, auf dem Markt vorfinden. Jetzt aber untersuchen wir die Bedingungen dieses Vorfindens, also die gesellschaftliche Verschlingung der verschiednen Kapitale, Kapitalteile und der Revenue (=m) miteinander.“ (Marx an Engels, 30. April 1868.)
In den beiden ersten Büchern – worin sozusagen das Kapital in seinem „innern organischen Leben“ dargestellt worden war (siehe S. 47.1) – hatte Marx die Beziehungen der Kapitale in der Konkurrenz unberücksichtigt gelassen. Das dritte Buch widmet sich nun in spezifischer Weise der kapitalistischen Konkurrenz, die sozusagen zu den „auswärtigen Lebensverhältnissen“ gehört (siehe ebenda), dem Distributionskampf der Kapitale um den aus der Lohnarbeit gewonnenen Mehrwert.
Buch III (Verteilung und Konsumtion des erzeugten und realisierten Mehrwertes) stellt also einerseits die Fortsetzung der Bücher I (Erzeugung des Mehrwertes) und II (Realisierung des erzeugten Mehrwertes) des „Kapital“ dar und bietet andererseits auf dieser Materialgrundlage vor allem im 7. Abschnitt „Die Revenuen und ihren Quellen“ (siehe S. 787-859) eine Gesamtsicht bzw. Zusammenschau, eine Analyse auf höherem Niveau, die gewissermaßen auf Schlussfolgerungen am Ende des ersten Buchs (siehe MEGA II/5. S. 608-610) zurückgegriffen hätte, wenn sie vollendet worden wäre (siehe S. 859; siehe auch MEGA II/4.2. S. 315.7-316.12).
Für Engels, der nach der Bearbeitung des zweiten Buches bzw. Bandes des „Kapital“ für den Druck (siehe MEGA II/14) ab Frühjahr 1885 das Manuskript zum dritten Buch bzw. Band für die Veröffentlichung vorbereitete, war es kaum fassbar, wie Marx, der solche gewaltigen Entdeckungen, solch eine umfassende und vollständige wissenschaftliche Revolution im Kopf hatte, sie 20 Jahre bei sich behalten konnte; das Manuskript zum dritten Buch sei etwa gleichzeitig mit dem ersten geschrieben worden, und der wesentliche Teil davon sei bereits in dem alten Manuskript von 1860/62 enthalten (siehe Engels an Laura Lafargue, 8. März 1885; siehe auch MEGA II/3.5, II/4.2.). Am 2. April 1885 schrieb Engels an Johann Philipp Becker: „Dieser dritte [Band], der die abschließenden Resultate enthält, und zwar ganz brillante Sachen, wird die ganze Ökonomie endgültig umwälzen und enormen Lärm machen.“ Zwei Tage später schrieb er an August Bebel: „Diese Umwälzung der alten Ökonomie ist wirklich unerhört. Erst hierdurch erhält unsre Theorie eine unerschütterliche Basis und werden wir befähigt, nach allen Seiten siegreich Front zu machen. Sowie das erscheint, wird auch die Spießbürgerei in der Partei wieder einen Schlag bekommen, woran sie denken wird. Denn damit treten die ökonomischen Generalfragen wieder in den Vordergrund der Debatte.“ Der dritte Band sei der abschließende und krönende und werde den ersten noch in den Schatten stellen, schrieb Engels am 23. April 1885 an Nikolaj Francevic Daniel’son. Im Unterschied zum zweiten, der nicht viel Agitatorisches enthalte, werde der dritte Band „wieder wie ein Donnerschlag wirken, weil da die ganze kapitalistische Produktion erst im Zusammenhang behandelt und die ganze offizielle bürgerliche Ökonomie über den Haufen geworfen wird“, schrieb Engels am 3. Juni 1885 an Friedrich Adolph Sorge.
Für die deutschen Kathedersozialisten werde der zweite Band des „Kapital“ immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben; der dritte Band werde sie jedoch zwingen, Rede zu stehen, schrieb Engels am 13. November 1885 an Daniel’son. Für das Verständnis des Ganzen sei es am besten, die Hauptsachen aus dem ersten Band nochmals zu lesen. Aus dem dritten seien die Kapitel 1-4, 8-10, 13-27, 29, 33-38 und 44-52 sehr wichtig; die anderen könnten kursorisch gelesen werden (siehe Engels an Victor Adler, 16. März 1895).
Hinsichtlich der im dritten Buch des „Kapital“ von Marx gemachten wissenschaftlichen Entdeckungen sei auf die Einführung zum Band II/4.2 der MEGA (S. 9*-20*) und die einschlägigen Marxschen Manuskripte (siehe MEGA II/4.2, II/4.3[10] und II/14) verwiesen.
Der Benutzer wird sich davon überzeugen können, dass es nicht leicht ist, die Zusammenhänge allein anhand der Marxschen Rohentwürfe zu studieren und verstehen zu wollen.
Engels als Bearbeiter und Herausgeber
Vergleicht man den 1894 im Druck erschienenen dritten Band mit den zu Buch III gehörenden Marxschen Manuskripten (siehe MEGA II/4.2, II/4.3, II/14), so kann man die Leistung von Engels als Bearbeiter und Herausgeber ersehen. Im Vorwort von 1894 hat er einen Rechenschaftsbericht über seine Arbeit gegeben (siehe S. 7.15-11.16). Überzeugt man sich genauer von den vorgenommenen Veränderungen, so findet man, dass Engels seine eigene Leistung bescheiden dargestellt hat. Die Entzifferung der nachgelassenen Exzerpte und Manuskripte sowie die Erarbeitung des inhaltlichen Überblicks und die logische Zuordnung der verschiedenen, z. T. aus unterschiedlichen Schaffensperioden stammenden Materialien (siehe z. B. S. 722.4-725.16) war eine Leistung, zu der seinerzeit nur Engels fähig war. Engels verfügte nicht nur über die erforderlichen theoretischen Einsichten, sondern auch über umfangreiches kaufmännisches Wissen und praktische wirtschaftliche Erfahrungen, um die Marxschen Manuskripte zu den Gegenständen des Zirkulationsprozesses (Buch II) und des Distributions-, sowie des Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion (Buch III) 1885 bzw. 1894 in einer lesbaren Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das dritte Buch des „Kapital“ hätte sicherlich anders ausgesehen als seine 1894 von Engels veröffentlichte Bearbeitung, wäre Marx selbst dazu gekommen, seine umfangreichen ökonomischen Exzerpte von etwa 1877 bis 1883 in die Druckfassung einfließen zu lassen (siehe besonders MEGA IV/25 und IV/28[11]).
Die meisten Auszüge aus Quellen waren in Marx’ Manuskripten in fremden Sprachen enthalten; Engels übersetzte sie, wenn er sie im Haupttext einsetzte, fast alle ins Deutsche. Außer den mit „F. E.“ gekennzeichneten Zusätzen verfasste er zahlreiche nicht gekennzeichnete Überleitungen, Einfügungen oder Ergänzungen. Er nahm bedeutend mehr Textumstellungen vor als er selbst ausgewiesen hat (siehe S. 29-77, 144-148, 401-409, 481-484, 493-498, 514-556, 599-602, 626/627, 722-725, 788-793, 797). Er fügte auch kritische Bemerkungen ein (siehe S. 154, 169, 497, 512, 561, 683, 716/717) oder machte Ergänzungen hinsichtlich neuerer Entwicklungen im Vergleich zur Sachlage von 1864 oder 1865 (siehe S. 177, 295, 327, 328, 356, 428/429, 430, 468, 470/471, 485/486, 595, 656). Engels konnte solche kritischen Ergänzungen aus aktueller Sicht vornehmen, weil er selbst Forschungen zu ähnlichen Problemen vorgenommen hatte. Erwähnt seien hier nur solche Arbeiten wie „Die Mark“ (siehe MEGA I/27), „England 1845 und 1885“ (siehe MEGA I/30[12]) oder „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland“ (siehe MEGA I/32[13]).
Zentrale Aussagen in Bd. III des „Kapital“
Der Öffentlichkeit wurden mit dem Erscheinen des dritten Bandes des „Kapital“ die Darlegungen von Marx und Engels zu solch wichtigen gesellschaftlichen Erscheinungen zugänglich wie den Gesetzen der Profitrate, den Formen der Zentralisation des Kapitals und des Übergangs zum Monopol (vor allem im Abschnitt über das zinstragende Kapital) sowie der Grundrente. Es handelt sich im vorliegenden Werk bei sachlicher Prüfung aber nicht nur um historische Entdeckungen im Sinne von nur für das 19. Jahrhundert neue Erkenntnisse; es handelt sich angesichts der realen ökonomischen sowie wirtschafts- und sozialpolitischen Krisen und Konflikte, die gegenwärtig in wichtigen Regionen der Erde zu verzeichnen sind, immer noch um die rationalste Aufdeckung und Darstellung der wesentlichsten Zusammenhänge in allen Gesellschaftsformen, die auf dem System der Warenproduktion beruhen. Der vorliegende Band der MEGA dürfte also nicht nur aus theoriehistorischer Sicht von Interesse sein. Überall dort, wo Gesellschaftszustände vorherrschen, in denen Waren, Geld und Kapital produziert werden, wo daher Mehrwert erzeugt, realisiert und verteilt werden muss, wo und solange es also Lohnarbeit, industriellen Profit, Handelskapital, Zins und Grundrente gibt, sollte vernünftigerweise eine seriöse Untersuchung dieser Erscheinungen die Untersuchungsergebnisse von Marx und Engels dazu berücksichtigen. Die genannten Tatsachen existieren ja – wenn auch im Vergleich zu 1864 oder 1894 deutlich modifiziert – in der Mehrzahl der Länder der Erde, und zwar nicht problemlos. Einige Passagen mögen als Anregung für das Studium eines Werkes dienen, das in der Geschichte, in der Theorie und Praxis des Sozialismus bei weitem nicht ausgeschöpft wurde.
„Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwerthung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprocesses für die Gesellschaft der Producenten sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwerthung des Kapitalwerths, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Producenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muß, und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – geräth in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwerthung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.“ (MEGA II/15, S. 246/247)
„Diese Plethora [dieser Überfluss, E.K.] des Kapitals erwächst aus denselben Umständen, die eine relative Ueberbevölkerung hervorrufen, und ist daher eine, diese letztre ergänzende Erscheinung, obgleich beide auf entgegengesetzten Polen stehn, unbeschäftigtes Kapital auf der einen, und unbeschäftigte Arbeiterbevölkerung auf der andren Seite.“ (Ebenda, S. 247)
„Eine Brachlegung von einem Theil des alten Kapitals müßte unter allen Umständen stattfinden, eine Brachlegung in seiner Kapitaleigenschaft, soweit es als Kapital fungiren und sich verwerthen soll. Welchen Theil diese Brachlegung besonders träfe, entschiede der Konkurrenzkampf. Solange alles gut geht, agirt die Konkurrenz, wie sich bei der Ausgleichung der allgemeinen Profitrate gezeigt, als praktische Brüderschaft der Kapitalistenklasse, sodaß sie sich gemeinschaftlich, im Verhältniß zur Größe des von jedem eingesetzten Looses, in die gemeinschaftliche Beute theilt. Sobald es sich aber nicht mehr um Theilung des Profits handelt, sondern um Theilung des Verlustes, sucht jeder soviel wie möglich sein Quantum an demselben zu verringern und dem andern auf den Hals zu schieben. Der Verlust ist unvermeidlich für die Klasse. Wieviel aber jeder Einzelne davon zu tragen, wie weit er überhaupt daran Theil zu nehmen hat, wird dann Frage der Macht und der List, und die Konkurrenz verwandelt sich dann in einen Kampf der feindlichen Brüder. Der Gegensatz zwischen dem Interesse jedes einzelnen Kapitalisten und dem der Kapitalistenklasse macht sich dann geltend, ebenso wie vorher die Identität dieser Interessen sich durch die Konkurrenz praktisch durchsetzte.“ (Ebenda, S. 249/250)
„Es ist kein Widerspruch, daß diese Ueberproduktion von Kapital begleitet ist von einer mehr oder minder großen relativen Ueberbevölkerung. Dieselben Umstände, die die Produktivkraft der Arbeit erhöht, die Masse der Waarenprodukte vermehrt, die Märkte ausgedehnt, die Akkumulation des Kapitals, sowohl der Masse wie dem Werth nach, beschleunigt und die Profitrate gesenkt haben, dieselben Umstände haben eine relative Ueberbevölkerung erzeugt und erzeugen sie beständig, eine Ueberbevölkerung von Arbeitern, die vom überschüssigen Kapital nicht angewandt wird wegen des niedrigen Exploitationsgrads der Arbeit, zu dem sie allein angewandt werden könnte, oder wenigstens wegen der niedern Profitrate, die sie bei gegebnem Exploitationsgrad abwerfen würde.
Wird Kapital ins Ausland geschickt, so geschieht es nicht, weil es absolut nicht im Inland beschäftigt werden könnte. Es geschieht, weil es zu höherer Profitrate im Auslande beschäftigt werden kann.“ (Ebenda, S. 252)
„Die Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit ist die historische Aufgabe und Berechtigung des Kapitals. Eben damit schafft es unbewußt die materiellen Bedingungen einer höhern Produktionsform.“ (Ebenda, S. 255/256)
„Drei Hauptthatsachen der kapitalistischen Produktion:
1) Koncentration der Produktionsmittel in wenigen Händen, wodurch sie aufhören als Eigenthum der unmittelbaren Arbeiter zu erscheinen, und sich dagegen in gesellschaftliche Potenzen der Produktion verwandeln. Wenn auch zuerst als Privateigenthum der Kapitalisten. Diese sind Trustees der bürgerlichen Gesellschaft, aber sie sacken alle Früchte dieser Trusteeschaft ein.
2) Organisation der Arbeit selbst, als gesellschaftlicher: Durch Kooperation, Theilung der Arbeit, und Verbindung der Arbeit mit der Naturwissenschaft.
Nach beiden Seiten hebt die kapitalistische Produktionsweise das Privateigenthum und die Privatarbeit auf, wenn auch in gegensätzlichen Formen.
3) Herstellung des Weltmarkts.
Die ungeheure Produktivkraft, im Verhältniß der Bevölkerung, die innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise sich entwickelt und, wenn auch nicht im selben Verhältniß, das Wachsen der Kapitalwerthe (nicht nur ihres materiellen Substrats), die viel rascher wachsen als die Bevölkerung, widerspricht der, relativ zum wachsenden Reichthum, immer schmaler werdenden Basis, für die diese ungeheure Produktivkraft wirkt und den Verwerthungsverhältnissen dieses schwellenden Kapitals. Daher die Krisen.“ (Ebenda, S. 262/263)
„Vom Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigenthum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen, wie das Privateigenthum eines Menschen an einem andern Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigenthümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias [gute Familienväter, E.K.] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“ (Ebenda, S. 752)
„Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduciren, so muß es der Civilisirte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnothwendigkeit, weil die Bedürfnisse [sich erweitern]; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die associirten Producenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingung vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Nothwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Nothwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“ (Ebenda, S. 795)
Für Marx und Engels bestand objektiv ein Vorteil gegenüber heutigen Untersuchungen darin, dass sie die kapitalistische Gesellschaftsordnung in ihrer frühen, aufstrebenden und daher von vielen Zufälligkeiten freien, elementaren Entwicklung studieren konnten, welche die Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse erschweren und trüben können. Dies ist ein Grund mehr dafür, die Marxsche Analyse im dritten Band des „Kapital“ für die heutige Kapitalismusanalyse ernsthaft wissenschaftlich zu nutzen (nicht zu kopieren). Dass die äußeren und erscheinenden Zusammenhänge anders aussehen als die inneren und wesentlichen, das ist schließlich eine Binsenweisheit.
[1] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Herausgegeben von Friedrich Engels. Hamburg 1894. Akademie Verlag, Berlin 2004.
[2] Siehe Jacqes Grandjonc/Jürgen Rojahn, Der revidierte Plan der Marx-Engels-Gesamtausgabe. In: MEGA-Studien. Hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung [Amsterdam], Heft 1995/2, S. 62-89, insbes. S. 78.
[3] Diese Abteilung enthält also nur die ökonomischen Ausarbeitungen und Schriften, die zum Hauptwerk „Das Kapital“ gehören, so dass es auch in der I., III. und IV. Abteilung Arbeiten bzw. Darlegungen zu ökonomischen Problemen gibt.
[4] Im Unterschied zu der verbreiteten, 43 Bände und einen Registerband umfassenden Ausgabe der Werke von Marx und Engels (Dietz Verlag Berlin 1956 ff.) werden in der MEGA auch die Briefe dritter Personen an Marx und Engels („An-Briefe“) sowie relevante Auszüge aus Briefen dritter Personen untereinander publiziert. – Siehe zu diesem Problemkreis: Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Akademie Verlag [Berlin] 2002 (381 S.).
[5] Die Reduzierung des Umfangs der MEGA betraf vor allem eine ganze Gruppe von Bänden dieser Abteilung, in denen die stummen und sprechenden Marginalien von Marx und Engels in Büchern, Broschüren usw. ediert werden sollten. – Zu einem fundierten Vorschlag, wie diese Bände gestaltet werden könnten, siehe: Karl Marx/Friedrich Engels, Marginalien. Probestücke. Text und Apparat. In: Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA). Vierte Abteilung. Exzerpte · Notizen · Marginalien. Probeheft. Dietz Verlag, Berlin 1983 (235 S.).
[6] Siehe: Karl Marx, Friedrich Engels, Joseph Weydemeyer, Die deutsche Ideologie. Artikel, Druckvorlagen, Entwürfe, Reinschriftfragmente und Notizen zu I. Feuerbach und II. Sankt Bruno. Text und Apparat. In: Marx-Engels-Jahrbuch 2003. Hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. Akademie Verlag, Berlin 2004 (400 S.).
[7] Band IV/32, Annotiertes Verzeichnis des ermittelten Bestandes der Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels, ist in einem Band gebunden.
[8] Zur Zeit in Bearbeitung.
[9] Siehe Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Zweiter Band. Hamburg 1885, S. 344, in: MEGA II/13 (zur Zeit in Bearbeitung).
[10] Zur Zeit in Bearbeitung.
[11] Beide Bände zur Zeit in Bearbeitung.
[12] Zur Zeit in Bearbeitung.
[13] Zur Zeit in Bearbeitung.