Bei den folgenden Überlegungen handelt es sich um einen ersten Versuch, marxistisches Philosophieren auf der einen Seite, postmodernes, dekonstruktivistisches, genealogisches usw. Philosophieren auf der anderen Seite vergleichend zueinander in ein äußerliches Verhältnis zu setzen, so als gäbe es die marxistische Philosophie, den Dekonstruktivismus usw. als quasi dingliche und homogene Entitäten außerhalb und unabhängig vom Philosophieren; äußerlich bliebe ein solches Vergleichen schon allein deshalb, weil die Verschiedenheit solchen Philosophierens von vorneherein gesetzt, nicht aber selbst zum Gegenstand der Reflexion gemacht wird. Vielmehr soll es darum gehen herauszuarbeiten, inwiefern diesen Philosophien mindestens ein Problem gemeinsam ist, so dass sie unterschieden werden können hinsichtlich der Spezifik ihrer jeweiligen Antwort auf dieses Problem und hinsichtlich der begrifflichen Mittel, mit denen sie ihre Antwort zu geben versuchen. Erst das Unterscheiden von Philosophien bezüglich der Antworten, die sie auf ein ihnen allen gemeinsames Problem zu geben versuchen, ermöglicht die Beantwortung der Frage, welche von ihnen denn mit Gründen als wahr ausgewiesen werden kann oder welche die besseren Argumente für ihre Antwort geben kann. Und selbstverständlich kann dann auch beantwortet werden, inwiefern diese Philosophien nicht nur unterschieden sind, sondern inwiefern sie sich möglicherweise – wiederum begründet – als verschiedene Philosophien aufzeigen lassen.
Einleitung
In dieser Hinsicht kann doch sicherlich als unkontrovers unterstellt werden, dass marxistische Philosophen bzw. marxistische Theoretiker in all ihrer Unterschiedenheit, also in der Vielzahl der Traditionen marxistischen Philosophierens und Denkens sowie der Vielfalt der je spezifischen disziplinären Zugänge, fragen, wie heute – nach den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts – fruchtbar an das Werk von Marx und Lenin angeschlossen werden kann, ob und inwiefern es – in Folge der Erfahrungen – modifiziert werden muss, so wie bereits Lenin Marxens Theorie nicht einfach nur aufgerafft, sondern fortentwickelt und das, was er geschrieben hat, nicht kanonisiert, sondern – bezogen auf veränderte oder neue politische und theoretische Kontexte – zum Teil verworfen[1], abgeändert und weiterentwickelt hat. Wie also hier und heute mit Marx umgehen? Wie ihn „lesen“? Und auch wenn er völlig andere begriffliche Mittel verwendet als viele marxistische Philosophen in ihren Antworten, so ist dies doch genau die Frage, die bspw. Derrida in seinem Buch „Marx' Gespenster“ stellt und zu beantworten sucht. Und ebenfalls gemeinsam mit marxistischen Theoretikern versucht Derrida zu zeigen, dass es nicht möglich ist, Marx als akademischen Theoretiker zu trennen von dem politischen Marx; inwiefern dies nicht möglich sei, unterscheidet dann Derrida wieder von zumindest vielen Marxisten – allerdings, und dies gilt es zu bedenken hinsichtlich der Frage, ob es sich hierbei um eine Unterschiedenheit oder um eine Verschiedenheit zwischen Derrida und Marxisten handelt, geben Marxisten in ihren Antworten nicht nur unterschiedliche, sondern verschiedene Antworten auf dieses „inwiefern“.
Nun ist es ja nicht nur für den marxistischen Umgang mit solchen Philosophien, für die das Philosophieren Derridas als Beispiel, nicht aber Derrida als Repräsentant einer solchen Philosophie genannt wurde, kennzeichnend, sie entweder als anti-marxistisch zu verwerfen, wobei gleichzeitig nicht-marxistisch und anti-marxistisch in höchst problematischer Weise identifiziert werden, oder sie bruchlos, also die Unterschiede und die mögliche Verschiedenheit verkennend, in den Marxismus zu integrieren. Auch jemand wie Habermas ist nicht bereit, sich auf die philosophischen Fragestellungen von, wohl aber auf politische Bündnisse mit Genealogie, Dekonstruktivismus, Postmoderne einzulassen[2]. Philosophisch werden „postmoderne“ Theorien nur abstrakt mit ideologiekritischem Vorbehalt negiert, also sofort die Verschiedenheit betont. Viele seiner Schüler dagegen vereinnahmen zumindest Teilüberlegungen für das Projekt Kritischer Theorie, negieren also die Verschiedenheit zugunsten des Unterschieds. Weder wird dabei der spezifische Kontext, in dem diese Philosophien entstanden sind, beachtet – so handelt es sich bei den prononciert vorgetragenen antihumanistischen und subjekt-kritischen Überlegungen französischer Philosophen nicht um eine Kritik oder Negation von Humanismus und Subjekt-Konzepten insgesamt und überhaupt, sondern, fast möchte man sagen: ausschließlich um eine Kritik der lange Zeit hegemonialen Position Sartres, seiner Zeitgenossen und seiner Schüler. Noch werden die verschiedenen Traditionen des Philosophierens zureichend beachtet, sondern nur vordergründig die Rezeption Heideggers problematisiert, die als dieselbe unterstellt wird, die für den deutschsprachigen Raum kennzeichnend ist. Dabei sollte es doch sofort einleuchten, dass ein durch eine vitalistische, von Bergson herrührende Lektüre Heideggers, wie sie etwa für Deleuze und Agamben kennzeichnend ist, ganz anders ausfällt und auch ausfallen muss als eine Lektüre, die sich Heidegger sprachphilosophisch und tätigkeitstheoretisch[3] nähert, wie es Derrida versucht. Solche und noch sicherlich weitere – aber doch zumindest solche – begrifflichen Rekonstruktionen müssten geleistet und präsent sein, will man nicht bloß dogmatisch vorgefasste Meinungen verkünden, die als Meinungen eben nichts mit Philosophie – mit keiner Philosophie! – zu tun haben.
Selbstverständlich sollen diese Überlegungen niemanden davon abhalten, seine Meinung kund zu tun. Und ebenso selbstverständlich soll niemand auch nur dazu aufgefordert werden, nun endlich Derrida, Foucault, Agamben (oder wen auch immer) zu lesen; die Beschäftigung mit Originalen (Hegel, Marx, Lenin u.a.) selbst ist sicherlich unverzichtbar und durch keine Lektüre von Interpreten zu ersetzen. Nur: Wer mit dem Anspruch als Philosoph auftritt, der hat sich den Mühen der Arbeit des Begriffs auszusetzen, der muss in der Form der Kritik die begrifflich-logische Rekonstruktion anderer Theorien leisten, wenn seine Äußerungen als Kritik ernst genommen werden sollen. Gerade Marxisten verfügen doch diesbezüglich über einen normativen Standard, die „Kritik der politischen Ökonomie“, an dem sie sich selbst messen und von anderen messen lassen müssen, hinter den sie aber auf keinen Fall zurückgehen dürfen. Damit ist es immer möglich und auch sinnvoll zu sagen, dass bezogen auf das je eigene Theorie-Projekt so viel an „Hausaufgaben“ zu bewältigen ist, dass die Auseinandersetzung mit anderen Positionen nur knappe Lebenszeit verschlingt, ohne wirklich zur Entwicklung der eigenen Gedanken in entsprechendem Maße beitragen zu können. Es gilt aber auch: Um sich so verhalten zu können, müsste man die Gewissheit haben, dass die anderen Positionen wirklich dem eigenen Projekt gegenüber verschiedene sind, dass sie als verschiedene nicht nur unterschieden von der je eigenen Position philosophieren, sondern eben auch ganz andere, eben verschiedene Probleme und Fragestellungen verfolgen, also als Philosophien verschiedene sind. Woher aber können wir eine solche Gewissheit haben, wenn wir uns in unserem Denken nicht auf Andere und Anderes beziehen? Man frage sich doch nur, ob Hegel seine „Wissenschaft der Logik“ oder Marx „Das Kapital“ hätten schreiben können, ohne sich vorher die „Phänomenologie des Geistes“ und „Die Kritik der politischen Ökonomie“ erarbeitet zu haben – sicherlich nicht! Und auch Gramscis „Gefängnishefte“ sind ja in wesentlichen Teilen nichts anderes als die Rekonstruktion zeitgenössischer Theorien, Denkformen, Politiken, die ihm eine Bestimmung seiner Epoche, die Ausarbeitung seiner Hegemonie-Theorie usw. erst ermöglichten. Die je eigene Gegenwart ist uns nie unmittelbar als Wissen oder im Wissen gegeben, einen Begriff der Gegenwart haben wir und können wir nur haben in der Rekonstruktion der Gestalten des Bewusstseins in ihrem logischen Zusammenhang. Aber auch das hat ja schon Marx selbst immer wieder betont, ist nichts eigentlich Neues.
Soweit es um die Rekonstruktion der Gestalten des Bewusstseins geht, also um das kritische sich Aneignen vorfindlichen Wissens, gilt, dass dieses so angeeignete Wissen (noch) nicht das ist und sein kann, was dann als eigenes Resultat der begrifflichen Bemühungen vorgestellt wird: Die „Phänomenologie des Geistes“ oder „Die Kritik der politischen Ökonomie“ systematisieren ja nicht einfach dieses vorfindliche Wissen in enzyklopädischer Absicht, sondern in der Aneignung „überwinden“ sie es, „heben“ es „auf“ und „enthalten“ es zugleich „in sich“. Das so rekonstruierte Wissen ist somit in eigentümlicher Weise – dies deuten schon die Metaphern an – etwas radikal anderes als die bloße Summe des vorgefundenen Wissens. Bezogen auf unseren Zusammenhang muss dann die Frage lauten: Sind Dekonstruktivismus, Genealogie und all die anderen vorfindlichen Formen des Wissens nur und ausschließlich vorfindliche Formen, die „überwunden“, „aufgehoben“ werden müssen, um dann in dem so als Wissen rekonstruierten Wissen „enthalten“ zu sein – oder kann von Teilen dieses zunächst vorgefundenen Wissens mit Gründen gesagt werden, das es sich bei ihnen um Rekonstruktionen des vorfindlichen Wissens handelt, die zwar vielleicht hinsichtlich ihrer Form noch nicht äquivalent sind der Form der „Phänomenologie“ oder der „Kritik der Politischen Ökonomie“, die aber sehr wohl schon Teile des Rekonstruktionsweges sind, wenn eben auch noch nicht die Rekonstruktion insgesamt. Könnte es nicht sein, dass bspw. die Philosophie Derridas ein solches Teilstück einer auf unsere Gegenwart bezogenen „Phänomenologie“ darstellt, ohne diese selbst schon zu sein?[4] Dass dagegen etwa der Vitalismus von Deleuze und Agamben, das genealogische Projekt Foucaults (das er in seiner ursprünglichen Form ja selbst aufgegeben hat) zwar Gestalten des gegenwärtigen Bewusstseins sind, die aber „überwunden“ und „aufgehoben“ werden müssen, um im Begriff der Gegenwart enthalten sein zu können?
Indem wir diese Frage stellen und die Frage so stellen, ist zugleich unsere Hypothese formuliert, mit der wir uns diesen Formen des Philosophierens nähern möchten. Leitend für diese Hypothese ist eine weitere Hypothese, die wir im Folgenden skizzieren möchten, um dann bei einer späteren Gelegenheit auf unsere Überlegungen zu Derrida, also die erste Hypothese, einzugehen. Die zweite Hypothese lautet: Das Problem, das Derrida als Problem seiner Philosophie und vielleicht als das Problem seiner Philosophie benennt und für das er Antworten zu formulieren sucht, findet sich als genau dieses Problem auch in der Tradition marxistischen Philosophierens in der Ausgestaltung zweier verschiedener Argumentationslinien, die durch die Namen von Georg Lukács und Michail Bachtin repräsentiert werden können.
Zwei verschiedene Widerspiegelungstheorien
In der Tradition dialektischen Philosophierens lassen sich zwei verschiedene Fassungen von Widerspiegelungstheorien unterscheiden. Die eine, von Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“ herkommend und hinführend zu Lukács Theorie, bestimmt Widerspiegelung als das Abbilden von Dingen im Bewusstsein. Widerspiegeln ist so eine zweistellige erkenntnistheoretische Relation, in der das abbildende Verhalten dem abgebildeten Ding nichts an Bestimmungen hinzufügt, das Ding in seinem Sein von dem Abbilden nicht betroffen wird, dieses ihm gegenüber also kontingent und äußerlich bleibt. Die Durchführung einer solchen Widerspiegelungstheorie führt notwendigerweise zu einem erkenntnistheoretischen Realismus, in aller Regel sogar zu einem Naturalismus, der im Widerspruch steht und stehen muss zu jeglichem dialektischen Denken. Denn nimmt man den Anspruch auf dialektisches Denken als dialektischem Denken ernst, dann meint dies erstens, dass dialektisches Denken das Denken von Verhältnissen als Verhältnissen bedeutet; so dass zweitens das als Verhältnis gedachte Verhältnis nicht eine Abbildung von Dingen – diese sind als Dinge oder in ihrem Ding-Sein unabhängig von und somit nicht in einem Verhältnis stehend zu einem sie als Dinge abbildend denkenden Denken – sein kann. Wird drittens das in einem Verhältnis zu etwas Anderem Stehende als so seiend gedacht, weil und indem es zu etwas Anderem in einem Verhältnis steht, dann tritt zu seinem bloßen Sein eine Bestimmung hinzu, die es erst in seinem Sein, nämlich so-seiend-Sein, qualifiziert. Dann aber kann nicht mehr von einem Ding gesprochen werden, sondern bei dem so-seienden-Sein handelt es sich um einen Gegen-stand. Eine auf solche begrifflichen Verhältnisse, abzweckende Widerspiegelungstheorie ist keine Erkenntnistheorie, sondern eine logisch-ontologische Theorie mit mindestens drei analytisch unterscheidbaren Momenten und den entsprechenden Verhältnissen zwischen diesen Momenten: Etwas spiegelt sich in einem Anderen bezogen auf ein Drittes, für das es als Widerspiegelung fassbar wird. Diese Linie dialektischer Widerspiegelungstheorie versucht also in einem ersten Schritt anhand einer Metapher, der Widerspiegelung, Verhältnisse als Verhältnisse zu denken, um dann in einem zweiten Schritt begrifflich über die Mittel (bspw. Metaphern) solchen Denkens Auskunft zu geben.
Die erkenntnistheoretische, auf Dinge und die Möglichkeit ihrer Abbildung bezogene Fassung der Widerspiegelungstheorie hat nun immer Kritik herausgefordert, insbesondere auch und gerade von nicht-marxistischen (Karbusicky 1973) und marxistischen (Lecourt 1975 a u. b) „Strukturalisten“. In einem Satz die Kritik an der erkenntnistheoretischen Fassung und zugleich die Prämissen der zweiten Form von Widerspiegelungstheorie benennend, schreibt Macherey: „Zu wissen, was im Werk steht, ist etwas anderes als zu wissen, aus was es gefügt ist.“ (Macherey 1974, 28) Wenn bspw. Literatur in irgend einem Sinne ein „Spiegel“ ist, dann fragt Widerspiegelungstheorie als Erkenntnistheorie nur und ausschließlich nach dem Inhalt, dem im Spiegel enthaltenen Bild und seinen Abbildqualitäten; und indem ausschließlich so gefragt wird, wird von dem Spiegel und ineins damit von der Art und Weise, wie ein Bild als Bild des Spiegels zustande kommt, abstrahiert. Dagegen setzt Macherey mit Bezug auf Lenin: Das Werk ist ein Spiegel. Und das Spiegel-Sein des Werkes bedeutet, dass es als und insofern es Spiegel ist, bestimmbar sein muss. Oder die Leninsche Frage anders formuliert: Wie muss etwas gefügt sein, damit es ein Spiegel sein kann? Somit wird zunächst und vorrangig nach dem Spiegel-sein des Spiegels gefragt; und selbstverständlich ist in dieser Frage dann auch enthalten, dass etwas nur dann in voll gültigem Sinne als Spiegel bezeichnet werden kann, wenn es das Bespiegelte als Gespiegeltes „enthält“, wir im Spiegel nicht einfach das Spiegelbild sehen, sondern das (bespiegelte) Ding selbst als gespiegeltes. „Der Spiegel ist also lediglich seiner Erscheinung nach ein Spiegel. Er spiegelt auf eine Art, über die nur er verfügt. Es handelt sich dabei nicht um eine beliebig reflektierende Oberfläche, auf der durch Widerspiegelung Beliebiges in Erscheinung tritt, indem es sich unmittelbar reproduziert. [...] Nun ist die Beziehung zwischen dem Spiegel und dem Objekt, das er abbildet (die historische Wirklichkeit) tatsächlich partiell. Denn der Spiegel nimmt eine Auswahl vor, er selektiert, anstatt die Totalität der sich darbietenden Realität wiederzugeben. Aber diese Auswahl findet nicht zufällig statt, sie ist charakteristisch und damit auch Anhaltspunkt, um die Natur des Spiegels zu begreifen.“ (Macherey 1975, 29/30) Die durch den Spiegel vorgenommene oder präziser: die mit seinem Spiegel-Sein gegebene Selektion oder Auswahl ist zunächst völlig undramatisch zu begreifen dahin, dass ein Spiegel – und zwar beliebig welcher! - eben nur sichtbare Dinge in sich als Bild enthalten kann; und dies definiert ihn als Spiegel genauso wie der Sachverhalt, dass ein Spiegel nur dann ein Spiegel ist, wenn er ein Bild enthält.[5]
Zu begreifen, dass ein Spiegel nicht alles und alles beliebige in sich als Bild enthält und enthalten kann, wird aber entscheidend wichtig dann, wenn der Spiegel als Metapher und somit als Mittel Gebrauch findet, um ein Sein als so-seiendes-Sein zu bestimmen. Wenn es nun das Spiegel-sein eines Etwas als Spiegel bestimmt, dass in ihm das Bespiegelte selbst als Gespiegeltes für uns sichtbar ist, dann zeigt sich der Spiegel insofern als ausgezeichnet besonderes Reflexionsmittel, weil und indem, sofern wir etwas als Spiegel gebraucht haben, in und mit diesem Gebrauch zugleich und unmittelbar die Verhältnisse gegeben sind, die das Spiegeln eines Spiegels ausmachen: dass sich etwas in etwas für etwas spiegelt. Wie aber diese Verhältnisse gegeben sind, erschließt sich nicht über das Bild des Spiegels, sondern nur über das Spiegel-sein des Spiegels. Insofern ist der Spiegel in seinem Gebrauch als Spiegel die vermittelnde Mitte zwischen dem Ding, das im Spiegel als Bild enthalten ist, und uns, die im Spiegel ein Bild sehen. Und erst der Begriff des Spiegels als vermittelnde Mitte erlaubt dann die Frage nach dem ontologischen Status des Bildes, das im Spiegel enthalten ist und sein Sein als Spiegel definiert.
Ohne hier die Spiegel-Metapher und damit auch die Widerspiegelungstheorie weiter explizieren zu können[6], kann doch gesagt werden, dass ein wesentlicher Teil der Diskussion um Georg Lukács zum Inhalt hat, ob und inwiefern nach dem Status des Bildes, das im Spiegel enthalten ist, gefragt werden kann, ohne zuvor das vermittelnde-Mitte-sein des Spiegels aufgeklärt zu haben; dies die Position Lukács’. Oder ob nicht zuvor allein schon aus logischen Gründen der Spiegel als vermittelnde Mitte begriffen sein muss, um dann erst den Status der in ihm enthaltenen Bilder aufklären zu können; dies ist die Position von Werner Krauss, Viktor Klemperer, Rita Schober, Manfred Naumann, Dieter Schlenstedt und vielen anderen. So schreibt Naumann in aller nur wünschenswerten Klarheit: „Auf die einfachste Formel gebracht, besteht die Divergenz ihrer (Lukács und Krauss, d.A.) Ansichten darin, dass Georg Lukács von der ‚Eigenart des Ästhetischen’ aus das Historische betrachtet, wodurch dieses der Tendenz nach zu einer Funktion des Ästhetischen wird; wohingegen für Werner Krauss das historische Prinzip den Standpunkt bezeichnet, der an das Ästhetische herangetragen werden muss, wodurch dieses als Funktion des Historischen, d.h. als Funktion der Gesellschaft, des gesellschaftlichen Subjekts, der gesellschaftlichen Klassen, Schichten, Gruppen und Individuen ins Blickfeld gerät.“ (Naumann 1984, 29) Rücken für Krauss und seine Nachfolger die Verhältnisse zwischen Autor, Werk und Rezipienten in den Mittelpunkt, muss für Lukács festgehalten werden: „Die geschichtliche Materie ist der Widerstand, den das ‚ästhetische Wesen’ zu überwinden hat, um die Logik seiner Kategorien durchzusetzen.“ (Naumann 1984, 28)
In diesem Beschreibungszusammenhang zeigt sich die Kontinuität und Bruchlosigkeit der theoretischen Entwicklung Lukács' – und zugleich in dieser Kontinuität die grundlegende Problematik der Vorstellung, dass das „ästhetische Wesen“ die „geschichtliche Materie“ zu überwinden habe, eine Problematik, an der Lukács in den vielen Anläufen, die er unternommen hat, letztendlich doch gescheitert ist. Am Ende der „Theorie des Romans“ heißt es bezüglich der Bedingungen, die eine „erneuerte Form der Epopöe“ ermöglichten: „Es ist die Sphäre einer reinen Seelenwirklichkeit, in der der Mensch als Mensch – und nicht als Gesellschaftswesen, aber auch nicht als isolierte und unvergleichliche, reine und darum abstrakte Innerlichkeit – vorkommt, in der, wenn sie einmal als naiv erlebte Selbstverständlichkeit, als die einzig wahre Wirklichkeit da sein wird, sich eine neue und abgerundete Totalität aller in ihr möglichen Substanzen und Beziehungen aufbauen kann, die unsere gespaltene Realität gerade so weit hinter sich läßt und nur als Hintergrund benützt, wie unsere gesellschaftlich-‚innerliche’ Dualitätswelt die Welt der Natur hinter sich gelassen hat.“ (Lukács 1971, 136/137) Das (klassische) Epos als Ursprung, Wesen und Norm des Ästhetischen, das in und durch das Gesellschaftlich-Geschichtliche zerstört wurde und seitdem seiner Wiederherstellung harrt: Der Aufklärung der Bedingungen der Möglichkeit[7] dieser Wiederherstellung ist Lukács Lebenswerk gewidmet. Was sich ändert, sind Gewichtungen bezüglich der je gegenwärtig gegebenen Ansatzpunkte dieser Wiederherstellung. In der „Theorie des Romans“ fungiert Tolstoi als Ende der Möglichkeit des Romans, Dostoevskij als der Anfang der Verwirklichung eines neuen epischen Zeitalters. „Erst in den Werken Dostojewskis wird diese neue Welt, fern von jedem Kampf gegen das Bestehende, als einfach geschaute Wirklichkeit abgezeichnet. Darum steht er und steht seine Form außerhalb dieser Betrachtungen; Dostojewski hat keine Romane geschrieben, und die gestaltende Gesinnung, die in seinen Werken sichtbar wird, hat weder bejahend noch verneinend etwas mit der europäischen Romantik des neunzehnten Jahrhunderts und mit den mannigfaltigen, ebenfalls romantischen Reaktionen gegen sie zu tun. Er gehört der neuen Welt an. Ob er bereits der Homer oder der Dante dieser Welt ist oder bloß die Gesänge liefert, die spätere Dichter, zusammen mit anderen Vorläufern, zur großen Einheit verflechten werden, ob er nur ein Anfang, oder schon eine Erfüllung ist: das kann nur die Formanalyse seiner Werke aufzeigen.“ (Lukács 1971, 137. Hervorhebungen von uns) Bekanntlich sollte die „Theorie des Romans“ die Vorbereitung und Einleitung eines großen Werkes zu Dostoevskij sein, in dem genau diese Formanalyse geleistet werden sollte. Und eben an einer solchen Formanalyse ist Lukács gescheitert und musste er scheitern, weil mit der Behauptung eines Wesens des Epos, abgelesen an den Werken der klassischen Antike und fundiert in der hierüber gewonnenen Vorstellung eines einfachen und homogenen Seins des Menschen als Menschen sowie des Seins einer nicht zerrissenen, widerspruchsfreien Totalität, das Werden eines Menschen zur Person über die Vielfalt von Verhältnissen (den Verhältnissen des Autors zu den von ihm im Werk gestalteten Akteuren, den Verhältnissen der Akteure im Werk zueinander, den Verhältnissen der Rezipienten zu den im Werk gestalteten Akteuren) gar nicht gedacht werden kann. Lukács spürte sehr genau, dass mit Dostoevskij etwas Neues, gegenüber der bekannten Romanform radikal Anderes begann; und dieser Stachel eines radikal Anderen durchzieht das Werk Lukács’, wie gerade der kleine Aufsatz über Dostoevskij noch zeigt, der in der Sammlung zum russischen Realismus enthalten ist. Doch jetzt interpretiert er Dostoevskijs Romane nur noch als „seelische Experimente mit sich selbst“ (Lukács 1953, 165), als künstlerische Darstellung der zeitspezifischen psychisch-ideologischen Problemlage bürgerlicher Dekadenz und bloßen Individualismus’, der völlig losgelöst sei vom „Leben des Volkes“.[8] Dostoevskij wird ihm so zum Modell seiner Opposition gegen die ästhetische Moderne, und diese Opposition ist fundiert in der geschichtsphilosophischen Konstruktion einer „transzendentaler Obdachlosigkeit“ vereinzelter Individuen, die in den Helden der Romane Dostoevskijs ihren klassischen Ausdruck gefunden habe.
Zum Ausweis der Möglichkeit eines „neuen Epos“, der Möglichkeit der Wiederkehr epischen Erzählens, wird ihm jetzt Tolstoi, dessen Romane als Romane bzw. aufgrund ihrer Romanform in der „Theorie des Romans“ noch der „Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit“ (Lukács 1971, 137) zugerechnet wurden. Nach dem Scheitern an der Formanalyse der Dostoevskijschen Romane schreibt er, „daß Tolstoi nach der dramatisch-novellistischen Phase der Balzac-Zeit den Roman wieder in die Richtung der eigentlichen Epik zurückführt. Denn die Hin- und Herbewegung innerhalb eines bestimmten und gesellschaftlich streng umgrenzten Lebenskreises gestattet – unbeschadet aller inneren Bewegtheit – eine viel größere epische Ruhe und Stetigkeit, als sie bei Balzac möglich gewesen ist.“ (Lukács 1953, 235)
Genau an dem Punkt, an dem Lukács gescheitert ist und durch dieses Scheitern zu einer die ästhetische Moderne abstrakt negierenden Position gezwungen wurde, setzt nun Michail Bachtin ein: bei der Formanalyse der Romane Dostoevskijs. Und zum Dreh- und Angelpunkt seiner Formanalyse wird ein Thema, das bei Lukács auch immer mit enthalten ist, allerdings in einer Gleichsinnigkeit, die die Verschiedenheit verdeckt: Monolog und Gespräch. So spricht Lukács in seiner großen Tolstoi-Analyse immer von der Funktion von Monolog und Gespräch in den Romanen Tolstois, lässt sie als Arten der homogenen Gattung epischen Erzählens erscheinen, ohne hierfür eine Begründung zu geben oder gar die mögliche Gattungsverschiedenheit von Monolog und Gespräch zu bemerken.
Die Perspektive Bachtins: Das Selbstbewusstsein der Dostoevskij’schen Helden als dialogisches Verhältnis
Die Problemstellung, Dostoevskijs Romane als prototypisch moderne Gestaltungen zu begreifen, übernimmt Michail Bachtin wohl von Lukács; sein methodischer Ansatz indes ist ein grundlegend verschiedener. Die Untersuchung über die „Probleme der Poetik Dostoevskijs“ beginnt nicht mit einer Interpretation der Texte Dostoevskijs, sondern mit einer Reflexion über bereits vorfindliche wissenschaftliche Rede- und Begriffsvorschläge. Schon zu Beginn steht Bachtins Projekt damit in einer die bloße Dostoevskij-Interpretation zum Anlass und Anfangspunkt weitergehender sprach- und kulturphilosophischer Überlegungen nehmenden Perspektive.
Die begutachteten hergebrachten Begriffsmittel zur Reflexion literarischer Gestaltung, so Bachtin, genügten allemal ihrem Gegenstand nicht, insofern mit ihnen der Gegenstand der Werke Dostoevskijs nur zu begreifen sei als „eine monologisch verstandene, objektivierte Welt als alleiniges Korrelat des Autorenbewußtseins“. (Bachtin 1971, 13) Das gilt auch für Lukács’ Interpretation des Schaffens Dostoevskijs als einfachem Ausdruck der spezifischen historisch-ideologischen Disposition des „bürgerlichen“ Autors. Gegen eine derartige Orientierung an der Ideologie des Autors rückt Bachtin nicht die Interpretation und Bewertung der Darstellung dieser oder jener ideologischen Problemlage in den Fokus seiner Überlegungen, sondern die Reflexion auf die besondere Form des Darstellens, die sich an Dostoevskijs Darstellung seiner erzählten Figuren zeige: „Dostoevskij interessiert sich für den Helden nicht als für eine Erscheinung der Wirklichkeit, die über bestimmte, festgelegte, sozialtypische und individuell-charakterologische Merkmale verfügt [...]. Nein, der Held interessiert Dostoevskij als jeweils besondere Möglichkeit, die Welt und sich selbst zu betrachten, als deutende und urteilende Position des Menschen sich selbst und der ihn umgebenden Welt gegenüber“. (Bachtin 1971, 53)[9] Gegenstand des Dostoevskij’schen Erzählens ist nicht eine gegenständliche „Figur“, sondern ein spezifisch geformtes Welt- und Selbstverhältnis. Das Bild des Helden, so Bachtin, „wird bei Dostoevskij zum Objekt der Reflexion des Helden selbst, Gegenstand seines Selbstbewußtseins; die Funktion dieses Selbstbewußtseins aber ist es, die der Autor sieht und darstellt“. (Bachtin 1971, 54) Die Form dieser Darstellung verbiete es nun, sie als monologisch, als ausschließlich auf den Autor oder Erzähler bezogen zu verstehen, denn „auch die äußere Welt und das äußere Leben [...] werden in den Prozeß der Selbsterkenntnis einbezogen, werden aus dem Blickfeld des Autors in das des Helden übertragen. [...] Dem Bewußtsein des Helden, das alles in sich aufnimmt, kann der Autor nur eine einzige, objektive Welt gegenüberstellen – die Welt anderer, ihm gleichberechtigter Bewußtseine“ (Bachtin 1971, 55), zu der konsequent auch die erzählende Instanz und der Autor zu rechnen sind. Als „gleichberechtigte“ bleiben diese Perspektiven gegeneinander notwendig unabgeschlossen; dies realisiere Dostoevskij, indem er die unterschiedlichen Perspektiven als sprachliche Weltverhältnisse gestaltet. Sie sind, wie Bachtin schreibt, „kein objektiviertes Bild, sondern ein vollwertiges Wort, eine reine Stimme“. (Bachtin 1971, 60) Dostoevskij ordne nicht gleichsam vorgängig vorhandenen Figuren gewisse Redeweisen, dialektale Färbungen im Jargon und Vokabular zu, sondern umgekehrt: „was“ die Helden „sind“, ergibt sich – gleichsam für sie selbst ebenso wie für den Autor und den Leser – erst in und durch ihr konkretes, kontextuell bestimmtes und geprägtes Reden und Sprachhandeln. Das „erkennende und urteilende Ich“ des dargestellten Helden ist in Dostoevskijs Erzählen nichts als die „Wechselbeziehungen“ mehrerer sprechender Ichs: „Dostoevskij hat den Solipsismus überwunden.“ (Bachtin 1971, 112) Das darf wörtlich verstanden werden, denn Bachtin rechnet Dostoevskij nicht allein die Erneuerung einer bestimmten, subjektivistisch orientierten ästhetischen Praxis zu, sondern sieht in seinem Schaffen zugleich die Überwindung des philosophisch-ideologischen „Monologismus“ als dem „Glauben an die Selbstgenügsamkeit des einen Bewußtseins“ und die „tiefe, strukturale Besonderheit des ideologischen Schaffens der Neuzeit“ (Bachtin 1971, 91) realisiert – also die Überwindung derjenigen Subjektphilosophie, als deren avancierten Ausdruck Lukács die Romane Dostoevskijs noch verstand und wegen der er sie am Ende, nämlich dem Scheitern an seinem Dostoevskij-Projekt, nur ideologiekritisch ablehnte.
Dialogizität als Formbestimmtheit des Sprechens
und Medialität der Sprache
Die Möglichkeitsbedingung für die Überwindung der Bewusstseinsphilosophie in der Lektüre und Aneignung der Romane Dostoevskijs sei, so Bachtin, in der Polyphonie seiner Erzählweise gegeben. Dostoevskij zeige die Redeweise seiner Figuren nicht einfach: er „bedient sich ihrer von innen für seine eigenen Ziele und läßt uns die Distanz zwischen seinem eigenen und diesem fremden Wort deutlich spüren.“ (Bachtin 1971, 212) Die Rede der Romanfiguren werde „nicht schlicht wiedergegeben und nachgebildet, sondern künstlerisch abgebildet“ (Bachtin 1979, 220), womit sie als stilisierte und parodisierte differenziert wird. Stets bediene sich Dostoevskij einer aktiven Wechselwirkung, eines Dialogs zwischen der erzählenden und der erzählten Rede: die Äußerungen und Wendungen, die der Redeweise von Figuren als Mittel ihrer sprachlichen Handlungen zugeordnet sind, entpuppen sich in der erzählenden Rede als Mittel zu ganz anderen Zwecken und vice versa; scheinbar selbstverständliche Äußerungen und Reden erweisen sich in ihrem Zwecküberschuss als doppelbödig, nicht letzthin eindeutig fixierbar: „Jedes Wort ist dialogisch gespalten, in jedem Wort wechseln die Stimmen unregelmäßig einander ab“. (Bachtin 1971, 247) Erst im Verhältnis dieser verschiedenen Stimmen als verschiedenen Instanzen zugeordnete Möglichkeiten, eine Rede zu verstehen, bestimmen sie sich dem Leser als Stimmen – und entziehen sich gleichzeitig letzter Bestimmbarkeit. Der je konkrete, kontextuelle Sinn, den Figuren- und Erzählerreden untereinander und im Verhältnis zum als Erzählung gelesenen und angeeigneten Text aufzuweisen scheinen, ist – wiewohl situativ adäquat – stets von der notwendigen Möglichkeit betroffen, sich unerwartet zu verschieben. „Dieser mögliche andere Sinn begleitet [...] das Wort wie ein Schatten. Seinem Sinne nach muß das Wort mit der Möglichkeit zur Ausflucht ein letztes Wort sein und es gibt sich als solches aus, aber in Wirklichkeit ist es nur vorletztes Wort und setzt nur einen bedingten, keinen endgültigen Punkt hinter sich.“ (Bachtin 1971, 262) Andernorts heißt es: „Die Sprache ist kein Neutrum, das rasch und ungehindert in das intentionale Eigentum des Sprechers übergeht; sie ist mit fremden Intentionen besetzt, ja überbesetzt“ (Bachtin 1979, 185); was ein Held sagt und meint, kann notwendig möglich auch „anders gemeint sein“; und stets ist, was der Held im jeweiligen Fall mit einem Ausdruck meinen kann, bestimmt durch die möglichen Gebräuche, die andere Sprecher vom selben Wort machen könnten, und durch den sozialen Konflikt mit ihnen.
Diese Überdeterminiertheit von Stimm- und Redevielfalt polyphonen Redens betrifft auch die Helden Dostoevskijs in ihrer Gestaltung als „Bewusstseine“, denn im polyphonen Ausdruck ist nicht nur das Wissen über die (dargestellte) Welt, sondern auch über „sich“, die Figur, den Erzähler und selbst den Autor gefasst. Ihnen allen ist das Verhältnis ihrer besonderen Reden das Medium, in dem sie sich in Form unterschiedlicher Redeweisen als Perspektiven besondern. Die im Verhältnis zueinander artikulierten und bestimmten Redeweisen sind die „Art zu denken und zu erleben, sich selbst und die [...] umgebende kleine Welt zu sehen und zu verstehen“. (Bachtin 1971, 231) Zugleich sind sie das singuläre Medium der Gegenstandsbestimmung; von Gegenständen „außerhalb“ ihrer kann nicht sinnvoll gesprochen werden. Im polyphonen Erzählen, so Bachtin, „zeigt sich der Mensch nicht nur von außen“ – indem er vom Autor wie eine hinreichend bestimmte Sache autoritär gezeigt wird – „sondern wird zum erstenmal das, was er ist [...]. Sein bedeutet, sich dialogisch zueinander verhalten“. (Bachtin 1971, 285; Herv. von uns) In einem späteren Text zur „Methodologie der Literaturwissenschaft“ sagt Bachtin über dieses Bildungsverhältnis, es sei „dies keine natura naturata, sondern natura naturans“ (Bachtin 1979, 349): das dargestellte dialogische Verhalten ist als dieses (als „Sein“) erst bestimmbar, wenn und sofern es dadurch geworden ist, dass sich Dostoevskij, und zu diesem wiederum der Leser selbst dialogisch verhält. Es sei Dostoevskijs Verdienst, in der Durchführung und Gestaltung dieses Sachverhalts nicht nur eine adäquate Neubestimmung der Möglichkeiten und Mittel künstlerisch-literarischer Darstellung, sondern zugleich die reflexive Erfassung der dargestellten Menschen als spezifisch unabschließbarer Bestimmung geleistet zu haben. „Solange der Mensch lebt, lebt er davon, noch nicht abgeschlossen zu sein und noch nicht sein letztes Wort gesprochen zu haben [...]. Der Mensch ist nie mit sich selbst identisch [...]. Das wahre Leben eines Menschen wird nur dann zugänglich, wenn man dialogisch in es einzudringen sucht, wenn es selbst antwortet und sich frei öffnet.“ (Bachtin 1971, 67)[10]
Hier überschreitet Bachtins Projekt in doppelter Hinsicht die Grenzen einer bloß literaturwissenschaftlichen oder ästhetiktheoretischen Diskussion. Was er im Verhalten zu Dostoevskijs Erzählen entdeckt und nur an seiner spezifischen Form entdecken kann, geht erstens über das Dostoevskij zugeschriebene Werk hinaus: Die funktionale Realisierung der Heldenperspektive in und durch ihr vielstimmiges Sprechen ist wie die Subversion und Überbestimmtheit potentiell jeder besonderen Rede ein formales Kennzeichen der Gattung Roman.
Zweitens und wichtiger findet die an Dostoevskij erarbeitete Überwindung der Bewusstseinsphilosophie systematisch Eingang in das Konzept dialektischer Sprach- und Kulturphilosophie, das Bachtin zusammen mit Valentin N. Volosinov entwickelt[11]. Die polyphone Rede im Roman zeigt sich anlässlich der Frage, wie das von Figuren und Erzähler Gesagte noch auf den Autor als Gestalter solcher dialogischen, parodistischen oder stilisierten Reden beziehbar sei. „Das Wort einer solchen Rede ist ein zweistimmiges Wort. Es dient gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus: die direkte Intention der sprechenden Person und die gebrochene des Autors“ (Bachtin 1979, 213); beide sich gleichsam „in der Äußerung“ überlagernden Perspektiven zeigen sich dem Leser in der Reflexion auf die unterschiedlichen ihm im Roman unterschiedlich nahe gelegten Intentionen. Die Rede von einem Verhältnis unterschiedlicher Stimmen im Text impliziert also je schon ein situatives, konkret sprachlich bestimmtes Verhalten des Lesers zu diesem Text. Was sich als die Form des Redens im Roman Dostoevskijs begreifen lässt, gilt auch für das alltägliche lebensweltliche Sprechen: „Eigentlich ist das Wort ein zweiseitiger Akt. Es wird in gleicher Weise dadurch bestimmt, von wem es ist, als auch, für wen es ist. Es ist, als Wort, genau das Produkt der Interaktion von Sprechendem und Zuhörendem“. (Volosinov 1975, 146) Als Äußerung ist es durch den Handlungskontext bestimmt, in dem ein Sprecher es verwendet und in dem es sich auch für ihn bestimmt: „die Situation bildet die Äußerung und zwingt sie, so zu klingen und nicht anders.“ (Volosinov 1975, 147)
Aus der bewusstseinsphilosophischen Perspektive eines autonomen, selbstgewissen Subjekts legen diese Überlegungen eine sprachskeptische Abwehr nahe; Lukács’ frühe Modellierung einer fragmentierten, nicht mehr darstellbaren Welt[12] ist eine ontologischer Reflex dieser Haltung. Bachtin und Volosinov dagegen argumentieren am Beispiel Dostoevskijs dafür, die Bestimmtheit des „Subjekts“ und seiner „inneren Erlebnisse“ ihrem Ausdruck nicht einfach vorauszusetzen, sondern dialektisch aufeinander zu beziehen. Die solcherart philosophisch geleitete Reflexion des individuellen Bewusstseins entspricht durchaus seiner Darstellung bei Dostoevskij: Es weiß sich und seine Erlebnisse als bestimmte erst im und durch den Ausdruck; es zeigt sich, „daß sich der Ausdruck weniger unserer inneren Welt anpaßt als unsere innere Welt sich den Möglichkeiten unseres Ausdrucks mit all seinen möglichen Wegen und Richtungen anpaßt“ (Volosinov 1975, 152) und durch sie gebildet wird. Das „Innere“ und sein Erleben ist, mit einer denselben Gedanken artikulierenden Formulierung Josef Königs, gleichsam die „Anfangsstrecke“ als „eine Art unterirdischen Geschehens“, die als solche erst von ihrem Ausdruck als Rede als Anfängliches bestimmt ist; „Rede und Wissen aber sind allerdings untrennbar.“ (König 1969, 52f. u. 63) Erst vom Ausdruck her wissen wir um das im Ausdruck bestimmte „innere Erlebnis“. Die „Struktur der Äußerung und des auszudrückenden Erlebnisses selbst ist eine gesellschaftliche Struktur“ (Volosinov 1975, 156), und umgekehrt: „Ein Denken, das nicht auf einen möglichen Ausdruck gerichtet wäre und folglich außerhalb der sozialen Orientierung dieses Ausdrucks stünde, gibt es nicht.“ (Volosinov 1975, 151)
Die Form der Rede ist im Roman wie im wirklichen Sprechen und Wissen determiniert von der gesellschaftlichen Stimmenvielfalt; hier wie dort sind die „Widersprüche von Individuen [...] lediglich die herausragenden Spitzen der gesellschaftlichen Redevielfalt, eines Elements, das sie spielt und unter seiner Gewalt widersprüchlich macht, ihr Bewußtsein und ihre Wörter mit seiner substantiellen Redevielfalt sättigt.“ (Bachtin 1979, 214) In der begrifflichen Verfügbarmachung dieser medialen Dimension der polyphonen Rede, in der Bestimmung des Verhältnisses von Rede und Sprache, besteht die philosophisch-systematische Funktion der Reflexion auf das spezifische Sprechen im Roman. Sie ist an der alltäglichen mitteilenden Rede als „einer praktisch interessierten Wiedergabe“ (Bachtin 1979, 227) nicht fassbar: die Vielstimmigkeit der Äußerung wird pragmatisch übergangen. Im Roman dagegen werden die unterschiedlichen, im „Romanwort“ sich interferenziell überlagernden „Stimmen“ und Jargons als unterschiedliche Sprachen „mit allen ihren direkten Darstellungsmitteln [...] zum Gegenstand der Darstellung, sie werden als Bilder von Sprachen gezeigt“ (Bachtin 1977, 188), genauer: sie werden als Redeweisen zum „Bild einer Sprache. Um aber zum künstlerischen Bild zu werden, muß die Sprache zur Rede im sprechenden Mund werden.“ (Bachtin 1979, 224f.) Das Bild des allgemeinen singulären Mediums Sprache zeigt sich im Roman als Darstellung des Verhältnisses besonderter Reden[13]: Nicht als durch Ähnlichkeitsrelationen strukturiertes Abbild, sondern als Bildung, in deren Verlauf sich das Dargestellte als Bestimmtes artikuliert und differenziert[14], abbildet und unmittelbar abgebildet wird.[15] Relativ zu diesem „Bild“ der Sprache als funktional differenziertem medialen Verhältnis lässt sich erstens sagen, „die Sprache“ existiere „nicht an und für sich, sondern nur zusammen mit dem individuellen Organismus einer konkreten Äußerung, eines konkreten Redeaktes“. (Volosinov 1975, 189) Zweitens ist mit ihm der Ausgang der Überlegung bei der Interpretation des „Romanwortes“ eingeholt: „Die Relativierung des sprachlichen Bewußtseins [...], die für dieses Bewußtsein unaufhebbare Notwendigkeit des indirekten, vorbehaltlichen, gebrochenen Sprechens – all das sind Voraussetzungen der authentischen Zweistimmigkeit des Wortes in der künstlerischen Prosa“ (Bachtin 1979, 215).
Erzählte Gattungsgeschichte statt Gattungsgeschichte
des Erzählens. Das Dialogische als logisch
Übergreifendes
Lukács konzipierte seine Untersuchung zur Entstehung des modernen Romans als geschichtsphilosophisch begründete Verfallsgeschichte. Vor dieser Folie ist die Beobachtung der Überdeterminiertheit jeglicher Rede durch den Zwecküberschuss der sprachlichen Mittel nur als Defizienzform eines vormals eindeutigen und fraglosen Sprechens und Verstehens zu begreifen; folgerichtig muss, da das Sprechen zumal in den Romanen Dostoevskijs als prototypischer Ausdruck solcher heillosen Polyphonie verstanden werden soll, umgekehrt das epische Erzählen als adäquate Ausdrucksform einer ursprünglich heilen Welt postuliert werden. Am Epos und im Gegensatz zu ihm als Urform des Erzählens entwickelt Lukács entsprechend die Begriffsmittel seiner Beschreibung des Romans als epischer Sonderform; die Entstehung der Romanform wird so als Produkt einer faktischen Geschichte der literarischen Gattungen präsentiert.
Bachtins Beschäftigung mit der Gattungsgeschichte hat einen grundsätzlich anderen Charakter. Beide Formen des Erzählens werden einander typologisch gegenübergestellt: „Im Epos gibt es einen einzigen und einheitlichen Horizont, im Roman gibt es deren mehrere, und der Held handelt gewöhnlich in seinem eigenen, besonderen Horizont.“ (Bachtin 1979, 222) Der ideologischen Geschlossenheit des Epos korrespondiert die eindeutige Rückbezogenheit seiner Darstellungsmittel auf den Autor: „Die epische Welt kennt nur die eine einheitliche und einzige, fertige Sprache“ (Bachtin 1989, 245), die, in der der epische Sänger seinen Monolog spricht. Zu bedenken und im Versuch der Verhältnisbestimmung zwischen Epos und Roman weiter zu analysieren bleibt auch, dass die monologische Form des Epos sich auch daraus ergibt, dass der Sänger genau nicht Subjekt seines Sagens ist, sondern medial fungiert als diejenige Instanz, durch die hindurch etwas Anderes und in deren Auftrag er spricht: Zum Epos gehört eben auch, dass der Sänger sich als durch Götter ausgewählt und daher zum Sagen erst legitimiert vorstellt.[16] Diese Merkmale sind durch den sozialen Zweck des Epos, die Vergegenwärtigung einer zumeist mythischen, stets jedoch legitimierend gebrauchten Vergangenheit, die genealogisch-geschichtsphilosophisch als Ursprung der Gegenwart imaginiert wird, motiviert:[17] „Absolute Vollendung und Abgeschlossenheit ist das hervorstechende Merkmal der epischen Vergangenheit.“ (Bachtin 1989, 224)
Demgegenüber sei der Roman „das einzige im Werden begriffene Genre, weshalb er das Werden der Wirklichkeit tiefer, wesentlicher, feinfühliger und schneller widerspiegelt. Nur er, der selbst im Werden begriffen ist, kann das Werden begreifen“ (Bachtin 1989, 214): Denn die Gegenstände der Darstellung im Roman sind ihrer Darstellung nicht vorausgesetzt. Erst rekonstruktiv ergeben sie sich in ihrer Bestimmtheit aus der Auseinandersetzung mit den Mitteln und der Form ihrer Darstellung. Wie seine Helden, die Menschen, kann der Roman „von seinem Wesen her nicht kanonisch“ sein. „Er ist das Formbare par excellence; er ist das ewig suchende, immer wieder sich selbst erforschende und alle seine konsolidierten Formen revidierende Genre.“ (Bachtin 1989, 250) Nach dieser Bestimmung ist der Roman – zugleich das „Formbare“ wie das „formende Genre“ – allerdings weder dem Epos einfach typologisch entgegengesetzt, noch als dessen geschichtsphilosophische Folgeform nachgeordnet. Die Rede vom Epos als monologischer, geschlossener Erzählform ist sinnvoll nur aus der Perspektive der am Roman entwickelten Begriffsmittel, der Monolog ist geradezu dadurch definiert, ein einstimmiger, defizienter Dialog zu sein. Damit ist die analytische Unterscheidung von Epos und Roman wie die zwischen dialogischem und (scheinbar) monologischem Wort als Selbstunterscheidung der beide Typen logisch übergreifenden dialogischen Romanform zu denken.
Freilich wäre damit auch die Darstellung der historischen Genese der Romanform, die Bachtin vorschlägt, als in sich dialogisch zu begreifen. Bachtin rekonstruiert die Entwicklung vom Epos zum Roman ausgehend von der Analyse der Darstellung in den Romanen Dostoevskijs und dem Urteil über ihre notwendige Unabschließbarkeit als wirklich gewordene notwendige Möglichkeit. Die Rekonstruktion selbst mit ihren darstellerischen Mitteln bleibt jedoch ebenso konkrete und situativ determinierte „Stimme“ wie die der Helden Dostoevskijs. Auch die in der Darstellung gebildete und artikulierte Geschichte der Gattung Roman bleibt notwendig unabgeschlossen und verlangt als Darstellung ihre Fortführung. „Es gibt kein erstes und kein letztes Wort, und es gibt keine Grenzen für den dialogischen Kontext [...]. Selbst ein vergangener, das heißt im Dialog früherer Jahrhunderte entstandener Sinn kann niemals stabil (ein für allemal vollendet, abgeschlossen) werden“ (Bachtin 1979, 357):[18] Selbst die monologischen Epen sind – notwendig vom Standpunkt des Romans aus betrachtet – eine Erscheinungsform des dialogischen Romans als Epos.[19]
Dialogizität als Tätigkeitsform oder Struktureigenschaft? Ausblicke
Bachtin zeigt, inwiefern das „moderne“ Erzählen Dostoevskijs nicht nur, wie Lukács meinte, ein Erzählen anderer Sachverhalte ist, sondern zugleich ein formal anderes Erzählen: Ein Erzählen, an dem sich zugleich das wissenschaftliche Reden über es selbst als eine Erscheinungsform seiner selbst begreifen lässt. Antizipiert Bachtin mit dieser Überlegung Motive (post)strukturalistischen Denkens? Oder formuliert er Probleme, die dann „poststrukturalistische“ Philosophen auch als die ihren erkannten? Im ersten Fall, der Antizipation, hätte er als Vorläufer des (Post-)Strukturalismus zu gelten, im zweiten Fall wäre er als zumindest unterschieden, möglicherweise sogar als verschieden vom (Post-)Strukturalismus bezüglich seiner Antwort auf ein beiden gemeinsames Problem aufzuweisen. Hierzu nur ein Hinweis, der eine systematische Rekonstruktion selbstverständlich nicht ersetzen kann.
Wenn Julia Kristeva in ihrem einflussreichen Aufsatz über Bachtin vermutet, dieser habe die formalistische Literaturanalyse „durch ein Modell ersetzt, in dem die literarische Struktur nicht ist, sondern sich erst aus der Beziehung zu einer anderen Struktur herstellt“, und sodann die Aufgabe einer literarischen Semiologie darin sieht, „Formalismen zu finden, die den verschiedenen Modi von Wort- oder Sequenzverknüpfungen im dialogischen Text-Raum entsprechen“ (Kristeva 1972, 346 u. 348), dann entscheiden sich Nähe und Ferne dieser Interpretation zu dieser Rekonstruktion der Überlegungen Bachtins an der Ausdeutung der dialogisch überdeterminierten Rede von der „anderen Struktur“. Kristevas Projekt ist dann insofern problematisch, als sie mit der Suche nach dem dialogischen „Textraum entsprechenden“ Strukturen anders als Bachtin und Volosinov nicht die konkrete situative Äußerung, sondern deren linguistische Abstraktion in den Fokus stellt. Ausgangspunkt auch des Vorschlags Kristevas ist, mit den Worten der Kritik Bachtins und Volosinovs, „die Fiktion eines einheitlichen und realen Gegenstands, die dem gegeben Wort entsprechen soll“ (Volosinov 1975, 139): die Beschreibung der Äußerung als Struktur. Ein solcher Versuch einer strukturalistischen Fassung der Dialogizität muss scheitern, insofern er die situative, individuelle Dialogizität als Effekt einer selbst monologisch bestimmten allgemeinen Struktur zu erklären sucht.
Bachtins Vorschlag dagegen insistiert auf der praktischen Bestimmtheit des „Worts“ als konkreter, situativer Äußerung und damit auf dem methodischen Vorrang der Pragmatik vor der Semantik. Erst im reflexiven Verhalten zur (selbst situativ) dargestellten Äußerungen im Roman kann ihre Überdeterminiertheit durch fremde Worte rekonstruktiv konstatiert werden. Eine epische Auffassung auch der Sprache ist durch die – und sei es wie von Kristeva nur als vorläufig gedachte – Ungestörtheit vom fremden Wort gekennzeichnet.[20] Bachtins Analyse der Redeform in Dostoevskijs Romanen resultiert umgekehrt in der Einsicht, dass schon das scheinbar eigene Wort als Mittel des Ausdrucks notwendig zugleich fremdes Wort sein können muss (gewesen sein können muss).
Die Entgegensetzung von Tolstoi und Dostoevskij, die sich unabhängig von Bachtin auch bei anderen Autoren findet[21], erlaubt also erstens den Nachweis der Verschiedenheit von Monologismus und Dialogizität. Dieser Nachweis ermöglicht zweitens die Frage nach dem Verhältnis dessen zueinander, was zunächst als verschieden aufgewiesen wurde: Handelt es sich bloß um zwei, weil verschieden, getrennt voneinander je für sich bestehende Gattungen? Oder lässt sich die Verschiedenheit von Monologismus und Dialogizität dialektisch rekonstruieren als Selbstunterschied einer dieser beiden Formen? Zumindest formal möglich wäre ja auch, dass – irgendwie – das Monologische das Dialogische übergriffe. Und je nachdem, welche dieser drei formal möglichen Thematisierungen der Verschiedenheit von Monologismus und Dialogizität verfolgt werden, ergeben sich drittens völlig verschiedene Konzeptualisierungen von Geschichtsphilosophie: Ausgehend vom Monologismus, entweder in der Form, dass dieser in seiner blossen Verschiedenheit von der Dialogizität oder als übergreifendes Allgemeines verstanden wird, ergibt sich eine Geschichtsphilosophie als Ursprungs-Erzählung. Ausgehend vom Dialogischen in seiner bloßen Verschiedenheit und also Getrenntheit vom Monologischen resultieren Vorstellungen einer Unmittelbarkeit des Präsentischen als Negation der Möglichkeit von Geschichtsphilosophie überhaupt.[22] Und ausgehend von der Dialogizität als dem sich selbst und sein Gegenteil, den Monologismus, übergreifenden Allgemeinen hätte eine Konzeptualisierung von Geschichtsphilosophie zu erfolgen, die rekonstruierend die Unmittelbarkeit des präsentischen vermittelt-Seins begreift als die gewordene Vermitteltheit des präsentisch unmittelbar-Seins. „Moderne“ und „Postmoderne“ liessen sich viertens begreifen nicht als aufeinander folgende und einander ablösende Epochen[23], sondern als je neu vorzunehmende Verhältnisbestimmung von Unmittelbarkeit des vermittelt-Seins (Präsenz, Gegenwart, Moderne) und Vermitteltheit des unmittelbar-Seins als gewordene und somit in ihrem geworden-Sein begriffene, immer schon vergangene Gegenwart (eben: Post-Moderne). Dass und inwiefern dieses schwierige, aber entscheidend wichtige sprachphilosophische[24] und dialektisch-begriffslogische Problem genau und als solches Gegenstand der philosophischen Bemühungen Derridas ist, wäre nun zu zeigen.
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[1] Gerade in dieser Hinsicht wäre die Frage zu klären, wie Lenin selbst zu seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“ gestanden hat. Dass es sich bei diesem Buch um ein politisches Buch handelt, ist klar, wollte er doch seine politischen Bündnispartner, die „Empiriokritizisten“ (Bogdanov u.a.), von der Falschheit ihrer Philosophie, seinen philosophischen Bündnispartner (Plechanow) von der Falschheit seiner Politik überzeugen. Später aber, nachdem Lenin Hegel gelesen hat, formulierte er als These, dass man Marx nicht ohne Hegel verstehen könne. Was also hat Lenin in „Materialismus und Empiriokritizismus“ ohne Hegel-Kenntnisse von Marxens Philosophie verstehen können und verstanden? Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus bezüglich der Widerspiegelungstheorie? Kann sie – nach der Lektüre Hegels – noch als Erkenntnistheorie formuliert werden, so wie es Lenin vor der Hegel-Lektüre tat? Oder hat sie nach der Hegel-Lektüre einen logisch-ontologischen Status, den Lenin vor der Hegel-Lektüre schlichtweg nicht formulieren konnte. Zumindest Lenin selbst ist nicht mehr auf „Materialismus und Empiriokritizismus“ zu sprechen gekommen – und erst recht finden sich keine Formulierungen, diese sei die Erkenntnistheorie des Marxismus.
[2] Ist der Gedanke an Lenins Situation, der sich fast unmittelbar aufdrängt, so ganz falsch? Oder könnte es sich um eine vergleichbare Situation im Verhältnis von Philosophie und Politik handeln?
[3] Ist es nicht gut dialektisch, wenn die Begriffe Sein, Tun und Denken ganz eng zusammengeführt werden? Genau dies macht Derrrida in „Marx' Gespenster“; vergl. ders. 1995, S. 46. Und wenn „sprechend Denken“ ein Tun und eben keine Handlung ist: werden da nicht die Umrisse einer nicht-analytischen Sprechakttheorie deutlich, die nicht nur auf die Debatte zwischen Derrida und Searle verweist, sondern eben und genau auch auf die Tradition dialektischer Sprachphilosophie, wie sie sich bei Hegel und bspw. König finden? Dann wäre Derridas Philosophieren ein Unterschied im dialektischen Denken, aber keine Verschiedenheit zum dialektischen Denken.
[4] Was sicherlich keinen Einwand gegen Derrida darstellt und darstellen kann. Denn wer könnte von sich beanspruchen, eine der Hegelschen oder Marxschen äquivalente Rekonstruktionsarbeit geleistet zu haben und so über einen Begriff der Gegenwart zu verfügen?
[5] Dies ist ontologisch höchst folgenreich, wird doch gegen Transzendentalphilosophien und Konstitutionstheorien logisch-ontologisch der Vorrang der Wirklichkeit vor ihrem Möglichsein begreifbar.
[6] Vgl. neben den einschlägigen Arbeiten von Holz weiter König 1969; ders. 2005; Blasche, Gutmann & Weingarten (Hrsg.) 2004; Weingarten 2003
[7] Das dialektische Primat der Wirklichkeit vor der Möglichkeit findet in Lukács’ Werk seine genaue Umkehrung und zeigt es so als transzendentalphilosophische Konstitutionstheorie.
[8] Um die Kontinuität und Bruchlosigkeit der Lukács’schen Theorie aufzuschlüsseln, wäre eine Analyse seiner Rede von „Leben“ äußerst instruktiv. Es handelt sich bei diesem Terminus u.E. um eine, wenn nicht sogar die Zentralkategorie bei Lukács, aus der der Totalitäts-Begriff, das ästhetische Maß des Menschen, sein Blick auf den Kommunismus, sein Dialektik-Verständnis u.v.a. nahezu direkt abgeleitet werden können.
[9] Bereits hier ist die Möglichkeit wichtig, die Rede von der „Selbsterkenntnismöglichkeit des Menschen“ doppelt, nämlich als auf den erzählten Helden bezogen wie auch als allgemeine Aussage zu verstehen.
[10] Vgl. hierzu die verblüffende argumentative Analogie zwischen Bachtin und Derrida 1988a, 134.
[11] Nach Mitteilung des Herausgebers in Bachtin (1979) ist Bachtin wenigstens die Konzeption der 1929 – im selben Jahr wie die Erstausgabe des Dostoevskij-Buchs – allein unter Volosinovs Namen publizierten Arbeit „Marxismus und Sprachphilosophie“ zuzuschreiben; vgl. Bachtin 1979, 13. Zwar muss die Zurechnung der Autorschaft insgesamt noch als ungeklärt gelten; vgl. aber immerhin die Argumente bei Bernard-Donals 1994.
[12] Vgl. Lukács 1971, 44
[13] Bachtin charakterisiert dieses Verhältnis als „sozialen Dialog der ‚Sprachen’ [...] im Rahmen einer einzigen Nationalsprache“ (Bachtin 1979, 177).
[14] Diese Ausdeutung legt auch die theoriegenetische Herkunft des Bildbegriffs („Obraz“) von der Übernahme Hegelscher Terminologie in die russische ästhetiktheoretische Diskussion durch V.G. Belinskij nahe; vgl. die Anmerkung des Übersetzers in Bachtin 1977, 192f. (Anm. 5).
[15] Vgl. Bachtin 1979, 223.
[16] Man vergleiche hierzu nicht nur die Eingangspassagen in Hesiods „Theogonie“, sondern auch die Anfangszeilen der Fragmente von Parmenides. Die Verbindung von literarischer Form und Philosophie, die den „Poststrukturalisten“ und „Dekonstruktivisten“ vorgeworfen wird als unzulässige Vermischung verschiedener Gattungen, zeigt sich in gewisser Weise als konstitutives Moment des Anfangs systematischen Philosophierens!
[17] Vgl. Bachtin 1989, 227f.
[18] Nur am Rand sei hinsichtlich dieser dialogischen Formbestimmtheit von „Kontext“ verwiesen auf Derridas nachgerade klassischen Ausführungen; vgl. Derrida 1988b, 12.
[19] Daher ist auch ganz unproblematisch, wenn Bachtin mitunter gegen die literaturgeschichtlichen Konventionen den Beginn der Gattung Roman mal bei Cervantes, mal in den sokratischen Dialogen beginnen läßt. „Roman“ und „Epos“ als analytisch-typologische Unterscheidungen am Roman sind als Unterscheidungen durchaus epochen-, wenngleich auch nicht situationsinvariant.
[20] Vgl. Bachtin 1979, 169.
[21] Vgl. etwa Doerne 1969; Steiner 1990.
[22] Vgl. etwa Gumbrecht 2004.
[23] So der u.E. unhaltbare Vorschlag Lyotards, aber eben nicht der Derridas.
[24] Hier überhaupt sprachphilosophische Probleme zu sehen ist weiten Teilen der marxistischen Philosophie verborgen geblieben; vielleicht liegt gerade in diesem Defizit einer der Gründe, warum marxistische Philosophen dem Dekonstruktivismus hilflos und ablehnend gegenüberstehen. Bezüglich der Einsicht in die Notwendigkeit einer Sprachphilosophie im dialektischen Philosophieren ist Hans Heinz Holz – wie in vielen anderen Problemzusammenhängen ja auch – eine der großen Ausnahmen. Ausgehend von dem frühen Buch „Sprache und Welt“ 1953, seinen Studien zu Bloch und Benjamin, „Macht und Ohnmacht der Sprache“ 1962, der „Kritischen Theorie des ästhetischen Zeichens“ 1973 bis zu der mehrbändigen „Ästhetischen Theorie der bildenden Künste“ hebt er immer wieder den systematischen Zusammenhang von sprachphilosophischer Reflexion und dialektischer Systematik hervor. Insofern steht Holz selbst in unmittelbarer Nähe zu den Problemformulierungen Derridas; deutlich wird dies weiter auch und gerade in der Betonung der Notwendigkeit des Gebrauchs von Metaphern sowie der begrifflichen Reflexion dieses Gebrauchs. Mit diesem Hinweis sollen Unterschiede zwischen beiden sowie eine mögliche Verschiedenheit der Antworten auf das gemeinsame Problem nicht überdeckt werden.