Seit der Wahl in Nordrhein-Westfalen vor drei Monaten gehen die politischen Uhren in der Bundesrepublik schneller. Bei Abschluss des letzten „Z“-Heftes standen Neuwahlen noch nicht zur Debatte. Die Formierung eines linken Wahlbündnisses mit Blick auf die BT-Wahl 2006 war ein umstrittenes Zukunftsprojekt. Die durch den Ausgang der NRW-Wahl geschaffene Konstellation – der Absturz der Koalition von SPD und Grünen mit ihrer Agenda-Politik, der von den angekündigten Neuwahlen ausgehende Handlungszwang, die Perspektive einer weiteren Verschiebung der politischen Achse nach rechts – hat zugleich den Raum für eine politische Umgruppierung auf der Linken geöffnet. Sie bezieht ihre Dynamik aus der berechtigten Erwartung der Bündelung und Freisetzung einer in den letzten Jahren aufgestauten Ablehnung der Destruktion des Sozialstaats, die sich bisher in sozialen Protestbewegungen und bei Wahlen in zunehmender Enthaltung äußerte. Nun hat die Gründung der WASG im Westen und ihr Zusammengehen mit der Linkspartei/PDS zu einem plötzlich attraktiven, weil aussichtsreichen Pol auf der Linken geführt. Zu Chancen, Erwartungen und Problemen des Linksbündnisses äußern sich in diesem Heft eine Reihe unserer Autorinnen und Beiratsmitglieder. Darüber, welche Rolle marxistisches Denken und sozialistische Zielsetzung im Rahmen des neuen Linksbündnisses spielen werden und können, wird nach den Wahlen weiter zu diskutieren und streiten sein.
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Die Ausbildung prekärer, unsicherer Arbeitsverhältnisse, die Spaltung der Lohnabhängigen in relativ gesicherte Stammbelegschaften, abstiegsbedrohte Randbelegschaften, nur zeitweilig Beschäftigte, kurz- und langfristig Arbeitslose und einen wachsenden Sektor der Armut ist charakteristisches Moment des gegenwärtigen Kapitalismus. Dazu gehören Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, Abbau sozialstaatlicher Sicherungen und zunehmende innerbetriebliche Konkurrenz. Deren Auswirkungen auf Arbeitsgestaltung, soziale Desintegration und gesundheitlichen Verschleiß der Arbeitskraft sind Gegenstand des Schwerpunktes. Klaus Dörre und Tatjana Fuchs zeigen, wie der „neue Geist des Kapitalismus“ die Kritik an tayloristischen Arbeitsverhältnissen unter heutigen Bedingungen der Produktivkraftentwicklung in neue Formen flexibler Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse umsetzt und zugleich die Ausweitung der prekären Beschäftigungsverhältnisse zur Verunsicherung und Disziplinierung auch der Kernbelegschaften nutzt. Der Kampf um Verbesserung der Arbeitsverhältnisse erfordert als Eckpfeiler eine Strategie der „Entprekarisierung“ – das aber kann nur ein gesamtgesellschaftlicher Kampf sein. Kai Michelsen und Kai Mosebach analysieren die Tendenzen sozialer Desintegration der Gesellschaft anhand von Materialien des 2. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Sie konfrontieren die Ergebnisse neoliberalen Sozialstaatsabbaus mit den Zielen von Armutsbekämpfung und Förderung von Teilhabe und Selbstverwirklichungschancen, wie sie mit der Agenda-Politik versprochen wurden. Ein wesentlicher Aspekt zunehmender sozialer Ungleichheit ist das erhöhte Gesundheitsrisiko von Armen, Erwerbs- und Langzeitarbeitslosen, das seinerseits zur Verschlechterung ihrer Lebenslagen und -chancen beiträgt. Die gesundheitlichen Folgen der Veränderungen, wie sie mit der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse in der heutigen Arbeitswelt verbunden sind, untersuchen Klaus Priester und Jürgen Reusch anhand amtlicher Materialien und Studien. Von insgesamt gesunkenen Arbeitsbelastungen kann keine Rede sein. Verbesserungen stehen mit dem Wandel der Wirtschafts- und Branchenstrukturen in Zusammenhang, starke körperliche Belastungen sind auch im Zeitalter der Informationstechnologien gang und gäbe. Die psychischen Belastungen durch Stress, Arbeitsverdichtung und erhöhtes Arbeitstempo haben zugenommen. Bei einer langfristigen Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse insgesamt bleibt die Arbeitswelt ein Krankmacher erster Güte und zeigen sich ausgeprägte soziale Differenzierungen bei Häufigkeit und Schwere von Erkrankungen. Eine Offensive präventiver Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt ist notwendig.
Die Auseinandersetzung um Erhalt, Abbau oder Umbau des Sozialstaats ist zentraler Gegenstand der sozialpolitischen Auseinandersetzung, Feld des Klassen- und Verteilungskampfes. Dies wird auch unter den neuen Bundesregierung so sein. Zuletzt hatte sich Kai Eicker-Wolf in Z 62 mit einer Reihe von Argumenten auseinandergesetzt, die zur Begründung der Sozialstaatsdemontage vorgebracht werden. Im vorliegenden Heft sind diesem Thema drei Beiträge gewidmet. Joachim Bischoff untersucht „Strukturen und Kultur des Vermögenskapitalismus“. Er konstatiert eine Phase verschärfter Konkurrenz seit Mitte der siebziger Jahre und eine Machtverlagerung von Managern zu Kapitaleigentümern. Der Zwang zur Steigerung der Eigenkapitalrendite und die Ausrichtung am Börsenwert der Unternehmen haben die Triebkräfte freigesetzt, die zur Unterminierung der Sozialverfassung der Bundesrepublik führen. Jürgen Leibiger geht den Auswirkungen der Alterung der Gesellschaft auf die verschiedenen Sozialsysteme nach und prüft die Einnahmen- und Ausgabenseiten. Die Dramatik der demografischen Veränderung wird überzeichnet, die sozialstaatlichen Systeme sind in Zukunft finanzierbar, ihre Privatisierung vergrößert die Kosten; breit und einheitlich angelegte Sicherungssysteme sind krisenfester. Die Verteidigung des Sozialstaats unter heutigen Bedingungen erfordert aber, so Brigitte Stolz-Willig, ein neues Leitbild, das die Veränderungen im System der gesellschaftlichen Arbeit, in den Familien- und Geschlechterverhältnissen und in der Sozialstruktur berücksichtigt, das die Belange der aus der Erwerbsarbeit Ausgegrenzten aufnimmt und alle Beschäftigungs- und Einkommensarten zur Finanzierung heranzieht.
Ein Themenschwerpunkt ist Lateinamerika gewidmet, wo mittlerweile in mehreren Ländern Mitte-Links-Parteien die Regierung stellen. Dieter Boris, Stefan Schmalz und Anne Tittor fragen nach dem Niedergang, Verfall oder gar dem Ende der neoliberalen Hegemonie in diesen Ländern. Sie konstatieren eine Schwächung der Hegemonie des Neoliberalismus, gleichzeitig aber eine Reorganisation der bürgerlichen Hegemonie. Aktuelle Literatur wird in einem umfangreichen Rezensionsartikel (Boris) vorgestellt.
Weitere Beiträge: Andreas Wehr analysiert die gescheiterten Referenden und den weiteren Gang in der Auseinandersetzung um die europäische Verfassung. Thesen zur historischen Rassismus-Forschung stellt Wulf D. Hund vor. Theoretischen Fragen der Kapitalismus-Analyse gehen Eva Müller (Grundlagen volkswirtschaftlicher Gesamtanalysen) und Karl Hermann Tjaden nach, der das kürzlich erschienene Buch von Georg Fülberth zu Geschichte und Substanz des Kapitalismus bespricht. Konferenzberichte und eine aktuelle Literaturschau beschließen das Heft.
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Zu unserem großen Bedauern müssen wir über den überraschenden Tod unseres Beirats Ulrich Briefs informieren. Die letzte Email an Ulli Briefs vom Mai dieses Jahres blieb unbeantwortet. Dann erreichte uns die traurige Nachricht von seinem Tod. Er ist am 6. Juni in Posterholt/NL im Alter von nur 65 Jahren verstorben. Ulrich Briefs hat ein interessantes, bewegtes Leben geführt, und er hat politisch vieles bewegt. Nach Studium von Volkswirtschaft, Soziologie, Geschichte und Sprachen in München 1959-1966 arbeitete er zuerst in der Planungsabteilung von Thyssen Röhrenwerke, dann als EDV-Spezialist im Rechenzentrum von IBM. Von dort wechselte er in das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut des DGB, zuerst in den Bereich „Zukunftsforschung“, dann ab 1974 in das Referat Rationalisierung, Technologie, Mitbestimmung. Hier begründete er seinen weit über die Gewerkschaften hinausreichenden Ruf als Kritiker der neue IuK-Technologien, ihrer betrieblichen Anwendung und gesellschaftlichen wie kulturellen Implikationen. „Anders produzieren – Anders arbeiten – Anders leben“, „Informationstechnologien und Zukunft der Arbeit“, „Arbeiten ohne Sinn und Perspektive“ lauteten Titel seiner gerade in der Periode des Aufkommens der neuen EDV- und Computertechnologien viel gelesenen Bücher. Für viele Jahre arbeitete Ulli Briefs an Hochschulen in Frankreich (Paris), Dänemark und in der Bundesrepublik, ab 1991 im Bereich „Angewandte Informatik“ der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Informatik und Gesellschaft. Über zwei Wahlperioden – von 1987 bis 1994 – war Ulli Briefs Mitglied des Bundestages – bis 1990 als Mitglied der „Grünen“, dann als Parteiloser für die PDS/LL, ab 1991 fraktionslos. Später gehörte er der SPD an, aus der er 2005 austrat. Ulli Briefs ging mit seiner unkonventionellen, oft auch eigensinnigen, grenzüberschreitenden und nicht einbindbaren Art Konflikten nicht aus dem Weg. Er gehörte zum Herausgeberkreis bzw. Beirat von „Z“ seit Anfang an. Seine Kollegen an der Uni Bremen haben ihn in ihrem Nachruf „einen unerschrockenen Kritiker der gesellschaftlichen Verhältnisse und Kämpfer für die gerechte Sache“ genannt. So werden wir ihn in Erinnerung behalten.
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Am 22. Oktober findet in Köln eine Tagung zur „Aktualität der marxistischen Klassentheorie“ statt, die von „Z“ mit getragen wird. Wir bitten um Anmeldung. Näheres kann der Anzeige auf der zweiten Umschlagseite in diesem Heft entnommen werden.