Mit „Gesellschaft von Tikal bis irgendwo“ legt eine Forschungsgruppe, der u.a. Lars Lambrecht, Thomas Mies, Urte Sperling, Karl Hermann Tjaden und Margarete Tjaden-Steinhauer angehören, den dritten Band ihrer „Studien zur Subsistenz, Familie, Politik“ vor.[1]
Das Buchprojekt lässt sich vielleicht kurz gefasst als Versuch beschreiben, die gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung der Menschen von ihren Anfängen bis zur Gegenwart zu untersuchen und dabei Verhältnisse, Institutionen und Praxen kenntlich zu machen, die den Menschen entweder förderlich sind oder ihnen, in welcher Weise auch immer, im Gegenteil schaden oder sogar in ihrer Existenz bedrohen.
Das Spannungsverhältnis von Fortschritt und Rückschritt in der Geschichte von Vergesellschaftungsprozessen bildet den Problemhorizont für neun Einzelbeiträge, die sich unter unterschiedlichen thematischen Aspekten mit der Frage beschäftigen, wie es zu gesellschaftlichen Ungleichheits- und Gewaltverhältnissen kam, wie sich diese Verhältnisse auf die von ihnen betroffenen Menschen auswirkten oder noch auswirken, was von den heute wahrnehmbaren Herrschaftsverhältnissen zukünftig zu erwarten ist und ob sich trotz dieser Verhältnisse Anhaltspunkte für ihre Veränderung ausmachen lassen.
Wenn auch alle Einzelbeiträge Antwort auf diese Fragen zu geben versuchen, so erscheinen sie doch auf den ersten Blick inhaltlich ziemlich heterogen. Die Themen reichen nämlich von vor der Vor- und Frühgeschichte der Menschen über altamerikanische Kulturen und „Genvarianten und Umweltgifte“ bis zur neoliberalen Demontage des Sozialstaats. Außerdem werden geschichtliche Entwicklungen bei den Phöniziern, Hebräern und Griechen, der gesellschaftliche Umgang mit den generativen Körpervermögen der Frauen und die historisch-geographischen Bedingungen der Hegemonie der USA behandelt.
Eingeleitet wird der Band mit Überlegungen zum Fortschrittsbegriff und abgeschlossen mit Bemerkungen über die Tauglichkeit der Begriffe „Reform“ und „Revolution“.
Sieht man zunächst einmal von der Heterogenität der Einzelbeiträge ab, so vermittelt der Band, wie vorwegnehmend gesagt werden darf, sowohl weiterführende Erkenntnisse einer historisch-materialistisch orientierten Theorie von Gesellschaftsgeschichte als auch eine Fülle einprägsamer Konkretisierungen der diese Geschichte kennzeichnenden Erscheinungen von Gewalt, Herrschaft, Ungleichheit und Entfremdung.
Fortschritt als Verbesserung des gesellschaftlichen
Zusammenhangs
Der einleitende Beitrag, den die Forschungsgruppe verfasst hat, hat eine programmatische Funktion (7-42). Er stellt klar, dass sich die hier bevorzugte Befassung mit Gesellschaftsgeschichte nicht im Vakuum sozialwissenschaftlicher Wertfreiheit abspielt, sondern am Kriterium des Fortschritts orientiert. Das ist aus einem doppelten Grund wichtig: Erstens verweist ein solcher Begriff des Fortschritts auf die Grundintention aller Wissenschaften, nämlich die durch den Forschungsgegenstand aufgegebenen Probleme mit spezifisch wissenschaftlichen Mitteln zu lösen und dadurch einer praktischen Bewältigung besser zugänglich zu machen. Zweitens verweist er auf den Umstand, dass die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse für die Mitglieder der Gesellschaften sehr unterschiedliche, ja häufig gegensätzliche Folgen auslösen, also Fortschritt oder Rückschritt, Verbesserung oder Verschlechterung, Vorteil oder Nachteil bedeuten können. Das wiederum rechtfertigt die zentrale Frage, ob dieser oder jener gesellschaftsgeschichtliche Vorgang dem Fortschritt der Gesellschaft förderlich ist oder nicht. „So wird es wohl nötig sein, die geschichtliche und die gegenwärtige gesellschaftliche Wirklichkeit weiterhin auf konkrete Strukturen und Prozesse hin zu untersuchen, um manifesten und potentiellen Elementen und Tendenzen von ‚Fortschritten’ oder ‚Rückschritten’ auf die Spur zu kommen“ (12 ). Die Forschungsgruppe schlägt einen Begriff von Fortschritt vor, der Fortschritt im wesentlichen daran misst, ob und inwieweit gesellschaftliche Aktivitäten und Mittel dazu beitragen, die „Lebensbedingungen und -möglichkeiten aller Menschen“ (16) innerhalb eines spezifischen, räumlich und zeitlich angebbaren gesellschaftlichen Zusammenhangs zu verbessern und damit die „Selbsterhaltung“ der Menschen zu fördern. Mit diesem Definitionsvorschlag verbinden sich weitere Bestimmungen. So erteilen die Autoren einem in Westeuropa und den USA lange vorherrschenden Fortschrittsoptimismus, der sich nicht nur des Denkens der Bourgeoisie, sondern auch großer Teile der Arbeiterbewegung bemächtigte, eine Absage, wenden sich aber gleichzeitig auch gegen (zum Beispiel postmoderne) Tendenzen, den Fortschrittsbegriff als solchen und überhaupt zu verwerfen. Des weiteren distanzieren sie sich nachdrücklich von dem Denkmuster geschichtlicher „Gesetzmäßigkeiten“ sowie der Vorstellung, dass die Erfordernisse der gesellschaftlichen Entwicklung – und damit auch die Voraussetzungen für Fortschritt – mit ökonomischen Produktionsweisen oder wirtschaftlich-technischer Effektivität gleichgesetzt werden können.
Der sich so ergebende Fortschrittsbegriff weist zwei wesentliche Vorzüge auf. Er zieht einerseits die Konsequenz aus den folgenschweren Irrtümern eines ökonomistischen und technizistischen Fortschrittsdogmas, insistiert aber andererseits darauf, Fortschritt als entscheidendes Kriterium für die Bewertung gesellschaftsgeschichtlicher Prozesse beizubehalten. Dadurch verliert die Befassung mit der Gesellschaft und ihrer Geschichte jene Beliebigkeit, die in den zu untersuchenden Problemen lediglich zu beschreibende, subjektiv so oder so interpretierbare Gegenstände erblickt, wie es in den heutigen Sozialwissenschaften gang und gäbe ist.
Theoriegeschichtlich knüpft der hier referierte Fortschrittsbegriff an seit langem verfügbare Erkenntnisse des historischen Materialismus an. Das kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass gesellschaftsgeschichtliche Prozesse durch materielle Produktion und Reproduktion, als „Stoffwechsel“ zwischen Mensch und Natur, begriffen werden, von denen sie sich nicht trennen lassen, auch wenn sie sich nicht auf sie beschränken und zusätzlich andere, unter Umständen sehr komplexe Dimensionen und Subsysteme umfassen. Dazu gehören etwa die sinnhaft-symbolischen Praxen, ohne die Gesellschaft ebenso wenig möglich ist wie ohne materielle Reproduktion. Obwohl die „Selbsterhaltung“ der Menschen den zentralen Bezugspunkt von Fortschritt oder Regression darstellt, wird der Mensch von den Autoren nicht gegen seine natürliche Um- und Mitwelt hypostasiert. Von Fortschritt kann also in ihrem Sinne nur dann die Rede sein, wenn das Moment menschlicher Selbsterhaltung grundsätzlich mit einer die natürlichen Milieus und Ressourcen beachtenden und möglichst pfleglich behandelnden Praxis einhergeht. Dieses Fortschrittsverständnis ist insofern „anthropozentrisch“, als es von der Existenzerhaltung und -sicherung des Menschen ausgeht, sich aber von einem verkürzten anthropozentrischen Standpunkt abgrenzt, der eine Omnipotenz menschlichen Tuns unabhängig von seinen natürlichen Lebensbedingungen unterstellt. Außerdem vermeidet die Sichtweise der Autoren die Gefahr normativer Eindimensionalität, wie sie sowohl an nicht-materialistischen als auch materialistischen Fortschrittskonzepten zu beobachten ist. Sie sind sich nämlich des Umstands bewusst, dass sich progressive und regressive Momente in konkreten historischen Prozessen und Situationen oft genug zu nur noch sehr schwer analysierbaren, widersprüchlichen Gemengenlagen amalgamieren können, die jede Erwartung von Eindeutigkeit verbieten. Die vorgeschlagene Fortschrittsdefinition liefert also keinen bequemen Generalschlüssel für alle denkbaren historischen Situationen, Gesellschaften und Epochen, sondern entwirft einen begrifflichen und normativen Rahmen, innerhalb dessen die konkrete Analyse stets aufs Neue geleistet werden muss.
So sehr die Argumentation des einleitenden Kapitels dem Rezensenten inhaltlich plausibel erscheint, so bedarf sie doch einer kritischen Anmerkung. Der Versuch einer möglichst umfassenden, potentielle Einwände von vornherein mitreflektierenden Bestimmung von Fortschritt bzw. Rückschritt weist in seiner vorliegenden Form gelegentlich einen Überhang an systematischer Verdichtung auf. Infolgedessen lassen sich bei manchen Formulierungen die Anschlüsse für eine konkrete Anwendung der systematischen Erörterungen nur noch schwer auffinden. So schreiben die Autoren beispielsweise: „Mit ‚Förderung’ der Selbsterhaltung soll nur eine Verbesserung der tatsächlichen ,nicht lediglich denkbaren Lebensbedingungen und -möglichkeiten bezeichnet werden ...“ (18). Heißt das, dass Intentionen und Aktivitäten, die sich zwar geschichtlich auf eine „Förderung der Selbsterhaltung“ gerichtet haben, aber aus Gründen, die nicht den Akteuren dieser Intentionen und Aktivitäten anzulasten sind, nicht zur „Verbesserung der tatsächlichen Lebensbedingungen“ beitragen konnten, deshalb von einer Qualifizierung als „fortschrittlich“ ausgeschlossen werden müssen? Zu denken wäre hier beispielsweise an die Situation von Menschen, die Widerstand gegen repressive Regime leisten, denen aber im Gefängnis oder Konzentrationslager buchstäblich die Hände gebunden waren, so dass sie keine „tatsächlichen“ Veränderungen bewirken konnten. Auf das Problem zu hoher Verdichtung stößt man auch bei dem folgenden Satz: „Bei dieser Unterscheidung ist freilich zu bedenken, dass – wenn es einen solchen ‚Fortschritt’ gibt – dieser nie lediglich eine ideelle Angelegenheit sein kann, sondern stets auch ein reales Geschehen sein muss, und zwar eine nicht nur latente, irgendwelche ‚Chancen’ betreffende, sondern manifeste Veränderung, welche freilich, siehe oben, aktuellen oder potentiellen Fortschritt bedeuten kann.“ (20). Einerseits soll also Fortschritt von der vagen Vorstellung bloßer „Chancen“ der Veränderung unterschieden werden, andererseits aber soll eine „manifeste Veränderung“ auch „potentiellen“ , mithin noch nicht realen, nicht tatsächlichen Fortschritt bedeuten können. Das ist, offen gesagt, ohne zusätzliche Erläuterungen und Konkretisierungen kaum nachvollziehbar, weil innerhalb eines einzigen Satzes gleichzeitig auf die Unterschiede zwischen materiell und ideell, latent und manifest, aktuell und potentiell als Merkmale von Veränderungen, Fortschritt und Rückschritt Bezug genommen wird. Formulierungen wie die zitierten sind gewiss kategorial etwas überfrachtet und deshalb aus sich selbst heraus nicht mehr hinlänglich verstehbar. Dieser kritische Einwand gilt keineswegs für den gesamten Beitrag, sondern nur für einige wenige, teilweise aber inhaltlich wichtige Stellen.
Wenn die Überschriften der im Buch versammelten Beiträge nicht auf Anhieb den Eindruck einer konsistenten Einheit hervorrufen, so wird das durch die Erläuterungen korrigiert, mit denen das einleitende Kapitel schließt. Sie stellen das Thema der Gewalt- und Ungleichheitsverhältnisse in den Mittelpunkt, wobei den „ neuzeitlichen europäischen“ und „neo-europäischen Gesellschaften“ ein besonderes Interesse zuteil und die Naturmomente von Vergesellschaftung kontinuierlich in die Untersuchungen einbezogen werden.
Recht, Gewalt und Ungleichheit im konkreten Kontext
In „An Ape’s View of Human History – revisited“ (43-63) stellen Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden Entwicklungslinien des Menschen vom Stadium der Protohominiden (15 Millionen Jahre v.u.Z.) bis zur Entstehung von frühen Ungleichheitsgesellschaften (3000 v.u.Z.) dar. Dabei zeigen die Verfasser, dass die Unterschiede zwischen Schimpansen und Menschen nicht nur zoologisch und biochemisch ziemlich gering sind, sondern Schimpansen und Bonobos über soziale Fähigkeiten, (z.B. in der Aufzucht der Nachkommen) verfügen, die den menschlichen Gesellschaften durchaus zu ihrem Nachteil in dem Maße abhanden gekommen sind, wie sie „Teile der Mitlebewelt in Produktionsmittel“ (58) verwandelten und diesen Vorgang mit symbolischen Mitteln zu einem Machtpotential kombinierten, das seinerseits Ungleichheit ebenso begründete wie verfestigte. Dieses Machtpotential wiederum konnte vor allem durch die westeuropäische Zivilisation so weit gesteigert werden, dass es die Errichtung einer hegemonialen Position gegenüber allen anderen Gesellschaften ermöglichte.
Wie sich die Machtsteigerung innerhalb der westeuropäischen Gesellschaftsgeschichte vollzog, zeigt der Beitrag von Lars Lambrecht mit dem Titel „Phönizier, Hebräer, Griechen – Weichenstellungen für den west-europäischen Entwicklungsweg? Neue Fragen zu einem Forschungsprogramm“ (64-91). Er setzt mit der interessanten Frage ein, warum gerade das antike Griechenland und nicht etwa die Phönizier oder Hebräer, die ebenfalls schon über beachtliche zivilisatorische Potentiale verfügten, in der Lage waren, der Entwicklung europäischer Ungleichheitsgesellschaften ihren Stempel aufzudrücken. Der Leser erfährt, dass trotz gewisser Parallelen zu den Phöniziern (Abhängigkeit von Schifffahrt) und den Hebräern (landwirtschaftliche Produktion) sich die Griechen neben der Etablierung spezifischer Ungleichheitsverhältnisse vor allem wegen ihrer militärisch und symbolisch organisierten liquidatorischen Aggressivität potentiellen und tatsächlichen Konkurrenten gegenüber als überlegen erwiesen.
Entgegen allen idealisierenden Deutungen der griechischen Antike war es vor allem, so die prononcierte These Lambrechts, das Zusammenwirken mehrerer Gewaltmomente sowohl hinsichtlich der sozialen Beziehungen (z. B. Patriarchat) als auch der brutalen physischen Vereinnahmung von Menschenleben (Sklaven als Arbeitskräfte), die in den folgenden Epochen der europäischen Gesellschaftsgeschichte tiefe Spuren hinterließ.
Die Tatsache „gegenwärtiger Machtungleichgewichte auf der Erde“ veranlasst Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden am Beispiel Altamerikas, d.h. der Kulturen der Azteken, Inka und Maya, der Frage nachzugehen, ob und wie es zu Machtunterschieden zwischen dem spanischen Imperium als Repräsentant des europäischen Machttyps und den genannten vorkolumbischen mittel- und südamerikanischen Gesellschaften gekommen ist (92-178). Weder entsprachen diese Gesellschaften, so kann man hier lesen, den eurozentrischen Projektionen einer heilen Welt des „edlen Wilden“ noch den Horrorfiktionen einer von Menschenopfern zehrenden Tyrannei. Das Interessante an den altamerikanischen Kulturen ist vielmehr, dass sie zwar einerseits durchaus Ungleichheitsverhältnisse patriarchaler und staatlicher Ausprägung sowie ökonomische Ausbeutungspraktiken aufwiesen, andererseits aber ihre so beschaffenen Herrschaftsverhältnisse sowohl in hohem Maß in kollektive „gentizilistische“ Formen von Vergesellschaftung (gemeinsame Bodenbewirtschaftung, Kindererziehung, Geschlechterverhältnisse) als auch in naturschonende arbeitsintensive Produktionsformen eingebunden waren. Aber Letzteres sollte nicht als Determinierung des Sozialen durch die Eigenart der natürlichen Umwelt missverstanden werden, denn Verfasserin und Verfasser betonen zu Recht, dass die Organisierung von Vergesellschaftung sich zwar nicht über die gegebenen Naturbedingungen hinwegsetzen kann, ihre Formen aber von menschlichen Entscheidungen und damit von unterschiedlichen Optionen abhängen (vgl. 171-178). Die altamerikanischen Hochkulturen waren übrigens, wie man weiter erfährt, auch im modernen Sinne durchaus „zivilisiert“, aber trotz dieser Eigenschaft der Machteffizienz und dem destruktiven Durchsetzungsvermögen des westeuropäischen Machtsystems nicht gewachsen. Der Beitrag widerspricht damit jedem universell-linearen Muster gesellschaftsgeschichtlicher Entwicklung sowie der Neigung, Begriffe wie Ungleichheit und Macht aus ihren konkreten historischen und naturbedingten Kontexten zu lösen und so jene Differenzierungen auszublenden, die überhaupt einen Vergleich erst ermöglichen und dadurch Fortschritt und Rückschritt unterscheidbar machen.
Urte Sperling und Margarete Tjaden-Steinhauer knüpfen mit ihrem Beitrag über „Generative Körpervermögen und gesellschaftliche Gewalt gegen Frauen“ (179-215) an zahlreiche vorangegangene Hinweise auf die gesellschaftliche Bedeutung der Geschlechterverhältnisse an, indem sie sich einem zentralen Aspekt der Geschlechterverhältnisse, nämlich der männlichen Verfügung über das weibliche Fortpflanzungsvermögen als strukturellem Moment von Herrschaft primär in modernen patriarchalisch-kapitalistischen Gesellschaften zuwenden. Dies geschieht überwiegend am Beispiel Deutschlands. Ebenso differenziert wie inhaltlich stringent arbeiten die Verfasserinnen heraus, wie die fremdgesetzte männliche, staatliche und privatwirtschaftliche Verfügungsgewalt über weibliche Körpervermögen im Zeitverlauf immer weiter systematisiert und in ihren Zugriffsmöglichkeiten effektiviert wurde. Die früher eher zerstreuten (für die betroffenen Frauen deshalb aber kaum weniger leidvollen) patriarchalen Unterdrückungspraktiken erhalten mit den heutigen Möglichkeiten der modernen Gentechnik und Reproduktionsmedizin eine neue Qualität. Das systemische Zusammenspiel von medizinisch-technischem „Fortschritt“, juristisch fixierter Bevormundung, staatlichen Institutionen, privatwirtschaftlichen Profitmotiven und sexistischen Zuschreibungen hat offensichtlich einen Punkt erreicht, so muss der Beitrag in seinen wesentlichen Ergebnissen interpretiert werden, der den mit den weiblichen Körpervermögen verbundenen gesellschaftlichen Handlungs- und Widerstandspotentialen ein für allemal den Boden zu entziehen droht.
Gleichsam von der anderen Seite wie die Studie über die Azteken, Inka und Maya untersucht Rolf Czeskleba-Dupont das Problem von Machtungleichgewichten, indem er sich den „Historisch-geographischen Bedingungen und Voraussetzungen der US-amerikanischen Hegemonie“ (216-259) widmet. Der spezifische Gewinn, den der Rezensent aus der Lektüre gezogen hat, besteht in der vom Autor gut belegten Erkenntnis, dass es wesentlich auch naturbedingte Faktoren, im gegebenen Fall vor allem räumliche Bedingungen gewesen sind, die dem US-Imperialismus in seiner heutigen Gestalt ausgesprochen günstige endogene Entwicklungsmöglichkeiten boten. Räumliche Erweiterung der imperialistischen Machtposition durch Kolonisation des nordamerikanischen Subkontinents, räumliche Aufnahmefähigkeit für ein riesiges Arbeitskräftereservoir von Migranten und die mit den immensen räumlichen Dimensionen verbundene Vielfalt natürlicher Ressourcen lassen die Relevanz des historisch-geographischen Moments von Gesellschaftsgeschichte eindrucksvoll hervortreten.
Da die Interaktion zwischen Mensch und außermenschlicher Natur, also mit seinem biotischen, geographischen und klimatischen Milieu, eine wesentliche Bedingung und Triebkraft historisch verlaufender Vergesellschaftung ist, ist auch die zunächst vielleicht überraschend erscheinende Aufnahme des Beitrags des Arztes Karl-Rainer Fabig über „Genvarianten und Umweltgifte“ (237-259) in den vorliegenden Band durchaus gerechtfertigt. Der Autor beschäftigt sich mit den Auswirkungen von Chemikalien auf die gesundheitliche Verfassung von Patienten und stützt sich dabei auf eine empirische Erhebung der eigenen ärztlichen Praxis. Er macht sichtbar, dass die individuellen Unterschiede „in Gesundheit und Krankheit ... dabei nicht nur mit den schätzungsweise 3 Mio Sequenzunterschieden der DNA, sondern auch mit Umweltfaktoren verknüpft“ (241) seien. Unter anderem zieht der Autor aus seinen Befunden die Schlussfolgerung, dass Genforschung und Umweltmedizin nicht gespalten werden dürfen, und betont gleichzeitig, dass sogenannte „Grenzwerte“ völlig untauglich seien, die individuelle Differenzierung von Stoffverträglichkeiten angemessen zu erfassen (259).
Mit einem aktuellen Phänomen westeuropäischer Vergesellschaftung beschäftigt sich auch Bernd Reef. Sein Beitrag „Das neoliberale Programm und der Abbau des Sozialstaats“ (260-285) identifiziert neoliberale Privatisierung von Verfügungsrechten über öffentliche Güter sowie marktdeterminierte Koordination ökonomischen Handelns als die dominanten Grundtendenzen aktueller Sozialpolitik in Westeuropa. Sehr nützlich sind die differenzierten Gedanken des Autors über Neoliberalismus nicht zuletzt deshalb, weil sie zeigen, dass der Neoliberalismus – zumindest gegenwärtig in Deutschland – weder sozialpolitische Umverteilung in Bausch und Bogen ablehnt noch die Notwendigkeit des Staates restlos negiert. Umverteilung wird im neoliberalen Denken als Prävention von Verelendung bis zu einer gewissen, allerdings sehr eng gezogenen Grenze anerkannt und staatliche Funktionen werden begrüßt, sofern sie private Verfügungsrechte sichern. Ähnliches trifft nach Reef auf das Verhältnis des Neoliberalismus zur Demokratie zu. Sie wird bejaht, solange sie Machtkonzentrationen unterbindet, die letztlich auch private Eigentums- und Verfügungsrechte gefährden könnten. Diese Ambivalenzen des Neoliberalismus vermischen sich in der gegenwärtigen deutschen Sozialpolitik mit Restelementen traditioneller sozialdemokratischer Wohlfahrtsvorstellungen zu einem Konzept des „aktivierenden Sozialstaats“, dessen Funktion darin besteht, Kostensenkungen für die Unternehmen durchzusetzen, um dem Hauptziel einer Beschleunigung des Wirtschaftswachstums und der durch dieses generierten Beschäftigung näher zu kommen (vgl. 273). Sollte sich der von der grün-sozialdemokratischen Koalitionsregierung eingeschlagene sozialpolitische Kurs weiter radikalisieren, so will der Autor nicht ausschließen, dass sich die Wirklichkeit in Deutschland dann bald mit den „neoliberalen Idealwelten“ eines Friedrich August von Hayek und James N. Buchanan decken wird. Bezieht man die Untersuchung von Reef auf den theoretischen Rahmen des gesamten Bandes, so wird sichtbar, dass die heutige Sozialpolitik in Deutschland und anderswo eindeutig nicht das Ziel verfolgt, den „Lebenserhalt“ aller Gesellschaftsmitglieder zu fördern, und sie deshalb nur als gesellschaftliche Regression bewertet werden kann.
„Reform“ und/oder „Revolution“?
Die Schlussbemerkungen über „Reform und Revolution – vorsichtig betrachtet“ (286-313), die von derselben Autorengruppe wie der des einleitenden Kapitels geschrieben wurden, nehmen in gewisser Weise die anfänglichen Überlegungen zum Thema des Fortschritts in der menschlichen Geschichte wieder auf, indem sie die analytische Brauchbarkeit der beiden Begriffe für die Erkenntnis aktueller sowie zukünftiger Entwicklungen evaluieren. Anknüpfend an wichtige allgemeine Probleme „zivilisatorischer Macht-Ohnmacht-Verhältnisse“, aber auch an Versuche, der Zerstörungslogik des westlichen Zivilisationstyps und den ihm immanenten Macht- und Ungleichheitsverhältnissen alternative Praxen entgegen zu setzen, fragt die Autorengruppe danach, ob und inwieweit die Begriffe Reform und Revolution zum Verständnis gesellschaftsgeschichtlicher Veränderungen noch etwas beisteuern können. Was dabei herauskommt, ist überaus erhellend und führt die bisherige Debatte über den toten Punkt hinaus, den sie mit hagiographischen Revolutionsverklärungen und der Entwertung des Revolutionsbegriffs durch seine inflationäre Verwendung für alle möglichen Neuheiten und modischen Inventionen, aber auch etwa mit der Pervertierung des Reformbegriffs erreicht hatte. Weder akzeptiert die Autorengruppe, dass Reform und Revolution „zwei Modalitäten des unausweichlichen Fortschritts“ (296) seien, noch ist sie bereit, die beiden Begriffe aus einer „Theorie emanzipatorischer Praxis heraus zu halten“ (ebd.). In einem exkursartigen Abschnitt über den Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts zeigt sie auf, dass die Errichtung dieser gesellschaftlichen Ordnung den Anspruch auf revolutionäre Veränderung nicht einlösen konnte, weil sie trotz beträchtlicher positiver Veränderungen wichtige Voraussetzungen für eine alle konstitutiven Aspekte der Selbsterhaltung der Menschen umfassende Revolutionierung nicht zu erfüllen vermochte. So wurden dem Primat der Produktivkraftentwicklung und der staatlichen Kontrolle beispielsweise die Geschlechterbeziehungen, Familie und Erziehung untergeordnet. Damit geben die Autorinnen und Autoren einem verkürzten ökonomistischen und politizistischen Revolutionsverständnis ebenso wenig nach wie einem reformistischen Attentismus, demzufolge eine Kumulation von einzelnen Reformen irgendwann „gesetzmäßig“ in eine neue gesellschaftliche Qualität bzw. Revolution umschlägt. Nach der hier vorgetragenen Argumentation ist es deshalb sinnvoll, zwischen Reform und Revolution sehr wohl zu unterscheiden, ohne beide jedoch in einen abstrakten Gegensatz zu bringen. Sowohl reformerische als auch revolutionäre Praxen können ihren Intentionen nach auf die Schaffung herrschaftsfreier, die natürliche Mitlebewelt einschließender gesellschaftlicher Verhältnisse gerichtet sein, aber in Wirklichkeit werden solche Verhältnisse weder aus einer Summe einzelner Reformen hervorgehen noch werden solche partikularen Reformen dauerhaft „Bedingungen und Möglichkeiten der Selbsterhaltung aller Gesellschaftsmitglieder“ (305) schaffen können. So sehr dem Rezensent die hier knapp wiedergegebene begriffliche Unterscheidung auch einleuchtet und so sehr er mit der Auffassung übereinstimmt, nicht zuzulassen, die beiden Begriffe normativ gegeneinander auszuspielen, so sehr überrascht ihn wenig später die lapidare Feststellung, dass „es gleichgültig (ist), ob man einen solchen Umbruch (gemeint ist die Schaffung von Bedingungen umfassender gesellschaftlicher Selbsterhaltung und -bestimmung der Menschen, L. P.) mit den Wörtern Reform oder Revolution benennt“ (312). Wenn das so ist, versteht man den vorangegangenen, ja überaus produktiven Aufwand nicht mehr, die Unterscheidung von Reform und Revolution plausibel zu machen. Sicherlich, wenn irgendetwas erst einmal wirklich gut geworden ist, dann schwindet vielleicht das Bedürfnis nach einer exakten begrifflichen Bestimmung des Guten, die vor seiner Verwirklichung notwendig gewesen sein mag. Meint die Autorengruppe das?
Der Sammelband „Gesellschaft von Tikal bis irgendwo“ – Tikal war das Herrschaftszentrum einer altamerikanischen Hochkultur – trägt, so lässt sich seine Leistung zusammenfassen, auf produktive und innovative Weise zur Ausarbeitung und Weiterentwicklung historisch-materialistischen Denkens bei. Er lässt jede kategoriale Scholastik und jeden Modellplatonismus hinter sich, ohne auf jene basalen Erkenntnisse der von Marx und Engels begründeten materialistischen Gesellschafts- und Geschichtstheorie zu verzichten, die dem Druck der geschichtlichen Wirklichkeit trotz aller scheinbar gegenteiligen Beweise standgehalten haben. Alle Beiträge zeichnen sich durch ein beeindruckendes Maß an Problembewusstsein, Reflektiertheit, Sachkompetenz und methodische Gründlichkeit aus. Das Buch macht vorbildlich deutlich, dass gesellschaftsgeschichtliche Forschung keine selbstgenügsame Angelegenheit ist, sondern die Aufgabe hat, die von ihr zu untersuchenden Fragen in einen Zusammenhang mit den in der Gegenwart wissenschaftlich und praktisch besonders lösungsbedürftigen Problemen zu stellen. Noch eine Marginalie zum Schluss: vielleicht wäre es nützlich, den inhaltlichen Teil der vielleicht zukünftig folgenden Studien der Forschungsgruppe durch biographische Hinweise zu ergänzen, damit Leserinnen und Leser ein bisschen erfahren, was die Autorinnen und Autoren sonst noch so machen.
[1] Rezensionsartikel zu: Urte Sperling/Margarete Tjaden-Steinhauer (Hrsg.): Gesellschaft von Tikal bis irgendwo. Europäische Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur, Verlag Winfried Jenior, Kassel 2004, 359 S., 20 Euro.