„Macht es eigentlich Sinn, heute noch über die Arbeiter zu schreiben?“ (B./P., 21) – mit dieser Frage beginnen die beiden französischen Soziologen Stéphane Beaud und Michel Pialoux ihr Buch über „Die verlorene Zukunft der Arbeiter“. Wer die Ergebnisse ihrer Untersuchung aufmerksam gelesen hat, der wird diese Frage sicherlich bejahen. *
Dass diese Aufmerksamkeit für die Arbeiterfrage nicht nur auf die französische Soziologie beschränkt ist, zeigte beispielhaft der 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), der im Oktober 2004 unter dem Motto „Soziale Ungleichheit. Kulturelle Unterschiede“ in München stattgefunden hat. Zu dessen Eröffnung vertrat der Vorsitzende der DGS Karl-Siegbert Rehberg die Auffassung, die Wirklichkeit der Klassengesellschaft werde wieder in das allgemeine Bewusstsein gehoben. Denn: „In den (Ausnahme-)Zeiten der Vollbeschäftigung und der Parallelität von Wirtschafts- und Wohlstandswachstum konnte irrelevant erscheinen, wer die Produktionsmittel besitzt, da sie doch segensreich wirkten. Angesichts der Abkopplung von Produktivität und Arbeit verschiebt sich die Wahrnehmung, erhalten die Grundtatsachen der kapitalistischen Klassengesellschaft wieder Kontur.“[1]
Tatsächlich liegt die Vermutung nahe, dass das wiedererwachte Interesse an der Lebenslage der Arbeiter und an der Klassentheorie darin begründet ist, dass „gewisse materielle Beschränkungen und Knappheiten nach Jahrzehnten der Wohlstandsentwicklung, wenn auch in begrenztem Umfang, wieder neu aufzutreten [scheinen]“ (W.-M., 23) – wie die Siegener Soziologin Sonja Weber-Menges in der Einleitung zu ihrer Untersuchung über Soziallagen und Lebensstile von Arbeitern und Angestellten in Industriebetrieben vermerkt.
Die Arbeiter-Frage ist so aktuell wie schon lange nicht mehr. Doch zugleich wird sie im politischen Raum konsequent zu verschleiern versucht.[2] Die beiden im folgenden vorzustellenden Untersuchungen leisten mit unterschiedlichen Methoden wichtige Beiträge dazu, den Blick wieder auf die Lebenswirklichkeit der Arbeiter zu lenken.
Die verlorene Zukunft der Arbeiter
Beaud und Pialoux interessiert v.a. der Verlust an Wahrnehmbarkeit und Bedeutung des Arbeiters. Um diesen Verlust zu verstehen, untersuchen sie die Veränderungen der Arbeit in den Peugeot-Werken von Sochaux-Monbéliard, die Konflikte zwischen den dortigen Arbeitergenerationen und die Auswirkungen beider Phänomene auf die Entwicklung die Arbeiterschaft.
Sie haben ihre ethnographische Langzeitstudie 1983 begonnen. Die Möglichkeit, den Wandel in den Peugeot-Werken über 20 Jahre hinweg aus nächsten Nähe zu beobachten und zu analysieren, ist wohl einzigartig. Eine solche Monographie ermöglicht es, Entwicklungen wie durch ein Vergrößerungsglas zu verfolgen und dabei Dinge zu erfassen, die von statistischen Erhebungen auf überörtlicher Ebene nicht (so deutlich) erfasst werden können.
Wie ein roter Faden zieht sich die Analyse der Strategie der Betriebsleitung durch das Buch, die mit immer wieder neuen Maßnahmen versucht, eine kontinuierliche Steigerung der Arbeitsproduktivität durchzusetzen. Auf eine Reihe organisatorischer Veränderungen (Einführung des Prämiensystems in den Arbeitsgruppen, Umzug in neue Fabrikhallen, etc.), die Mitte der 1980er Jahre eingeleitet worden waren, folgte Anfang der 1990er Jahre die massive Einstellung junger Zeitarbeitnehmer und die Einstellung junger Techniker. Mit diesen Veränderungen setzte die Betriebsleitung bewusst eine Logik der Konkurrenz und der gegenseitigen Kontrolle in Gang, die Arbeitsintensität wurde ständig gesteigert, die alten Angelernten unter Druck gesetzt und Abteilungen, in denen sich Widerstände häuften, ausgelagert. Die Logik der Arbeitersolidarität sollte untergraben und die Widerstandskultur der Arbeiter abgetragen werden. Mit dieser Strategie hatte die Betriebsleitung letztlich Erfolg. Sie konnte die Positionen zurückerobern, die sie in den Kämpfen der 1960er und 70er Jahre hatte räumen müssen – so das nüchterne Fazit von Beaud und Pialoux.
Der strategische Einsatz junger Leute als Techniker und als Zeitarbeiter und die dadurch provozierten Generationenkonflikte[3] finden das besondere Interesse der Autoren. Noch in den 1980er Jahren haben sich die Gruppen der angelernten Arbeiter und der Facharbeiter gegenseitig durchdrungen: Zahlreiche Delegierte aus den Reihen der Angelernten waren Söhne von Facharbeitern und somit in der traditionellen Facharbeiterkultur aufgewachsen. An die Stelle der Facharbeiter sind nach und nach die jungen Techniker getreten. Sie sollten die Angelernten mit neuen Arbeitsvorgängen vertraut machen und wurden von diesen als Vertreter einer „technisierten Logik, die als Herrschafts-Technik wahrgenommen wurde“ (B./P., 112), erlebt. Hieraus resultiert die Feindseligkeit der „Alten“ gegenüber diesen jungen Technikern.
Durch die Einstellung dieser jungen Leute geriet auch die soziale Mobilität innerhalb der Werkhallen ins Stocken. Die alten Facharbeiter kamen nicht mehr in den Genuss von Weiterbildungen und „versauerten so ohne Aufstiegschancen auf ihren Posten“ (B./P., 112). Auch die Aufstiegschancen der angelernten Bandarbeiter verschlechterten sich, denn die neuen Facharbeiter wurden nicht mehr aus den Reihen der Angelernten gewonnen.
In den Jahren 1987 bis 1990 waren (junge) Leiharbeiter in Massen rekrutiert worden. Für sie war der Zeitvertrag eine einmalige Chance. Sie brauchten einen festen Arbeitsplatz und wollten deshalb unter keinen Umständen das Wohlwollen der Vorgesetzten verlieren. Die „Streitereien“ in der Fabrik waren also nicht in ihrem Interesse. Für sie waren nicht die Chefs das Problem, sondern die „alten“ Arbeiter. Was sie an den Montagebändern erlebten, empörte sie: „Alte Arbeiter, die ihre Zeit damit verbringen, ‚rumzumeckern’, ‚zu saufen’, und ihren Spaß daran haben, mit den ‚Chefs’ Katz und Maus zu spielen, oder womöglich gar die Arbeit zu sabotieren.“ (B./P., 278) Doch nur einige hundert von ihnen schafften es, eine Festanstellung zu erreichen. Während der Rezession 1990 wurden die Verträge der anderen Leiharbeiter nicht mehr verlängert.
Aufgrund dieser Einstellungspolitik stehen sich in den Werkhallen zwei Generationen gegenüber: Auf der einen Seite die alten Angelernten, die vor dem Einstellungsstopp 1979 in die Fabrik eingetreten sind – Beaud/Pialoux nennen sie an anderer Stelle die „Fabrikgeneration“[4], auf der anderen Seite einerseits die jungen (ehemaligen) Leiharbeiter, die „Generation der Prekären“[5], und andererseits die jungen Techniker.
„Kollektive Entmutigung“
Eine (gewollte) Folge dieser Strategie der Betriebsleitung ist die Schwächung der Arbeiter und der Gewerkschaften. Noch in den 1960er und 70er Jahren waren die Facharbeiter die „Arbeiter-Aristokratie“ in der Fabrik. Das institutionelle Netzwerk aus Gewerkschaften, Betriebsausschuss und kulturellen Aktivitäten war damals noch fast ausschließlich in ihren Händen. Nachdem die Abteilungen mit einem hohen Facharbeiteranteil seit Anfang der 1980er Jahre immer weiter ausgedünnt wurden, sind sie mittlerweile „von der Bildfläche verschwunden“ (B./P., 99), sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Gewerkschaftsgremien dominieren die angelernten Arbeiter.
Das Politikverständnis der Angelernten beruhte auf der Verteidigung unmittelbarer Interessen in puncto Lohn, Arbeitszeit, Prämien, Aufstiegschancen etc. und war von einer praktischen Solidarität geprägt, die sich in einer langen Reihe von Arbeitskämpfen herausgebildet hatte. Dieses Politikverständnis beruht auf Eckpunkten der alten tayloristischen Ordnung, in der sich an den Arbeitsbedingungen vielfältige Konflikte entzündeten und die Gewerkschaftsaktivisten in eben diesen Konflikten ihre Widerstandskraft zeigen konnten. Während der 1980er Jahre wurde die Stellung der Aktivisten mehr und mehr geschwächt. Ihre Gegenspieler sind in den Werkshallen nicht mehr präsent, und die immer schärferen Konkurrenzkämpfe zwischen den Arbeitern belasten ihre Arbeit. Hinzu kommt, dass „im Laufe dieser letzten fünfzehn Jahre [...] die politische Hoffnung auf eine radikale Veränderung der sozialen Verhältnisse unter sozialistischen Vorzeichen verschwunden [ist].“ (B./P., 284)
Beide Momente, die Generationenkonflikte und die Schwächung der gewerkschaftlichen Aktivisten, kennzeichnen die Krise der gewerkschaftlichen Arbeiterschaft. Pierre Bourdieu charakterisiert sie an anderer Stelle als eine „kollektive Entmutigung“[6] und spricht vom „Ende einer Ära“[7].
„Arbeiterklasse“ oder „Arbeitnehmer“?
Während Beaud und Pialoux also aus der Perspektive einer Nah- und Langzeitaufnahme der Arbeiter ein wenig hoffnungsvolles Bild ihrer Lage zeichnen, geht Weber-Menges der Frage nach, ob es heute angemessener sei, von Arbeiterklasse/-schicht oder von Arbeitnehmern zu sprechen. Zu diesem Zweck untersucht sie Soziallage, Lebenschancen und Einstellungen von Industriearbeitern und -angestellten in 17 Unternehmen in den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Hessen.[8] Von Februar 2000 bis Mai 2001 beobachtete sie zunächst die Abläufe in den Unternehmen, interviewte dann zahlreiche Arbeiter und Angestellte und führte schließlich eine schriftliche Befragung mit einem standardisierten Fragebogen durch. Ihre Untersuchung stützt sich im wesentlichen auf 1.868 auswertbare Fragebögen. Die Stichprobe kann nicht als repräsentativ für Arbeiter und Angestellte insgesamt, durchaus aber für die Lage von Industriearbeitern und -angestellten in den alten Bundesländern gelten.
Sie interessiert vor allem, inwieweit sich die Arbeiter heute in ihrer Soziallage noch in einer typischen Weise von den Angestellten unterscheiden. Eng damit verknüpft ist auch die Untersuchung von Unterschieden der Lebenschancen und der vielfältigen Zusammenhänge zwischen diesen objektiven Faktoren und Einstellungen und Werthaltungen, Geschmack und Freizeitverhalten. Im Ergebnis stellt Weber-Menges fest, dass über alle drei Dimensionen schichttypische Konstellationen vorhanden sind. So lässt sich für Arbeiter z.B. eine typische Schulbildung und ein typisches Einkommen ermitteln, zeigen sich hinsichtlich der Lebenschancen „markante Differenzen zwischen blue collar- und white collar-Arbeitsplätzen“ (W.-M., 378) und bestehen arbeitertypische Einstellungen und Mentalitäten fort. Auch traf sie einerseits auf ein „Angestelltenbewusstsein“, das die Sonderstellung der Angestellten betont und sich gegenüber den Arbeitern abgrenzt. Andererseits war die Vorstellung von dem Bestehen einer Arbeiterschicht durchaus nicht verschwunden, vielmehr rechnete sich die überwiegende Mehrheit der Un- und Angelernten, Facharbeiter und Vorarbeiter ihr nach wie vor zu.
Weber-Menges stellt zusammenfassend den Fortbestand einer „pluralisierten und differenzierten Arbeiterschicht bei größtenteils weiter existierenden schichtspezifischen Ungleichheiten zwischen Arbeitern und Angestellten unterschiedlicher Berufsschichten hinsichtlich der objektiven Soziallage, der Lebenschancen und Lebensstile“ (W.-M., 385) fest.
Diese Ergebnisse gehen zwar im Grundsatz nicht über das hinaus, was bereits andere Untersuchungen[9] ergeben haben und was im „Datenreport 2004“ des Statistisches Bundesamtes[10] nachzulesen ist, die Arbeit von Weber-Menges bietet aber im Detail eine Fülle von Informationen, die diese ergänzen und bestätigen.
„Klasse“ oder „Schicht“?
Beide Untersuchungen vermitteln also auf ihre je eigene Art und Weise einen differenzierten Einblick in die Welt der Arbeit. Sie leisten einen wichtigen Beitrag dazu, die „in Vergessenheit geratene Arbeiter-Frage“ (B./P., 326) wieder auf die Tagesordnung (zumindest) der soziologischen Debatte zu setzen. Trotz dieses Verdienstes sind jedoch an beide Veröffentlichungen auch kritische Nachfragen zu stellen.
Eine Enttäuschung bereiten beide Untersuchungen ihren LeserInnen bei der Verwendung der Begriffe „Klasse“ und „Schicht“. Aufgrund der Titel, die ausdrücklich auf „Arbeiter“ bzw. die „Arbeiterklasse“ Bezug nehmen, hatte man hier präzise Begriffsverwendungen erwarten können. Doch weder Beaud und Pialoux noch Weber-Menges bieten eine zufriedenstellende Klärung dieser für ihre Untersuchungen zentralen Begriffe bzw. geben diesen Verzicht sogar als vermeintliche Stärke ihrer Untersuchung aus.
Beaud und Pialoux machen es sich einfach: Sie sprechen das eine Mal von „populare[n] Klassen“ (B./P., 306), das andere Mal von „populare[n] Schichten“ (B./P., 311); am häufigsten verwenden sie den Begriff „Arbeiterklasse“ – definiert wird aber keiner dieser Begriffe. Deutlich wird nur, dass aus ihrer Sicht die „Arbeiterklasse ‚als solche’“ nicht mehr besteht, denn sie sei „unter dem Einfluss verschiedener zentrifugaler Kräfte auseinandergebrochen“. (B./P., 322) Eine schlüssige Begründung für diese These des Auseinanderbrechens liefern sie jedoch nur für den Mikrokosmos der Peugeot-Werke von Sochaux-Monbéliard, die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen werden hingegen allenfalls angedeutet.
Weber-Menges gibt sich bei dieser Frage zwar mehr Mühe, offenbart jedoch zugleich einen elementaren Mangel ihrer Untersuchung. Richtigerweise verweist sie darauf, dass „die Begriffe ‚Klasse’ und ‚Schicht’ für die Analyse einer modernen Sozialstruktur auch heute noch unverzichtbar sind“ (W.-M., 385 f.). Auch beklagt sie, dass die Vielzahl unterschiedlicher Verwendungen beider Begriffe verwirrend sei. Zur erforderlichen begrifflichen Klarheit trägt sie dann jedoch wenig bei, wenn sie feststellt, „der Begriff ‚Arbeiterklasse’ schließt [...] den der ‚Arbeiterschicht’ mit ein“ (W.-M., 15), weshalb eine Unterscheidung beider Begrifflichkeiten entbehrlich sei.
Demgegenüber verdeutlicht z.B. Geißler, dass es nicht nur Gemeinsamkeiten von Klassenbegriffen und (vielen) Schichtbegriffen gibt[11], sondern auch gewichtige Unterschiede:[12]
- Die Einteilung einer Gesellschaft in Klassen orientiere sich stärker an ökonomischen Kriterien der Klassenlage,
- Klassenanalyse sei immer auch eine Analyse von Konflikten und Machtbeziehungen zwischen den Klassen,
- Klassen würden stets historisch-dynamisch in ihrer Entwicklung erfasst und
- Klassenanalysen spürten den Ursachen der Konflikte und Machtbeziehungen und ihren Entwicklungen im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang nach.
Weber-Menges behauptet zudem, dass dem Klassen- und dem Schichtbegriff gleichermaßen ein „hierarchisches Modell der Sozialstruktur in dem Sinne zugrunde liegt, dass Klassen und Schichten Gruppen von Individuen darstellen, die in unterschiedlichem Maße Zugang zu gesellschaftlich wichtigen Ressourcen haben und daher als besser oder schlechter gestellt bezeichnet werden können“. (W.-M., 15) Festzuhalten ist jedoch, dass „Klassen“ nicht aufgrund unterschiedlicher Einkommenshöhen konstituiert werden. Vielmehr unterstellen (marxistische) Klassentheorien, dass die Positionen in der Sozialstruktur über Besitz und Verfügung über gesellschaftlich relevantes Produktionseigentum entscheiden.[13] Wer – wie Weber-Menges – Klassen nicht mehr relational, sondern nur noch graduell auffasst und zudem auf jede theoretische Ordnung verzichtet[14], der entkernt die Klassentheorie und macht sie tatsächlich der Schichtungstheorie gleich. Nur mit dieser falschen Annahme lässt sich eine Gleichsetzung beider Begriffe rechtfertigen.
Doch nicht nur die fehlende Unterscheidung von „Klasse“ und „Schicht“ und die Behauptung eines falschen Abgrenzungskriteriums für Klassen sind Mängel der Untersuchung. Zu kritisieren ist noch eine weitere irreführende Aussagen über die Marxsche Klassentheorie. Weber-Menges verwirft diese als untauglich, weil sie eine „relativ starre, rein ökonomisch geprägte, konflikt- und machtorientierte“ (W.-M., 27) Theorie sei. Dies ist eine weit verbreitete Verkürzung.
Entgegen einer solchen ökonomistischen Verengung plädiert Peter von Oertzen dafür, unter den von Marx angesprochenen „geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen“[15] eben nicht nur die Ökonomie, sondern auch das soziale Leben, Politik und Kultur, also „die Gesamtheit der schöpferischen Kräfte der Gesellschaft in ihrem arbeitsteiligen Zusammenwirken“[16] zu verstehen. Auch Anthony Giddens verweist darauf, dass die Marxsche Klassentheorie ökonomische mit politischer Herrschaft verknüpft und dabei der Politik eine relative Autonomie zugesteht.[17] Engels selbst spricht ausdrücklich davon, die Ökonomie sei zwar das „in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte“, doch – wie er in seinem berühmten Brief an Josef Bloch kritisierte – „wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase“.[18]
Dominieren „schichtspezifische Ungleichheiten zwischen Arbeitern und Angestellten“?
Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich ausschließlich auf Weber-Menges’ Untersuchung. Deren zentrale Ergebnisse lassen sich m.E. durchaus anders interpretieren, denn als Fortbestand einer Arbeiterschicht bei größtenteils weiterexistierenden schichtspezifischen Ungleichheiten zwischen Arbeitern und Angestellten. Vielmehr weisen zahlreiche Einzelaspekte der Untersuchung auf eine Annäherung von Arbeitern – v.a. Facharbeitern und Vorarbeitern – und einfachen Angestellten hin.
Weber-Menges spricht dies verschiedentlich selbst an. So stellt sie fest, dass die Soziallage der einfachen Angestellten nicht nur hinsichtlich der Bildung und des Einkommens, sondern auch hinsichtlich der größeren Weisungsgebundenheit ihrer Tätigkeit derjenigen der Facharbeiter und der un- und ange-lernten Arbeiter ähnelt (vgl. W.-M., 376); auch spricht sie hinsichtlich der Lebenschancen von „zunehmend[en] Überlappungen“ (W.-M., 377) von Arbeitern und einfachen Angestellten.[19]
Die Ähnlichkeiten zwischen Arbeitern und einfachen Angestellten beschränken sich aber nicht nur auf Soziallage und Lebenschancen, sondern fallen auch bei Fragen zu Einstellungen und Mentalitäten auf: So im gleichermaßen nur geringen Umfang ihrer aktiven Beteiligung an politischen Organisationen, ihren Meinungen zu Klassen- und Schichtenstrukturen oder ihren beruflichen Grundhaltungen.[20]
Es ist also nur konsequent, wenn Weber-Menges feststellt, dass es „in der heutigen Zeit nicht mehr sinnvoll [ist], von einer einheitlichen Arbeiterklasse bzw. -schicht im Gegensatz zur ‚Dienstleistungsschicht’ der Angestellten zu sprechen“. (W.-M., 119, Herv. HGB) Sie verfolgt diesen Gedanken allerdings nicht weiter, sondern legt sich einseitig auf den Fortbestand einer Arbeiterschicht fest.
Demgegenüber sind Klassenstrukturmodelle, die sich nicht auf die historisch überlebten sozialversicherungsrechtlichen Kategorien Arbeiter und Angestellte festlegen, sondern von einer differenzierten Analyse des modernen Kapitalismus ausgehen, in der Lage, die pluralisierte und differenzierte Arbeiterklasse angemessener zu erfassen. Ein Beispiel hierfür ist das Klassenstrukturmodell Erik Olin Wrights[21]. Wright bezieht sich auf die drei Ressourcen: Produktionsmittelbesitz, Qualifikation und Organisation. Der Besitz an Produktionsmitteln und damit die Grunddifferenzierung zwischen Unternehmern und Lohnabhängigen ist für ihn dabei nach wie vor zentral. Er berücksichtigt jedoch auch die Möglichkeit, mittels Qualifikations- und Organisationsressourcen einen privilegierten Anteil am gesellschaftlichen Produkt zu erhalten. Die unterschiedliche Verteilung dieser beiden Ressourcen führt zur Bildung von neun Klassenlagen von Lohnabhängigen: von den „Expert Managers“ bis zu den „Proletarians“. Ähnlich verfährt Max Koch in dem von ihm vorgeschlagenen Klassenstrukturmodell[22]. Mit Hilfe der Differenzierungsmerkmale „Anzahl der Beschäftigten“, „Stellung im Arbeitsprozess“ und „Bildungsgrad“ bildet er fünf soziale Klassen, die sich von den sozialversicherungsrechtlichen Kategorien Arbeiter und Angestellte weitgehend gelöst haben, und gerade deshalb die Sozialstruktur prägnanter erfassen, als dies Weber-Menges mit ihrem Festhalten an diesen veralteten Kategorien leisten kann.
Dass Weber-Menges diese Differenzierung nicht sieht, obwohl sie in ihren Untersuchungsergebnissen durchaus angelegt ist, steht m.E. in engem Zusammenhang mit ihrem bewussten Verzicht auf eine „einheitliche theoretische Konzeption der Arbeiterschaft“ (W.-M., 42).
Rassismus
Sowohl Weber-Menges als auch Beaud und Pialoux stellen in einem erschreckenden Umfang Rassismus unter Arbeitern (und Angestellten) fest. Doch während Weber-Menges ihren entsprechenden Befund nur eher beiläufig vermerkt (vgl. W.-M., 286), gehen Beaud und Pialoux ausführlich auf die Anziehungskraft ein, die der Front National auf das Arbeitermilieu ausübt.
Ihre Argumentation löste bei mir allerdings Befremden aus. Sie meinen in der Anziehungskraft des Front National eine starke Protestdimension erkennen zu können, die vor dem Hintergrund einer immer prekärer werdenden sozialen Lage verstanden werden müsse, betonen, „den außerordentlich ‚reaktiven’ Charakter der Stimmabgabe für Le Pen“ (B./P., 309) und behaupten, der Abneigung gegenüber den Migranten liege „nicht unbedingt ein rassistischer Reflex zu Grunde“ (B./P., 312), sie sei vielmehr Ausdruck der strukturellen Probleme im Stadtteil und vor allem in der Schule. Denjenigen jedoch, die vor einer Hysterie wegen der Kriminalität der jungen Migranten warnen, werfen sie vor: „Nur diejenigen, die nicht jeden Tag mit diesem Problem leben müssen, können es sich erlauben, diesen Sachverhalt herunterzuspielen oder abzustreiten.“ (B./P., 306), und kritisieren eine angebliche Überinterpretation rassistischer Äußerungen von „französischen“ Arbeitern (vgl. B./P., 316 f.). Was aber gibt es an Aussagen wie: „Ich bin Rassistin.“ (B./P., 317) oder „Man sollte sie [die Migranten, HGB] einfach heimschicken, statt ihnen Arbeitslosengeld zu geben.“ (B./P., 318) eigentlich noch zu „interpretieren“? Das ist unverhüllter Rassismus.
Statt dies in der notwendigen Deutlichkeit zu benennen, gehen Beaud und Pialoux sogar so weit, die Unterstützung des Front National durch eine wachsende Zahl von Arbeitern als einen „bittere[n], ja sogar verzweifelte[n] Protest gegen den ‚Moralismus der Linken’“ (B./P., 309) zu interpretieren, und geben zu Bedenken, „wie diese im Übrigen immer moralisierenden Rassismus-Anschuldigungen wirken, nämlich als soziale Beleidigung“. (B./P., 317) Ja, sie stilisieren das Wahlverhalten von Arbeitern, die für den FN stimmen, zu einem „letzten verzweifelten Versuch [...], sich von den anderen zu unterscheiden und das Existenzrecht der Arbeiterschaft in einem Kontext ihres strukturellen Niedergangs einzufordern.“ (B./P., 315)
Diese Verharmlosung des Rassismus einerseits und die Angriffe auf diejenigen, die sich diesem Rassismus entgegenstellen, andererseits wirft einen Schatten auf die ansonsten mit Gewinn zu lesende Untersuchung.
Perspektiven
So unterschiedlich die beiden Untersuchungen von Beaud und Pialoux einerseits und Weber-Menges andererseits konzipiert sind, so unterschiedlich fällt auch ihr jeweiliges Fazit aus. Weber-Menges zieht v.a. soziologische Schlussfolgerungen: Sie bekräftigt die Notwendigkeit, dass sich die soziologische Forschung „mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Industriearbeiters auseinandersetzen“ (W.-M., 385) müsse, plädiert dafür, dass eine solche Forschung „nicht allein aus der soziologischen ‚Vogelperspektive’ des Forschers heraus agiert, sondern [...] auch die ‚Froschperspektive’ der Betroffenen selbst ein Stück weit einnimmt“ (W.-M., 385), und fordert zu einem „Brückenschlag“ (W.-M., 387) zwischen Strukturtheorien einerseits und Milieu- bzw. Lebensstilforschung andererseits auf. Nur mittels einer solchen Verbindung ließe sich soziale Ungleichheit in ihren vielfältigen Erscheinungsformen theoretisch adäquat fassen. Und tatsächlich unterstreicht ihre Untersuchung die Sinnhaftigkeit aller drei Schlussfolgerungen. Es ist zu bedauern, dass diese Einsichten in der soziologischen Forschung bei weitem nicht Allgemeingut sind.
Beaud/Pialoux versuchen hingegen eine politische Perspektive zu skizzieren. Ihnen geht es dabei um die Frage, wie die Gewerkschaftsbewegung zu alter Stärke zurückfinden kann. (Vgl. B./P., 329) Hierbei sprechen sie der Politisierung der Jugendlichen aus den Migrantenfamilien eine zentrale Bedeutung zu, fordern dazu auf, die Verbindung zwischen den Generationen wiederherzustellen, machen sich für eine Wiederbelebung der „alten Werte“ der Arbeiter-Welt (Internationalismus, Egalitarismus, Solidarität) stark und stellen abschließend fest, die Gewerkschaften müssten „die Beziehungen zu anderen Gruppen im sozialen Raum, die der Arbeiterwelt nahe sind [...], vertiefen und Lehren aus den Kämpfen [...] ziehen, die fernab der Werkshallen geführt werden“ (B./P., 330).
Natürlich machen all diese Forderungen Sinn; es fällt allerdings auf, dass sie kaum erkennbare Bezüge zu den Ergebnissen der Untersuchung haben. Einige beziehen sich sogar positiv auf Gruppen, die in der Untersuchung „schlecht wegkommen“: So kritisierten Beaud/Pialoux ausdrücklich die „moralisierende“ Linke, und zu den jungen MigrantInnen heißt es, sie lungerten herum und seien respektlos. (Vgl. B./P., 291) Nun gerade in diesen beiden Gruppen die Hoffnungsträger für ein Erstarken der Gewerkschaftsbewegung zu sehen, kann – aufgrund der Logik ihrer vorherigen Argumentation – nicht überzeugen. Um einen Weg aus der Krise der Arbeiter zu weisen, sind die Forderungen zudem viel zu allgemein gehalten.
Mein Fazit: Beide Untersuchungen sind mit großem Gewinn zu lesen, haben jedoch auch merkliche Schwächen, die einer rundum positiven Bewertung entgegenstehen. Wer sich für die vermeintlich untergegangene Welt der Arbeiter interessiert, ist jedoch allemal gut beraten, sich mit ihnen auseinander zusetzen.
Literatur:
Benschop, Albert / Krätke, Michael / Bader, Veit, (1998), Eine unbequeme Erbschaft. Klassenanalyse als Problem und als wissenschaftliches Arbeitsprogramm; in: Bader, Veit M. / u.a. (Hg.): Die Wiederentdeckung der Klassen, Berlin / Hamburg: Argument Verlag, S. 5-26
Bourdieu, Pierre u.a., (1997), Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: UVK-Verlag (franz. 1993)
Engels, Friedrich, (1967), Brief an Josef Bloch; in: MEW, Bd. 37, Berlin (DDR): Dietz Verlag
Erbslöh, Barbara / u.a., (1990), Ende der Klassengesellschaft?, Regensburg: Transfer Verlag
Geißler, Rainer, (1996), Die Sozialstruktur Deutschlands, Opladen: Westdeutscher Verlag (2. Aufl.)
Giddens, Anthony, (1979), Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag
Jung, Heinz, (1978), Strukturveränderungen der westdeutschen Arbeiterklasse, Berlin (West): Argument-Verlag
Koch, Max, (1994), Vom Strukturwandel einer Klassengesellschaft, Münster: Westfälisches Dampfboot
Marx, Karl, (1959), Das Elend der Philosophie (MEW, Bd. 4), Berlin (DDR): Dietz Verlag, S. 63 - 182
Oertzen, Peter von, (2004), Klasse und Milieu als Bedingungen gesellschaftlich-politischen Handelns; in: Buckmiller, Michael / Kritidis, Gregor / Vester, Michael (Hg.): Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, Hannover: Offizin, S. 191-234
Rehberg, Karl-Siegbert, (2004), Die unsichtbare Klassengesellschaft, Eröffnungsrede zum 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
Schäfers, Bernhard, (1995), Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland. Ein Studienbuch zur Sozialstruktur und Sozialgeschichte der Bundesrepublik, Stuttgart: Enke Verlag (6., völlig neu bearb. Aufl.)
Statistisches Bundesamt (Hg.), (2004), Datenreport 2004, Bonn: Eigenverlag
Vester, Michael / u.a., (2001), Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag
Wright, Erik Olin, (1985), Classes, London / New York: Verso
* Besprechung von: Beaud, Stéphane/Pialoux, Michel, Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von Sochaux-Monbéliard; UVK-Verlag, Konstanz 2004 (franz. 1999), 364 Seiten, 34,00 Euro, zitiert als „B./P.“; Weber-Menges, Sonja, „Arbeiterklasse“ oder Arbeitnehmer? Vergleichende empirische Untersuchung zu Soziallagen und Lebensstilen von Arbeitern und Angestellten in Industriebetrieben; VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, 452 Seiten, 42,90 Euro, zitiert als „W.-M.“
[1] Rehberg, 2004.
[2] Vgl. ebd.
[3] Beaud und Pialoux führen diese nicht auf einen Unterschied im biologischen Alter zurück, sondern sehen sie als Ergebnis der Unordnung in der Abfolge der Arbeitergenerationen aufeinander, verursacht v.a. durch einen zehn Jahre langen Einstellungsstopp und die Formung der Leiharbeiter, die nach „Jahren der ‚Tretmühle’ und der kleinen Gelegenheitsjobs [...] schon weitgehend gefügig gemacht in die Fabrik kommen“. (Beaud/Pialoux; in: Bourdieu u.a., 1997, 310 f.)
[4] Beaud/Pialoux; in: Bourdieu u.a., 1997, 314.
[5] Beaud/Pialoux; in: Bourdieu u.a., 1997, 314.
[6] Bourdieu; in: Bourdieu u.a., 1997, 370.
[7] Bourdieu; in: Bourdieu u.a., 1997, 369.
[8] Befragt wurden nur Personen im erwerbsfähigen Alter (zwischen 20 und 65 Jahren); ausländische Arbeitskräfte waren ausgeklammert.
[9] Vgl. u.a. Geißler, 1996; Vester u.a., 2001.
[10] Statistisches Bundesamt (Hg.), 2004.
[11] Als solche nennt er: a) Eine Bevölkerung lässt sich in verschiedene Gruppen untergliedern, die sich in jeweils ähnlichen Klassen- bzw. Soziallagen befinden; b) diese Klassen- bzw. Soziallagen beeinflussen das Denken der Menschen, ihre Vorstellungswelt, ihre Mentalitäten, Werte, Interessen, Ideologien und Verhaltensweisen; es entsteht ein „Klassenbewusstsein“, eine „Schichtmentalität“, ein „Klassenhabitus“; c) aus diesen Klassen- bzw. Soziallagen resultieren auch klassen- bzw. schichtspezifische Lebenschancen. (Geißler, 1996, 69 ff.).
[12] Siehe ebd., S. 70; Geißler selbst sieht als Ergebnis des Modernisierungsprozesses die „Herausbildung einer dynamischeren, pluraleren und auch stärker latenten Schichtstruktur“. (Geißler, 1996, 78, Herv. HGB)
[13] Vgl. z.B. Jung, 1978, 677 ff.; Giddens, 1979, 31 ff.; Schäfers, 1995, 237; Benschop/Krätke / Bader, 1998, 6 ff.
[14] Vgl. Benschop / Krätke / Bader, 1998, 12 f.
[15] Marx, 1959, 181.
[16] Oertzen, 1994, 199.
[17] Vgl. Giddens, 1979, 32.
[18] Engels, 1967, 464 (Herv. im Original).
[19] Beaud und Pialoux weisen in diesem Zusammenhang richtig auf eine „Proletarisierung der Angestellten“ (B./P., 323) hin.
[20] Ein anderes Bild ergibt sich interessanterweise bei der subjektiven Schichteinstufung. Während sich eine deutliche Mehrheit der Un- und Angelernten, Facharbeiter und Vorarbeiter selbst als Mitglied der Arbeiterklasse/-schicht einstuft, sehen sich Meister und einfache Angestellte als Teil einer Mittelschicht. (vgl. W.-M., 120 ff.)
[21] Vgl. Wright, 1985; vgl. auch: Erbslöh u.a., 1990.
[22] Vgl. Koch, 1994.