Auseinandersetzung um den Sozialstaat

Neuer Kapitalismus?

Strukturen und Kultur des Vermögenskapitalismus

September 2005

Überraschend hat der SPD-Vorsitzende Müntefering eine Debatte über die Strukturen des gegenwärtigen Kapitalismus angestoßen. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht die Frage, ob mit den in den letzten Jahren gewaltig an Macht gewonnenen Fonds (Pension, Investment, Hedge, Private-Equity) eine neue Qualität herangewachsen ist. Die Faustformel, dass diese Fonds und ihre Akteure realexistierende kapitalistische Verwertungsstrukturen kahl fressen und nach der Zerstörung des Sozialen weiterziehen, ist inhaltlich und politisch fragwürdig. Umgekehrt kann die Versicherung, dass im Vergleich mit anderen kapitalistischen Metropolen „der Einfluss von Finanzinvestoren in Deutschland gesamtwirtschaftlich gesehen noch relativ gering ist“ (Berens u.a. 2005) auch nicht beruhigen. Wir kommen um eine Auseinandersetzung mit der veränderten Qualität von Finanzinvestitionen nicht herum, wenn wir die Struktur und die Entwicklungstendenzen der modernen kapitalistischen Gesellschaften verstehen wollen.

In der Frage nach der Hegemonie der Finanz- und Kapitalmärkte steckt zudem politische Brisanz, weil die aus der Kapitalakkumulation hervorwachsende Gewichtverschiebung zu Gunsten des Finanzkapitals erst dadurch ihre Machtentfaltung gewinnt, dass die lange Zeit existierenden Kontroll- und Regulierungsmodi durch politische Akteure beseitigt wurden. Besonders überraschend ist dabei, dass in Europa die Sozialdemokratie, respektive die „Mitte-Links“-Parteien, diese Entfesselung des Kapitalismus betrieben haben. Zu Recht fragt Friedhelm Hengsbach mit Blick auf die Politik von Rot-grün: „Wieso hat die rot-grüne Koalition einer solchen Propaganda, die den Sozialstaat zerredet, keinen wirksamen Widerstand entgegen gesetzt? Immerhin hat der Sozialstaat Verfassungsrang – mit den Komponenten des Arbeitsrechts, der Tarifautonomie, der Betriebsverfassung und Mitbestimmung sowie der solidarischen Sicherungssysteme und der sozialen Fürsorge.“ (Hengsbach 2005: 159) Zugespitzt lautet die These: „Gerade die Sozialdemokratie stand in den vergangenen Jahren für aktionärsorientierte Reformen und die Auflösung des organisierten, managerzentrierten Kapitalismus deutschen Typs.“ (Höpner 2005) Die Sozialdemokratie ordnete sich mit dieser politischen Strategie in den europäischen Verbund der „Links“parteien ein, die mit Deregulierung und Privatisierung den Siegeszug des Aktionärs- oder Vermögenskapitalismus in Europa ermöglicht haben (vgl. ausführlicher Bischoff 2005). Damit ist die Frage nach einer neuen Qualität des Kapitalismus unabweisbar geworden.

1. Ende des sozialen Kapitalismus?

In den letzten Jahren hat sich eine Debatte über die Krise des fordistischen und die Strukturen und Kultur eines neuen Kapitalismus entwickelt. Bislang zeichnet sich in der marxistischen oder kritischen Theorie keine breit akzeptierte Erklärung über den seit Mitte der 1970er Jahre in allen kapitalistischen Hauptländern einsetzenden Prozess der Veränderung von Akkumulations- und Klassenstrukturen ab. Das Stichwort „Fordismus“ steht für: „Die Macht der Großunternehmen, eine standardisierte Arbeitsorganisation und mächtige Gewerkschaften sorgen für die Dominanz dieser kollektiven Regulierungsformen. Die Arbeiter, die sich zu großen Verbänden zusammenschließen und von ihnen vertreten werden, beugen sich den Anforderungen des sich entwickelnden Industriekapitalismus und profitieren im Gegenzug von umfassenden Sozialleistungen auf der Basis stabiler Beschäftigungsbedingungen (...) Die beiden Pfeiler, auf denen die kollektiven Sicherungssysteme errichtet wurden – der Staat und die homogenen sozioprofessionellen Gruppen –, beginnen nun seit den 70er Jahren brüchig zu werden.“ (Castel 2005: 55) Der Übergang von den fordistisch geprägten Sozialstrukturen im 20. Jahrhundert hin zur Flexibilisierung und Prekarisierung der gesellschaftlichen Arbeit schlägt sich in einer politischen Ökonomie der Unsicherheit nieder, deren Auswirkungen in allen Bereichen der Gesellschaft nachweisbar sind. Zugespitzt: die soziale Sicherheit und der soziale Zusammenhalt fällt der Flexibilität zum Opfer. „Die soziale Unsicherheit schafft nämlich nicht nur Armut. Wie ein Virus, der das Alltagsleben durchdringt, die sozialen Bezüge auflöst und die psychischen Strukturen der Individuen unterminiert, wirkt sie auch demoralisierend, als Prinzip sozialer Auflösung. Sie zersetzt den Charakter, wie es bei Richard Sennett in anderem Zusammenhang heißt. Sich in einer Situation ständiger Unsicherheit zu befinden bedeutet, weder die Gegenwart meistern noch die Zukunft positiv gestalten zu können.“ (ebd.: 38) Für diese Zerstörung des sozialen Kapitalismus sind drei Entwicklungszusammenhänge wesentlich:

· Zum einen entwickelt sich auf Grundlage einer chronischen Überakkumulation von Kapital ein neues Finanzregime (Aglietta/Reberioux 2004); mit der Vorherrschaft der Finanzmärkte setzt sich eine folgenreiche Verschiebung im Unternehmen zu einer veränderten Machtstruktur durch, bei der die Investoren oder ihre Vertreter weitaus stärkeren Einfluss auf die Unternehmenspolitik und -strategie nehmen. Es geht um eine Machtverschiebung oder einen Machtwechsel von den Managern zu den Anteilseignern oder Investoren der Großunternehmen. „Anfangs glaubten die Manager, es mit Investoren zu tun zu haben, wie sie ihnen aus der Vergangenheit vertraut waren, also mit weitgehend passiven Institutionen und Individuen (...). Aber die Manager mussten bald feststellen, dass sie sich getäuscht hatten. Aus Investoren wurden aktiv Einflussnehmende.“ (Sennett 2005: 35) Die Machtverschiebung entwickelt sich mit dem Auftreten der Kapitalfonds und dem Agieren der professionellen Vermögensverwalter.

· „Dieser Machtwechsel führte zu einer zweiten neuen Entwicklung. Die nun weitaus mächtigeren Investoren wünschten eher kurzfristige Ergebnisse als langfristige Erfolge.“ (ebd.: 36) Es entwickelt sich eine Verschiebung von der substanz- zur ertragswertorientierten Unternehmensbewertung. Diese Ausrichtung befördert die Konzentration auf das Kerngeschäft und eine entsprechende Neuorganisation der jeweiligen Unternehmensnetze. Die realen Wertschöpfungs- und Verwertungsprozesse in den Unternehmen geraten unter Druck, jeder Zeit optimale Renditen auszuweisen. Das hat weiterreichende Folgen für die Innovationen und Umwälzung der Wertschöpfungskette (Hack/Hack 2001): Statt eigener Entwicklung und Forschung verlagert sich das Schwergewicht auf Zukäufe und Unternehmensbeteiligungen; dies zielt neben der Abrundung von Marktanteilen auf die Aneignung von Innovationspotenzial, weil im verschlankten und auf den Shareholder value ausgerichteten betrieblichen Wertschöpfungsprozess die Weiter- und Neuentwicklung zu kurz kommt.

· Eine dritte Herausforderung ergibt sich durch die Informations- und Kommunikationstechnologien. Dies ermöglicht eine neue Form von Zentralismus und eine schlankere Unternehmungsführung. Die Automatisierung von geistiger Arbeit und die zentralere Steuerung und Kontrolle der betrieblichen Wertschöpfungskette bedingt eine massive Produktivitätssteigerung und Intensivierung der Arbeit. Die Konsequenz der Steuerung von flexiblen Arbeitsprozessen zeigt sich in der Massenarbeitslosigkeit und einem sich ausweitenden Autonomieverlust. „Eine der seltsamsten Konsequenzen der Herrschaft des Flexiblen Kapitalismus besteht darin, dem Leben der Mittelklasse die Orientierung zu nehmen, ihr insbesondere die typische Erfahrung der Mittelklasse zu rauben, nämlich die Erfahrung der Autonomie.“ (Sennett 2000: 440)

Die Ausrichtung des Kapitals nach optimalen Anlagemöglichkeiten und schnellen Gewinnen ist keineswegs neu. Gleichermaßen ist die Beteiligung an einer Unternehmung über Aktien keineswegs ein neues Phänomen im Kapitalismus. In den zurückliegenden Entwicklungsphasen sicherte die Dividendenausschüttung die Bindung von Aktionären an die Unternehmung. Heute stellt die Beteiligung der Aktionäre über die Gewinnausschüttung ein untergeordnetes Moment dar. Die Aktie verliert den Charakter einer längerfristigen Bindung zwischen den innovativen Unternehmungen und den Eigentümern. Was sich im Unternehmen als Veränderung der Corporate Governance (Machtstruktur) zeigt, drückt beim Eigentümer die Verschiebung zu Capital gains aus. „Je unwichtiger die Dividende im Verhältnis zur Wertsteigerung der Aktie (Capital gains), desto größer der Anreiz, an der Wertsteigerung der Aktien durch (teilweisen) Verkauf zu partizipieren.“ (Hinterhuber 2000)

Zugleich verändert sich das Verhältnis des Aktionärs zum Unternehmen. Die Rentabilität des Aktieninvestments setzt sich aus Dividendenzahlung und Kurssteigerung (Capital gains) zusammen. „Während die Dividendenrendite seit den 50er Jahren konstant zwischen 8% und 13% blieb, liegt sie heute etwa bei 1,3%; demgegenüber stiegen die Capital gains von durchschnittlich minus 1% in den 60er Jahren auf teilweise über 10% pro Jahr in den 80er und über 20% in den 90er Jahren an.“ (ebd.)

Zur Einschätzung dieser Entwicklungstrends gehört ferner, dass zunächst nur die Kapitalgesellschaften unter Druck der Finanzmärkte und der organisierten Vermögensverwalter geraten. „Die drei beschriebenen Entwicklungen sind heute nur für ganz bestimmte Wirtschaftsbürokratien bedeutsam. Es handelt sich um große Aktiengesellschaften, die in der Lage sind, die fortgeschrittenen Technologien zu nutzen (...). Die Mehrheit der Unternehmen in Amerika und Großbritannien hat dagegen weniger als 3.000 Beschäftigte. Viele agieren nur in ihrem lokalen Umfeld oder befinden sich in Familienbesitz.“ (Sennett 2005: 39) Mit dieser Einschränkung ist die Frage aufgeworfen, ob die oben skizzierten Veränderungen überhaupt für die kapitalistischen Metropolen charakteristisch sind.

2. Kapitalgesellschaften und Familienunternehmen

John Kenneth Galbraith widerspricht in seiner jüngsten Veröffentlichung der These von einer Transformation in einen Vermögens- oder Aktionärskapitalismus. Er hält an der Einschätzung fest, „dass in der modernen Volkswirtschaft die Konzerne eine beherrschende Stellung einnehmen und dass die Macht in diesen Unternehmen von den Eigentümern, den Aktionären (heute auch ehrerbietiger ‘Investoren’ genannt), auf das Management übergegangen ist. In den Unternehmen ist es zu einer Wachablösung gekommen. Und das Management hat die Oberhand gewonnen.“ (Galbraith 2005: 11) Galbraith stützt sich auf die Untersuchung von Berle und Means „Die moderne Aktiengesellschaft und das Privateigentum“ aus den 1930er Jahren. Schon damals sei als unumkehrbarer Prozess festgehalten worden, dass die Eigentümer oder ihre Vermögensverwalter die Aktivitäten eines Großkonzerns nicht mehr kontrollieren könnten. Seither habe sich der beherrschende Einfluss des Managements überall durchgesetzt. Die vielen Fälle von Bilanzfälschung und Betrug im Zusammenhang des New-Economy-Booms der Jahre 1998ff. wertet Galbraith als erneute empirische Bestätigung dieser Einschätzung. „Zu den grundlegenden Merkmalen der Großunternehmen des 21. Jahrhunderts gehört, um es noch einmal zu sagen, ein Leitungssystem, das unbeschränkte Macht zur Selbstbereicherung gewährt. Das Wirtschaftsmagazin Fortune, dem man wahrlich keine besonders unternehmenskritische Einstellung nachsagen kann, berichtete in großer Aufmachung darüber, wie sich Vorstände von Aktiengesellschaften trotz sinkender Umsätze und Erträge der von ihnen geleiteten Firmen hemmungslos selbst bedienten (...). Die Möglichkeit zur Selbstbedienung, die dem Management offen steht, ist skandalös und lässt sich nicht mit bloßer Fahrlässigkeit erklären.“ (Galbraith 2005: 62)

Galbraith verweist zu Recht darauf, dass nach wie vor eine spezifische Verbindung zwischen den Aktionären (Investoren) und dem Unternehmensmanagement besteht, der sich in herausragender Beteiligung am Unternehmenserfolg niederschlägt. Durch Reformen des Corporate Governance und Publizitätsvorschriften kann die „Bereicherung“ eingeschränkt, aber nicht aufgehoben werden. Unbestreitbar also: „Viele anonyme Kapitalgesellschaften leiden derzeit am Principalagent-Konflikt und den daraus bisweilen resultierenden Entgleisungen und Exzessen einzelner Manager.“ (May/Weissmann 2005)

Über diesem Fortbestehen des Principal-agent-Konflikts darf nicht übersehen werden, dass die institutionellen Anleger und die organisierten Vermögensverwalter auf den Finanz- und Kapitalmärkten in den letzten Jahrzehnten eine weitreichende Machtverschiebung durchgesetzt haben. „Solange aber die Aktionäre eines Unternehmens als Gruppe nicht professionell koordiniert waren und nicht das notwendige Wissen über Details des Unternehmens hatten, orientierte sich das Unternehmen nicht wirklich an den Aktionärsinteressen. In jener Zeit entstand der Begriff des ‘Managerial Capitalism’“ (v. Weizsäcker 1999) Mit der Entwicklung der institutionellen Anleger, Fonds etc. haben die Kapital- und Finanzmärkte die Kontrolle über die Unternehmen übernommen. Die Unternehmen müssen sich unter der Herrschaft der Fonds auf ihre Stärken konzentrieren und langfristige angelegte Innovations- und Markteroberungsstrategien werden zunehmend unterbunden. Die Rentabilität des eingesetzten Kapitals steigt, gleichzeitig wird das Gesamtsystem volatiler und wegen der negativen Rückwirkungen auf die Verteilungsverhältnisse zwischen Arbeits- und Kapital- (Vermögens)einkommen flacht die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung weiter ab. Galbraith übersieht diesen Prozess der Überlagerung des Widerspruchs zwischen Kapitalgesellschaften und kleineren Unternehmen durch die Macht der Finanzmärkte. Auch Familienunternehmen geraten zunehmend in den Bann der Fonds. „So ist das Überleben von Familienunternehmen in Märkten stark gefährdet, in denen ein hoher Kapitalbedarf Erfolgsvoraussetzung ist. In Massenmärkten, in denen es am Ende um Marktmacht, Zukäufe und schiere Größe geht, scheiden Familienunternehmen früher oder später aus.“ (May/Weissmann 2005) Gleichwohl bleibt die Struktur der Unternehmen durch diesen Widerspruch zwischen Kapitalgesellschaften und Familienkapitalisten geprägt.

3. Kapitalgesellschaften und Familienunternehmen in Deutschland

Einzelunternehmen, Kleinbetriebe und mittelständische Unternehmen sind die wirtschaftliche Grundlage des Wertschöpfungsprozesses; allerdings wird die Dynamik der Kapitalakkumulation von den reaktions- und standortflexiblen Großunternehmen bestimmt, die in der Regel als Kapitalgesellschaften organisiert sind.

Der Shareholder value wird – wie in den USA und Großbritannien – auch in der BRD zunehmend das bestimmende Orientierungsprinzip für Unternehmen, die als Kapitalgesellschaften organisiert sind. Die Hegemonie der Finanzmärkte führt zu einem beschleunigten Umbau der Unternehmenslandschaft bei Kapitalgesellschaften, einer Ausweitung der Finanztransaktionen und zu einem größeren Einfluss von institutionellen Vermögensverwaltern und Aktionären. Durch diese Entwicklung verschiebt sich innerhalb der Unternehmen die Machtstruktur (Corporate Governance), das Management wird gedrängt, das Unternehmensziel auf die Maximierung der Unternehmenswertsteigerung, d.h. der Börsenkapitalisierung, auszurichten. Hierbei geht es nicht nur um den Übergang auf kurzfristige Profitsteigerung, sondern vor allem darum, die Wertschöpfungskette kontinuierlich zu verschlanken, den Prozess der Marktreife von neuen Produkten zu verkürzen, Innovationen mehr durch Zukauf von kleineren Unternehmen zu optimieren. Die Entwicklung der eigenen Kompetenz, die unternehmerische Kreativität, Quersubventionierung zwischen Geschäftsfeldern und Experimente ohne absehbaren Bezug zur Produkt- und Marktreife gehören einer vergangenen Epoche an. Wenn heute für eine führende Aktiengesellschaft eine Eigenkapitalrendite von 15-20% erwartet wird, können solche Verwertungsraten von einem Großteil der anderen Unternehmen nicht realisiert werden.

In der Tat ist das Management der zentrale Beauftragte für die Umsetzung dieser Unternehmensstrategie und wird folglich auch an der Renditesteigerung beteiligt. Die Debatten und Maßnahmen zur Verschärfung der Corporate Governance oder zur Veröffentlichungspflicht der Managementvergütungen belegen, dass an dieser Stelle ein Konflikt zwischen Eigentümern und den von ihnen beauftragten Akteuren im Unternehmen besteht. Aus diesem Faktum einer auffälligen Beteiligung des Managements am betrieblichen Wertschöpfungsprozess kann nicht auf eine unzureichende Kontrolle durch die Finanzmärkte oder die organisierten Vermögensverwalter geschlossen werden. Es handelt sich weniger um Selbstbereicherung – abgesehen von den Betrugsfällen –, als vielmehr um eine gewollte Beteiligung, um so die Interessen der „Investoren“ und Shareholder umsetzen zu können.

Geht man von einer Beschäftigtenzahl bis zu 500 Mitarbeitern aus, dann stellt sich der Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Deutschland folgendermaßen dar:

· 99,6% aller umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen

· 46,9% aller steuerpflichtigen Umsätze

· 68% aller Arbeitnehmer

· 80% aller Auszubildenden

· 45,4% der Bruttoinvestitionen

· 53% der Bruttowertschöpfung aller Unternehmen (BMWI 2000)

Rund 80% dieser KMUs unterliegen der persönlichen Haftung. Einzelunternehmer und Personengesellschafter haften mit ihren gesamten Vermögen, und zwar bei privaten und geschäftlichen Verbindlichkeiten. Sie werden als Rechtssubjekte behandelt, bei denen es – im Unterschied zu den Kapitalgesellschaften, Genossenschaften etc. – keine Trennung zwischen Geschäfts- und Privatsphäre gibt.

Richtung und Dynamik der gesamtgesellschaftlichen Kapitalakkumulation wird von den Kapitalgesellschaften und hier im Besonderen von den Aktiengesellschaften bestimmt. Über diese kleine Gruppierung bei den bundesdeutschen Unternehmen, die in der Form der Kapitalgesellschaften agieren, gibt es kaum weitere Aufschlüsselungen. Legt man die von der Monopolkommission untersuchten „100 Größten“ Unternehmungen zugrunde, erhalten wir folgendes Bild:

Die 100 Größten nach Rechtsform

1996 1998

Insgesamt 100 100

Ags 71 77

GmbHs 13 6

KGs 5 6

Sonstige 11 11

Die 100 größten Unternehmen erzielten 1996 einen Anteil von 17,3% und 1998 einen Anteil von 18,6% an der Wertschöpfung aller Unternehmen. Der Anteil an der gesamten Wertschöpfung hält sich seit 1980 etwa auf dem Level von knapp 20%. Abgesehen von der wechselseitigen Verflechtung der Unternehmen ist hier in Rechnung zu stellen, dass die Großunternehmen sich seit den 1980er Jahren in flexible Netzwerke transformieren, d.h. durch „downsizing“, „outsourcing“ und „lean management“ eine höhere Flexibilität in ihren Kernkompetenzen zu erreichen suchen. Die Ursachen dieser Umstrukturierung ergeben sich aus veränderten Strukturen des organisatorisch-technologischen Rahmens betrieblicher Wertschöpfung.

4. Konsequenz des Aktionärskapitalismus – Zerstörung des Sozialstaates

Die Entwicklungsrichtung der gesellschaftlichen Wertschöpfung wird von den Kapitalgesellschaften – insbesondere den Aktiengesellschaften – bestimmt. Unter dem Druck der Eigentümer und der professionellen Vermögensverwalter werden allerdings die Entwicklungspotenziale der Aktiengesellschaften eingeengt. Die Konzentration auf die Kernkompetenz und der Umbau des Unternehmensnetzes mit dem Ziel die Eigenkapitalrendite zu steigern, schließt das Abstoßen von Kreativitätspotenzialen ein. Dies kompensieren die Großunternehmen durch einen kontinuierlich Zukauf von kleineren Unternehmen. Prototyp eines „Integrationsmanagements“ ist General Electric (GE); der Mischkonzern hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten insgesamt mehr als 1.700 Firmenübernahmen abgewickelt, mit dem Einsatz der eigenen Aktien als Akquisitionswährung. (Hack/Hack 2001)

Diese Struktur der modernen kapitalistischen Ökonomie – einerseits hegemoniale Kapitalgesellschaften, andererseits kleine und mittlere Unternehmen – bestimmt seit längerem die Debatte unter Sozialisten und Marxisten. Bekanntlich interpretiert ein Teil die Herausbildung von Großunternehmen als Existenz von Monopolpositionen. Die großen Kapitalgesellschaften, zumeist auch transnational operierend, besitzen dieser Auffassung zufolge die Macht, den Zulieferern und Abnehmern die Preise zu diktieren und auch vom öffentlichen Sektor einen Beitrag zum Monopolprofit durchzusetzen. (Dehm/Heininger 2001) Gegen die These von einer „brutalen Diktatur des transnationalen Monopolkapitals“ (Dehm 2001, kritisch: Brie 2001) wird von anderen aus werttheoretischen Gründen wie aus politisch-strategischen Überlegungen an einem hegemonialen Verhältnis festgehalten: Die großen Kapitalgesellschaften haben größeren Markteinfluss, sind aber selbst dem Wettbewerb und dem aus der Konkurrenz entspringenden Rationalisierungsdruck unterworfen.

Wenn man die Herausbildung dieser Struktur von Großunternehmen und kleineren, mittelständischen Unternehmen nicht als Monopolkonstellation fasst, ergibt sich ein Zugang zur Phase der verschärften Konkurrenz seit Mitte der 1970er Jahre und der Machtverlagerung von den Managern zu den Kapitaleigentümern. Durch den Zwang zur Steigerung der Eigenkapitalrendite und die Ausrichtung der betrieblichen Wertschöpfung auf den Börsenwert der Unternehmen – Shareholder value-Strategie – gerät die gesamte Sozialverfassung der Bundesrepublik Deutschland und damit insgesamt der „Rheinische“, sozialregulierte Kapitalismus in die Defensive.

Dies zeigt sich zum einen in einem verschärften Wettbewerb, bei dem vor allem viele kleinere und mittlere Unternehmen gegenüber den Großunternehmen strukturell aus einer ökonomischen Defensivposition nicht mehr heraus kommen. Dies zeigt sich weiter in einer Schieflage der Verteilungsverhältnisse: Die Erträge aus Vermögen sind stärker gestiegen als die Arbeitseinkommen. „Nicht zuletzt dadurch haben sich die Relationen in der Einkommensverteilung verschoben, ohne dass die Gewerkschaften dies mit ihrer Tarifpolitik hätten verhindern können. Diese und andere Entwicklungen haben, in den beiden vergangenen Jahrzehnten deutlicher vielleicht als je zuvor, die Grenzen der Tarifpolitik vor Augen geführt, die Verteilung zu beeinflussen.“ (Peters 2001) Und schließlich zeigt sich dies auch am Beispiel der Betriebsverfassung und der Tarifautonomie, an der Erosion des Systems der Mitbestimmung und der Stellung der Gewerkschaften. „Im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte hat sich ausgehend von den Vereinigten Staaten eine Machtverlagerung vom Top-Management zu den Aktionären hin vollzogen.“ (von Weizsäcker 1998: 15) Es sind allerdings nicht die wachsende Vielzahl von Aktionären, sondern die großen Aktionäre und vor allem die Gebieter über die Investmentfonds; Pensionskassen und Großbanken, deren Macht außerordentlich gewachsen ist.

Wir erleben seither verschiedenste Ansätze zur Veränderung des Zusammenspiels von Staat und privat initiierten Praktiken, die unter den Begriff Corporate Governance zusammengefasst werden. Dabei wird die Seite der Lohnarbeit – also Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften – einem massiven Machtverlust ausgesetzt. Die Shareholder value-Strategie beseitigt die Ansätze einer humaneren Arbeitsorganisation; die Arbeit am Band wird wieder aufgewertet, die Vorteile des standardisierten Taylorismus sollen mit denen der Gruppenarbeit gekoppelt werden. Diese Abwendung von einer innovativen Arbeitspolitik ist vor allem eine Folge des verschärften Wettbewerbs sowie der unter dem Diktat der Aktionäre geforderten Steigerung der Eigenkapitalrendite und Börsenkurse.

Selbst von den Verfechtern eines modernen Kapitalismus mit einer Vorherrschaft von Aktien und Wertpapieren wird nicht bestritten, dass diese Umwandlung mit einer Aufkündigung der bisherigen Verteilungsrelationen, Verschärfung sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Ausgrenzung verbunden ist. Wenn die Aktiengesellschaften durch Verschlankung und Optimierung ihres betrieblichen Wertschöpfungsprozesses ihre Eigenkapitalrenditen auf 15-20% nach oben schrauben, dann bedeutet das nicht nur Outsourcing von weniger profitablen Unternehmensteilen und Erhöhung der Arbeitsintensität, sondern führt gesamtgesellschaftlich zu einem beschleunigten Rückgang des Anteils der Arbeitseinkommen am verfügbaren Reichtum und einer Bewegung der Masseneinkommen nach unten.

Die Konsequenz der Shareholder value-Strategie: Die Lohnabhängigen werden beim Umbau der Unternehmensnetze nicht beteiligt, sie sollen in verschlankten Wertschöpfungsprozessen Eigenkapitalrenditen von mindestens 15% erwirtschaften und sich zugleich mit (nach Unternehmerinteressen) flexiblen Arbeitszeiten, Lohnsteigerungen unter der gesellschaftlichen Produktivitätsrate und niedrigeren Altersrenten zufrieden geben.

Die Verschiebung in den Verteilungsverhältnissen wird von den meisten Protagonisten des Shareholder-Kapitalismus nicht bestritten. „Der Kapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts zwingt auch die Europäer dazu, über die Zumutung wachsender Ungleichheit nachzudenken.“ (Hank 2000: 155) Solange wachsende soziale Ungleichheit „fair“ verläuft und mit wirtschaftlicher Dynamik verbunden ist, ließe sich – so Hank – gegen Ungleichheit und soziale Ausgrenzung nichts einwenden. „Ungleichheit wäre dann nicht als Preis, sondern als die erwünschte Folge größerer Wachstumsdynamik anzusehen. Sie wäre nicht nur nicht zu beanstanden, sondern auch als ethisch wünschenswert zu qualifizieren.“ (Hank 2000: 168) Die Botschaft lautet auf den Punkt gebracht: Der Bürger des 21. Jahrhunderts gewinne als Konsument und Kleinaktionär, was er – womöglich sogar in gleicher Person – als Arbeitnehmer verliert. Doch gerade diese Botschaft überzeugt immer weniger. Die Bürgerinnen und Bürger sind nie gefragt worden, ob sie einen Wechsel zu diesem System wollen. Die Erwartung, dass sich mit diesen Veränderungen für den größeren Teil der Bevölkerung ein verbesserter Zugang zu Produkten und Dienstleistungen ergeben würde, ist illusionär.

Schrittweise wurden in der kapitalistischen Gesellschaftsformation demokratische, soziale und politische Bürgerlnnenrechte erkämpft, die Bedingung sind für eine gleichberechtigte Existenz in der Zivilgesellschaft, die Kontrolle und Durchlässigkeit aller politischer Instanzen und Entscheidungen. Dabei gibt es einen bis in die Gegenwart anhaltenden Grundkonflikt zwischen den Eigentumsrechten und entsprechenden Rechten, die das Arbeitsverhältnis regeln. Wenn wir heute feststellen, dass im Bereich der Wirtschaft, der kapitalistischen Unternehmen und der Betriebe die allgemein anerkannten demokratischen und sozialen Rechte nur eingeschränkt gelten, dann liegt das daran, dass die Eigentümer oder Investoren das gesamte Arbeitsrecht unter dem Aspekt eines Vertrages und der Beschränkung ihrer Eigentümerrechte betrachten. Jene Menschen, die überwiegend vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, sehen dieses Verhältnis unter dem Gesichtspunkt einer Verfassung, der Arbeits-, Betriebs- oder Unternehmensverfassung.

Es gibt sicherlich keinen Königsweg, um aus dieser Defensivposition herauszukommen. Aber der Kampf um eine gesellschaftliche Alternative muss folgende Dimensionen einschließen:

· Aufgabe einer zurückhaltenden Lohnpolitik und die Stärkung der Arbeitseinkommen; Heranziehen der Kapital- und Vermögenseinkommen zur Finanzierung des Systems sozialer Sicherheit (Rente, Gesundheit, Arbeitslosigkeit) und der öffentlichen Angelegenheiten.

· Ausbau der innerbetrieblichen Rechte in Richtung einer wirksamen Unternehmensverfassung mit anerkannten Beteiligungsrechten der Beschäftigten und der Gewerkschaften.

· Gesellschaftliche Steuerung und Kontrolle der gesamten Wertschöpfung über die Investitionsbewegung; Reorganisation von gesellschaftlichen Bereichen wie Wohnen, Bildung, Gesundheit und Kultur auch nach genossenschaftlichen und gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen.

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