„Wir leben über unsere Verhältnisse“. So oder ähnlich geht das Lamento. Das ist schon verwunderlich, denn in einer gegebenen Periode kann eigentlich nur das konsumiert und investiert werden, was zuvor produziert wurde, es sei denn, es besteht ein außenwirtschaftliches Defizit. Deutschland hat jedoch Überschüsse, d.h. es konsumiert und investiert weniger, als es produziert.
Aber wird hier das „über unsere Verhältnisse“ nicht allzu wörtlich genommen? Könnte es nicht sein, dass die kumulierten Rechtsansprüche auf künftige Einkommen in Form von Renten, Pensionen, andere Sozialtransfers und Versprechen auf Erträge aus Anlagekapital die Möglichkeiten der Gesellschaft in einigen Jahren oder Jahrzehnten überschreiten, weil sie an eine wirtschaftliche Dynamik gebunden sind, die sich bei zu hohem Konsum und zu niedrigen Investitionsquoten nicht realisieren lässt?
Alle demografischen Berechnungen zeigen eine stagnierende oder sinkende und zugleich alternde Bevölkerung, so dass die Erwerbstätigen künftig für mehr Nichterwerbstätige im Vergleich zu heute sorgen müssen. Mit wieviel Erwerbstätigen ist zu rechnen und werden deren Arbeitsvolumen und Produktivität hoch genug sein, um die im heutigen Sozialsystem erworbenen Einkommensansprüche der dann nicht mehr Erwerbstätigen sowie Sozialleistungen in angemessenem Umfang zu realisieren und, falls dies nicht der Fall ist, welche Veränderungen dieses Systems sind erforderlich?
Es soll an dieser Stelle nicht extra heraus gearbeitet werden, dass die faktische Realisierung von Einkommen, welche Form diese auch immer annehmen mögen, eine Sache des Verteilungskampfes und der bestehenden Kräfteverhältnisse ist, und dass die Resultate diese Kampfes die objektiven Reproduktionserfordernisse und Interessen der beteiligten Klassen und Schichten in höchst unterschiedlichem Maße treffen. Wie immer dieses Resultat aber auch zustande kommt und aussieht, seine Basis ist die Schaffung dieser Einkommen durch die arbeitende Bevölkerung eines Landes.
1. Die Krise des Wohlfahrtsstaates
Die Krise des Wohlfahrtssystems[1] besteht in einem Mißverhältnis zwischen wohlfahrtstaatlichen Bedürfnissen und Bedarf und der finanziellen Deckung dieses Bedarfs. Bestimmte soziale Risiken werden nicht mehr wohlfahrtsstaatlich vermindert oder ausgeglichen, sondern, wie z.B. die mangelnde Rentenversicherung im Falle prekärer Erwerbsbiografien, voll auf die Betroffenen umgelegt und führen zu wachsender Bedürftigkeit und Armut. Ein weiteres Moment dieser Krise ist eine sich verfestigende soziale und verteilungspolitische Schieflage zuungunsten der Lohn- und Sozialtransferempfänger.
Trotz der problematischen Lage ihrer Sozialkassen ist die deutsche Wirtschaft, gemessen an ihrer gesamten Leistungskraft, keineswegs überfordert. Der Anteil der Sozialleistungen am BIP ist zwar in den vergangenen fünfzehn Jahren gestiegen, aber schon einmal – 1975 – betrug die Sozialleistungssquote 31,4 Prozent; sie ist bis heute auf 32,6 Prozent gestiegen, eine keineswegs dramatische Entwicklung, auch wenn diese Quote zwischenzeitlich niedriger war. Die Begründung der Überforderungsthese mit den vergleichsweise hohen Quoten beruhen auf einer Verengung des Blicks: Die USA zum Beispiel haben eine niedrigere Sozialleistungsquote, weil viele der entsprechenden Leistungen privat finanziert werden, also nicht beim Staat, sondern bei den privaten Haushalten verbucht werden. Die entsprechenden Kosten sind trotzdem wirksam. Die Gesundheitskosten machen in den USA 13 Prozent des BIP, in Deutschland nur 11,5 Prozent aus. Die Diskrepanz zwischen sozialstaatlichem Bedarf und seiner Deckung hat also nichts mit einer Überforderung der Wirtschaft insgesamt zu tun. Diese Diskrepanz äußert sich zum einen im Druck auf die Sozialkassen und zum anderen im chronischen Staatshaushaltsdefizit. Die staatliche Schuldenquote ist in den vergangenen dreißig Jahren von etwa 20 auf 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2004 angewachsen und beträgt über 1,4 Billionen €. Die Sozialversicherungen sind chronisch defizitär. Obwohl die Beitragssätze zur Sozialversicherung von insgesamt 35 auf 42 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Entgelte angestiegen und Leistungskürzungen vorgenommen worden sind, hat sich der Anteil der Sozialbeiträge an der Finanzierung der Sozialsysteme seit 1991 von 65 Prozent auf 60 Prozent vermindert; die öffentlichen Zuweisungen mußten von 31 auf 38 Prozent erhöht werden.
Natürlich geht ein Teil des finanziellen Drucks auf wachsende Kosten des Sozialsystems zurück. Die ausschlaggebende Ursache dieser Krise ist jedoch die chronische Massenarbeitslosigkeit, die auf der einen Seite zur Minderung der Einnahmen und auf der anderen Seite zur Steigerung der Ausgaben führt. Selbst steigende Beschäftigung war in den vergangen Jahren nicht mit einem Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung verbunden. Es ist absurd, wenn die gestiegene Sozialquote zur Ursache der hohen Arbeitslosigkeit erklärt wird.[2]
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Nach: BMGS (Hrsg.): Statistisches Taschenbuch 2004.
Weitere Ursachen sind die Belastung der Rentenkassen mit versicherungsfremden Leistungen und der schleichende Rückzug der Arbeitgeber, Selbständigen und Spitzenverdiener aus der Finanzierung der gesetzlichen Versicherung. So sank der Anteil der Arbeitgeber an der Finanzierung von 39 auf 34 Prozent.[3] Seit Beginn der neunziger Jahre kommt als spezifischer Grund hinzu, dass die sozialen Kosten der ruinösen Strategie bei der Vereinnahmung der ostdeutschen Wirtschaft durch westdeutsche Konzerne vor allem den Sozialkassen aufgebürdet wurden.[4]
2. Demografische Wende und Wirtschaftswachstum
Die Diskussion über die Perspektive des Wohlfahrtsstaates ist zuletzt vor allem durch die 10. koordinierte Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes[5] und den Bericht der Rürup-Kommission[6] angeheizt worden. Die Reaktion auf die Bevölkerungsprognose bestand auf der Seite jener, die den Sozialabbau forcieren wollen, in Hysterie, Dramatisierung und Instrumentalisierung. Andererseits gab es auch Reaktionen, in denen langfristige Prognosen als „Kaffesatzleserei“ abgetan wurden. Schließlich hätte eine 50-Jahre-Prognose zu Beginn des 20. Jahrhunderts glatt zwei Weltkriege und eine Prognose um 1950 den Mauerfall, allesamt Ereignisse mit gravierenden Wirkungen, übersehen[7]. Außerdem würden die Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung dabei nicht in Betracht gezogen.[8]
Nun sind in der Tat viele ökonomische, soziale und politische Faktoren langfristig kaum einzuschätzen. Trotz verfeinerter Prognoseverfahren sind vor allem Trendwenden kaum vorhersehbar, von politischen Rahmenbedingungen ganz zu schweigen. Aber wegen dieser Unsicherheit darf auf Prognosen nicht verzichtet werden, würde damit doch ein wichtiges Feld der politischen Auseinandersetzung dem Gegner überlassen und die Begründung von Alternativen unmöglich gemacht.
Für die hier zu beantwortende Frage sind vor allem drei Größen der Bevölkerungsprognose relevant: die Bevölkerung insgesamt, der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung (Bevölkerung im Alter von 15 oder 20-65 Jahre) sowie der Anteil der unter 15- und der über 65-Jährigen. Die Bevölkerungsprognose macht zunächst keine Aussagen über das wahrscheinliche Erwerbsverhalten der erwerbsfähigen Bevölkerung, das ja für die Prognose des Erwerbspersonenpotenzials (EPP) wichtig wäre. Um die Variationsbreite der Prognosen sichtbar zu machen, seien hier aus den neun in der Koordinierten Bevölkerungsprognose berechneten Varianten die mit den im Jahr 2050 höchsten (Variante 3) und dem niedrigsten (Variante 7) Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung (hier: der 20-65-Jährigen) ausgewählt.
Tabelle 1: Prognosen der Bevölkerung und der Erwerbspersonen im Vergleich
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Berechnet nach: Statistisches Bundesamt, a.a.O.
Fett markiert ist die bezüglich des Erwerbspersonenpotenzials ungünstigste Variante mit einer Erwerbsquote von nur 38 Prozent und die günstigste Variante mit einer Erwerbsquote von 52,1 Prozent. Die Streubreite dieser Varianten für die Entwicklung des Arbeitsvolumens ist enorm, wobei hier die Veränderung der Arbeitszeit nicht in Betracht gezogen ist.
Noch unsicherer ist die Prognose der potenziellen Produktion bzw. der Produktivität. Für die Prognose der Entwicklung des BIP sind zwei prinzipiell unterschiedliche Methoden denkbar: Erstens über die Abschätzung einer Produktionsfunktion und zweitens mittels der Ableitung aus der Arbeitsproduktivität und dem Erwerbspersonenpotenzial.
Ohne hier eine umfassende Bewertung dieser Verfahren vornehmen zu können sei doch darauf hingewiesen, dass die statistische Nutzung neoklassischer Produktionsfunktionen zwar weit verbreitet, jedoch äußerst umstritten ist. Die Auseinandersetzung darüber füllt ganze Bibliotheken. Auch das jüngst vom Sachverständigenrat und vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln benutzte Verfahren, bei dem nicht Produktionsfaktoren, sondern recht willkürlich gewählte so genannte „Wachstumstreiber“ geschätzt und in eine Funktion eingebaut wurden[9], sind skeptisch zu beurteilen.
Beim zweiten Verfahren müssen Annahmen über die Bestimmungsfaktoren der Arbeitsproduktivität getroffen oder es muss eine Trendfunktion geschätzt werden.[10] Es gibt jedoch kein Gesetz der Produktivitätsentwicklung, das eine lineare, exponentielle oder wie auch immer geartete Extrapolation erlauben würde und es ist rührend, zu lesen, wie darüber debattiert wird, ob dieses Wachstum künftig bei 1,8 oder eher 2,0 Prozent liegt. Bei diesen Verfahren werden statistisch ermittelte Ex-post-Durchschnitte extrapoliert. Aber gerade der Trend zeigte in der Vergangenheit nach unten, d.h. die Wachstumsraten wurden immer niedriger. Weshalb sollte plötzlich langfristig eine konstante Rate existieren? Konstant war in der Vergangenheit eher der absolute Zuwachs; der Basiseffekt zeigt sich dann in niedrigeren Wachstumsraten.
In der folgenden Übersicht sind verschiedene Prognosen des Pro-Kopf-Einkommens zusammen gestellt. Da sie unterschiedliche Zeithorizonte aufweisen, wurden sie bis 2050 linear verlängert (Wert in Klammern), um sie besser vergleichen zu können. Das BIP pro Einwohner beträgt gegenwärtig 2.6561 €.
Der Unterschied zwischen diesen Prognosen[11] ist trotz jeweils plausibler Voraussetzungen enorm, weil selbst kleine Variationen in den unterstellten Bedingungen über so lange Zeiträume große Unterschiede produzieren. Trotzdem zeigt sich auch bei der als pessimistisch bezeichneten Variante einer sinkenden Wachstumsrate der Produktivität (ihr absoluter Zuwachs ist als konstant unterstellt), dass das Pro-Kopf-Einkommen, wenn auch nur mäßig, steigt.
Tabelle 2: Prognosen des Pro-Kopf-Einkommens
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Rürup: Prognose bis 2040, durchschnittliche Wachstumsrate der Produktivität (BIP je Erwerbstätigen) von 1,8 Prozent, Erwerbspersonenpotenzial 37,6 Mio., Arbeitslosenquote sinkt auf 3,7 Prozent. Eigene Extrapolation bis 2050.
Reuter: durchschnittliche Wachstumsrate der Produktivität (BIP je Erwerbstätigen) von 1,5 Prozent, Erwerbtätige 36,5 Mio., Arbeitslosigkeit wird beseitigt.
iwd A: Prognose auf der Grundlage einer Wachstumsfunktion ohne Änderung der Wirtschaftspolitik (eigene Extrapolation bis 2050).
iwd B: Prognose auf der Grundlage einer Wachstumsfunktion mit einer Änderung der Wirtschaftspolitik (eigene Extrapolation bis 2050).
pessimistische Prognose: lineare Trendextrapolation der Produktivität (BIP je Erwerbstätigen) auf der Grundlage der Werte 1992-2002, Bevölkerung entsprechend der Variante 7 der 10. koordinierten Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes, Erwerbsquote verändern sich gegenüber 2004 nicht, keine Arbeitslosigkeit. Eigene Berechnung.
optimistische Prognose: Produktivität wächst jährlich um 1,8 Prozent, Bevölkerung entsprechend der Variante 3 der 10. koordinierten Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes, Erwerbsquote steigt insgesamt auf das Niveau der Männer in der Gegenwart, keine Arbeitslosigkeit. Eigene Berechnung.
Diese Ergebnisse unterstellen alle eine jeweils unveränderte Arbeitszeit. Das heißt, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit erfolgt auf der Grundlage einer wachsenden Zahl von Arbeitsplätzen infolge des Wachstums der Investitionen. Die wünschenswerte Senkung der Arbeitszeit trägt zwar zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit bei, vermindert aber im gleichen Zug das für die Entwicklung der Pro-Kopf-Einkommen wichtige Wachstum des Arbeitszeitvolumens. Es existiert also ein trade-off oder Zielkonflikt zwischen der Steigerung der Pro-Kopf-Einkommen und der Freizeit pro Kopf. Der gegebene Zuwachs der Produktivität je Arbeitsstunde ist die jeweilige Obergrenze für die Summe aus Zuwachs an Einkommen und Freizeit pro Kopf. Es hängt vom Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen ab, wie dieser gegebene Zuwachs letztlich aufgeteilt wird, aber er kann nicht zweimal aufgeteilt werden.[16]
Was lassen sich aus einer Steigerung des Pro-Kopf-BIP für Schlüsse bezüglich der Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaates ziehen? Stimmt es, dass damit automatisch auch eine Erweiterung des Spielraums verbunden ist?[17] Dies ist keineswegs der Fall, weil ein Teil des BIP für Abschreibungen und Nettoinvestitionen (die ja Voraussetzungen steigender Arbeitsproduktivität sind) erforderlich ist; d.h. es ist nicht nur der Verteilungsspielraum, sondern auch die Verwendung zu untersuchen. Für den Verbrauch und darunter für die Finanzierung der Sozialsysteme steht nur ein Teil des BIP zur Verfügung. Wenn der technische Fortschritt mit steigendem Kapitalkoeffizenten verbunden ist, muss die Investitionsquote erhöht und die Konsumquote als Anteil des öffentlichen und privaten Konsums am BIP vermindert werden. Auch die innere Struktur des Konsums wird sich bei zunehmendem Alten- und Belastungsquotienten verändern. Es können dann nicht sowohl verfügbare Erwerbs- und Vermögenseinkommen als auch z.B. Renteneinkommen entsprechend der Produktivitätsentwicklung steigen, weil der Anteil letzterer und damit die entsprechenden Sozialabgaben wachsen müssen.
Für die Einschätzung der Tragfähigkeit des Sozialsystems reicht also eine potenzialorientierte Betrachtung nicht aus. Sie muss durch eine Analyse der Entwicklung des spezifischen Bedarfs an Sozialleistungen und ihrer inneren Struktur ergänzt werden und bleibt auch dann mit erheblichen Unsicherheiten behaftet, weil Tempo und Charakter des technischen Fortschritts und der Produktivitätsentwicklung nicht sicher prognostiziert werden können.
3. Strukturveränderungen des Wohlfahrtsstaates
Die einzelnen Elemente des Wohlfahrtssystems sind von der Veränderung der demografischen Struktur sehr unterschiedlich betroffen. Dies betrifft sowohl die altersspezifischen Kosten der einzelnen Elemente als auch die Einnahmen der Kassen. Die Analyse dieser Zusammenhänge wird als Generationenbilanzierung bezeichnet.[18] Ohne hier eine vollständige Bilanzierung vornehmen zu wollen, sollen doch zumindest einige Elemente des Wohlfahrtsstaates unter dem Blickwinkel der demografischen Wende analysiert werden.
Öffentliche Güter von Bund, Länder und Gemeinden
Ein Teil der von den Gebietskörperschaften bereitgestellten Güter sind bevölkerungs- und altersunabhängig, wie z.B. Verteidigungsaufgaben, Auswärtiges usw. Andere Bereiche sind zwar bevölkerungs-, aber nicht oder weniger altersspezifisch, wie z.B. öffentliche Sicherheit oder Kultur, und wieder andere sind stark von der Altersstruktur der Bevölkerung abhängig; hier ist z.B. die Bildung zu nennen. Große Bereiche der Infrastrukturfinanzierung sind unelastisch gegenüber Nachfrage- und damit auch Bevölkerungsänderungen, weil ihr Betrieb mit hohen Fixkosten verbunden ist. So geht zwar die Nachfrage nach Trinkwasser mit dem Bevölkerungsrückgang ebenfalls zurück, die Aufbereitungs- und Transportsysteme sind jedoch in ihren Dimensionen nicht im gleichen Maße veränderbar, so dass die Kosten pro Kopf steigen.
Was die Finanzressourcen der Gebietskörperschaften anbelangt, so sorgt die progressive Gestaltung von Teilen des Steuertarifs bei steigenden Einkommen eigentlich für überproportional steigende Einnahmen, auch wenn die Steigerungsraten der Vergangenheit nicht mehr erreicht werden. Die Bereitstellung der öffentlichen Güter dürfte somit eigentlich nicht gefährdet sein, wenn die Steuersätze nicht gesenkt werden und innerhalb der Budgets die erforderlichen Anpassungen erfolgen. Letzteres freilich dürfte schwierig genug sein, weil damit ja auch personelle Konsequenzen verbunden sind.[19] In den weiteren Überlegungen sollen diese Fragen der Perspektive des Wohlfahrtsstaates nicht weiter vertieft werden.
Räumliche Differenzierung der Bevölkerungsentwicklung
Die räumliche Differenzierung der Bevölkerungsentwicklung wird insgesamt zunehmen. Ihre Hauptmerkmale bestehen im rascheren Bevölkerungsrückgang und in der schnelleren Alterung der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten gegenüber den städtischen Ballungsräumen (die jüngere Bevölkerung zieht weg), wobei einzelne Ballungsgebiete sogar noch über längere Zeit hinweg Wanderungsgewinne verzeichnen könnten. Besonders einschneidende Konsequenzen hat dies für Ostdeutschland, wo dieser Prozess bereits voll im Gange ist, da neben dem geburtenbedingten Bevölkerungsrückgang ein beträchtlicher Migrationsverlust zu verzeichnen ist, der vor allem die jüngeren, aktiven Bevölkerungsteile betrifft. Damit wird sich die Einnahmeschwäche territorial organisierter Finanzsysteme im Sozialbereich wie bei den Gebietskörperschaften besonders ausprägen, während der Finanzbedarf nicht im gleichen Maße sinkt. Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass mit der Alterung die Pro-Kopf-Ausgaben im Gesundheitsbereich und im Pflegebereich ansteigen. Hinzu kommt, dass, wie bereits angedeutet, viele Infrastrukturleistungen (Verkehrssystem, Energie- und Wasserversorgung, Entsorgung, Bildung und Kultur) hohe Fixkostenanteile aufweisen, so dass mit der geringeren Nachfrage solcher Leistungen die Kosten kaum sinken werden.
Wenn gegenwärtig verstärkt über föderalen Wettbewerb und Subsidiarität diskutiert wird, dürfen diese Aspekte nicht vernachlässigt werden. Vertikaler und horizontaler Finanzausgleich zwischen den Gebietskörperschaften und Kassen wird perspektivisch eine größere Bedeutung haben müssen, weil die bevölkerungsbedingten Differenzierungen zunehmen werden. Hier liegt auch der Grund, weshalb die wirtschaftlich starken Länder, die zudem von der Migration profitieren, auf dem Regionalprinzip der Systeme des Wohlfahrtsstaates beharren und es im Rahmen einer Föderalismusreform womöglich noch verstärken wollen, um die wachsende Notwendigkeit des Finanzausgleichs, in dem sie Nettozahler sein müssten, von vornherein abzuschwächen oder ganz zu verhindern.
Rentenversicherung
Die Rentenversicherung in der gegenwärtigen Verfassung ist naturgemäß am meisten von der Alterung betroffen, weil die Finanzierung ausschließlich von den Erwerbstätigen und ihren Arbeitgebern und die Inanspruchnahme ausschließlich von den nicht mehr Erwerbstätigen erfolgt. Damit ist klar, dass die Verschiebung der Bevölkerungsstruktur zuungunsten der Erwerbspersonen die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Einnahmen und Ausgaben der Rentenversicherung kompliziert gestaltet.
Die Betrachtung der langfristigen Handlungsoptionen angesichts einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung kann anhand von Rentenmodellen vorgenommen werden. Damit lässt sich zeigen, dass der prozentuale Versicherungssatz der Beitragszahler mit dem selben Tempo wie der Altenquotient wachsen muss, sollen die Durchschnittsrenten mit der allgemeinen Einkommenssteigerung unter der Bedingung einer konstanten Erwerbsquote und Beitragszahlerquote mithalten. Das Wachstum dieses Satzes kann um so niedriger als das Wachstum des Altenquotienten sein, je stärker der Anteil der Beitragszahler und der Erwerbspersonen an den Erwerbsfähigen wächst.
Die politischen Ansatzpunkte für die Bewältigung der demografischen Wende aus sozialpolitischer Sicht können mithin sein:
- die Senkung der Arbeitslosigkeit und die Erhöhung der Erwerbsquote,
- die Erhöhung des Anteils der Beitragszahler an den Erwerbstätigen,
- die Erhöhung der Beitragssätze,
- die Verminderung des Wachstums der Renten (Entkopplung der Rentenentwicklung von der allgemeinen Einkommensentwicklung, wie es z.B. mit dem demografischen Faktor in der Rentenformel bereits der Fall ist) oder (im Modell nicht berücksichtigt) die Senkung der Kosten des Sozialsystems, die nicht direkt in Renten fließen (z.B. Verwaltungsausgaben).
Wird von der optimistischen Variante 3 der Bevölkerungsprognose (Tab. 1) ausgegangen und eine Erwerbsquote der Frauen entsprechend der gegenwärtigen Quote der Männer unterstellte, so müsste der Rentenversicherungsanteil am Bruttoeinkommen von gegenwärtig 9,7 auf über 17 Prozent steigen; die Arbeitgeber müssen die Abgaben im selben Prozentsatz auf 17 Prozent (also insgesamt auf 34 Prozent) steigern. Bei sinkender Arbeitszeit erhöht sich der Druck entsprechend. Diese Steigerung kann nur geringer ausfallen, wenn die Zahl der Beitragszahler verbreitert und die Erwerbsquote noch stärker erhöht wird, wenn sich Zuweisungen des Bundes erhöhen oder wenn die beitragsfinanzierte Rentenentwicklung von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt wird. Die Schwierigkeit einer Prognose wird daran deutlich, dass verschiedene Berechnungen des Beitragssatzes zur Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) bis 2040 zwischen 24,3 bis 32,7 Prozent schwanken.[20]
Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, Unfallversicherung
Diese Gesundheitskosten fallen in allen Altersstufen, allerdings in sehr ungleichem Umfang an. Während die Pflegeversicherung vor allem bei über 65jährigen zum Tragen kommt, fallen die anderen Gesundheitskosten zwar in allen Altersstufen, allerdings mit überdurchschnittlichen Kosten pro Kopf bei über 60jährigen an. Bei der Finanzierung ist es genau umgekehrt: Zur Finanzierung tragen zwar nicht ausschließlich, aber zum größten Teil die 15 bis 65jährigen bzw. die Arbeitgeber bei, der Finanzierungsanteil der Rentner ist dagegen weit geringer. Bei der Finanzierung muss außerdem beachtet werden, dass durch die Existenz von Beitragsbemessungsgrenzen bei steigenden Einkommen die Einnahmen nicht im selben Maße steigen, d.h. ein quasi-degressiver Verlauf vorliegt.
Eine grobe quantitative Betrachtung kann analog der Rentenbetrachtung vorgenommen werden. Allerdings sind die Nutznießer der Zahlungen hier nicht die einheitliche Kategorie der Rentner, sondern alle Altersgruppen. Das altersspezifische Kostenprofil zeigt – gemessen an den durchschnittlichen Gesundheitskosten pro Person – bis zum 15. Lebensjahr 1324 €/Kopf, ab 15 bis 65 Jahre 2118,-€, über 65 bis 80 Jahre 5891,-€ und bei noch Älteren 9263,-€ [21]. Werden diese Gesundheitskosten pro Kopf mit dem Altersprofil der mittleren Prognosevariante von 2040 gerechnet, so steigt der Gesamtdurchschnitt von 2749,-€ pro Kopf in der Gegenwart auf 3508,-€ in 2040. Dies ist – legt man die Berechnungen der Rürup-Kommission zugrunde – ein Wachstum, das deutlich langsamer ist als das Wachstum des Pro-Kopf-BIP, d.h. der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP wäre demografisch bedingt niedriger. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Kostenentwicklung der Krankenkassen im Vergleich zu den Rentenkassen vielfältigeren und schwerer einzuschätzenden Einflüssen unterliegt, weil es sich hier um einen produzierenden Bereich mit Produktionsaufwendungen handelt. Es existiert eine hohe Vielfalt von Behandlungsmethoden und rascher technisch-medizinischer Fortschritt, die Gesundheitsindustrie (Pharma- und Medizintechnikkonzerne, Apotheker und Ärzte, Krankenhausbetreiber usw.) verfolgt eine gewinnorientierte Produkt- und Preispolitik. Die Kosten werden auch dadurch erhöht, dass die Beschäftigten dieses Bereiches an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilnehmen. Darüber hinaus besteht die Notwendigkeit, durch entsprechende Anreizsysteme die Mitglieder zur Prävention anzuregen und natürlich existiert das Problem der „Trittbrettfahrer“. Dies macht eine Prognose des Finanzbedarfs über längere Zeiträume fast unmöglich. In dem bereits zitierten Überblick von Scherrer liegen die prognostizierten Beitragssätze zur GKV bis 2040 zwischen 15 bis über 30 Prozent.[22]
Für die Pflegeversicherung soll das demografisch bedingte Wachstum der Fälle berechnet werden. Im Jahr 2002 waren das 1,88 Millionen.[23] Geht man von einem konstanten Anteil der Pflegefälle an den Alterskohorten aus, so ergibt sich im Jahr 2040 eine Zahl von 3,5 Millionen. Selbst wenn die Fallkosten konstant blieben, müsste der Anteil der Pflegeversicherung am BIP steigen, wobei neuere Untersuchungen zeigen, dass wegen des Fortschritts im Gesundheitswesen „die Alterung der Bevölkerung nicht von einem parallelen Anstieg der Zahl der pflegebedürftigen Personen begleitet sein muß“.[24] Infolge des hohen Personalaufwands in diesem Bereich werden die Fallkosten natürlich mit der allgemeinen Einkommensentwicklung steigen.
Insgesamt zeigen sich für den Gesundheits- und Pflegebereich zwar wachsende Kosten, aber langfristig keine demografisch bedingte Katastrophe. Die gegenwärtigen Krise ist nicht demografisch, sondern ausschließlich beschäftigungs- und gesundheitspolitisch bedingt. Sie wird natürlich auch deshalb überzeichnet, um Druck zur Senkung der Arbeitskosten ausüben zu können.
Arbeitslosenversicherung
Die Arbeitslosenversicherung wird von Lohnabhängigen und Arbeitgebern getragen und auch nur von arbeitslosen Lohnabhängigen genutzt. Bevölkerungsrückgang und Alterung haben somit keine Auswirkung, wenn man vom wachsenden Risiko, mit zunehmendem Alter eher und länger von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, absieht. Die Umlage erfolgt trotzdem innerhalb der Alterskategorie der 15-65jährigen, so dass diese Versicherung hier nicht explizit betrachtet wird. Unberücksichtigt soll ebenfalls bleiben, dass bei Unterstellung einer Senkung der Arbeitslosigkeit eigentlich die Beitragssätze sinken könnten.
Was die aktuelle Lage anbelangt, so sei betont, dass der Abbau der Arbeitslosigkeit zu einer völligen Entspannung der finanziellen Lage der Sozialkassen und Gebietskörperschaften insgesamt führen würde. Die Kosten der Arbeitslosigkeit betrugen zuletzt jährlich etwa 80 Mrd. € (gesamtfiskalische Kosten und Mindereinnahmen durch Arbeitslosigkeit 2002).[25]Diese Kosten sind fast gleich groß wie der Saldo der Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Haushalte in Höhe von 84 Mrd. €.
4. Die Tragfähigkeit des Systems
Wird das Prinzip der Generationenbilanzierung auf hoher Aggregationsebene angewendet, muss der durchschnittliche Sozialbedarf pro Kopf je Altersgruppe analysiert werden. Die folgende Übersicht basiert auf Berechnungen der Deutschen Bundesbank[26], in denen die staatlichen Leistungen (Sozialleistungen und öffentliche Güter) insgesamt betrachtet werden. Danach betrugen diese im Jahr 2000 in der Altersgruppe bis 15 Jahre ca. 7500 € pro Kopf, in der Gruppe der 15-65jährigen ca. 11.500 € und in der Gruppe der über 65-Jährigen etwa 22.500 €. Werden diese Relationen nur auf die Sozialausgaben pro Kopf bezogen, ergeben sich die Werte wie in Tabelle 3 (eigene Schätzung).
Hätte die Bevölkerung unter diesen Bedingungen die Altersstruktur von 2050 (Variante 7), müsste die Sozialquote 46 Prozent betragen. Wird eine linearer Trend der Steigerung der Arbeitsproduktivität und eine unveränderte Erwerbsquote unterstellt, steigt das Pro-Kopf-BIP auf das 1,5-fache. Wenn die Sozialausgaben pro Kopf mit dem gleichen Tempo steigen, müsste die Sozialquote nur auf 38 Prozent erhöht werden (vgl. Tabelle 3) und könnte niedriger ausfallen, würde die Erwerbsquote gesteigert. Würde eine Arbeitszeitverkürzung entsprechend der Steigerung der Erwerbsquote realisiert, bliebe es bei 38 Prozent. Als dramatisch kann diese Belastungssteigerung nicht bezeichnet werden, aber es ist eine Steigerung.
Beträchtliche Potentialreserven werden darüber hinaus erkennbar, wenn die Zahl der Beitragspflichtigen erhöht würde. In Deutschland gab es 2004 27 Millionen SV-pflichtig Beschäftigte, aber 38 Millionen Erwerbstätige. Würden alle Erwerbstätige in die SV-Pflicht einbezogen, könnte entweder der SV-Beitrag um 40 Prozent gesenkt werden – von gegenwärtig 42 auf 26 Prozent – , um die gleichen Einnahmen zu erzielen,oder die Einnahmen könnten um 40 Prozent erhöht werden, wenn die Beitragssätze gleich blieben. Natürlich würde sich durch eine solche Erweiterung auch die Zahl der Anspruchsberechtigten erhöhen. Da diese Erweiterung jedoch in hohem Maße obere Einkommensschichten (Erwerbstätige mit Einkommen über den Pflichtversicherungsgrenzen, Selbständige, Beamte) beträfen, würden die Einnahmen wegen der damit verbundenen Steigerung des durchschnittlichen SV-pflichtigen Einkommens stärker als die Ausgaben steigen, da diese Einkommensbezieher wegen höherer Einkommen nicht öfter krank werden als andere und die gesetzlichen Rentenansprüche nur einen Teil der Sozialausgaben ausmachen und zudem, wie in anderen Ländern, nach oben begrenzt werden könnten.
Tabelle 3: Generationenstruktur der Sozialausgaben im Jahr 2000 und 2050
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Die Steigerung der Beitragssätze hat natürlich ökonomische Grenzen in den Erfordernissen der Kapitalakkumulation. Wenn die Einkommen und damit der Konsum der Nichterwerbstätigen mit der allgemeinen Einkommensentwicklung dynamisiert wird, und sich bei steigendem Altenquotienten deshalb die Beitragssätze erhöhen müssen, muss entweder die Konsumquote der Erwerbstätigen und der öffentlichen Hand oder die Investitionsquote sinken. Letzteres muss ausgeschlossen werden, da die Investitionsquote in Deutschland sowieso schon gering ist, und eine weitere Minderung das Wachstum der Produktivität und der Wirtschaft beeinträchtigen würde. Das heißt, die Dynamisierung von Sozialeinkommen entsprechend der Entwicklung der Bruttoeinkommen bedingt unter diesen Prämissen ein im Vergleich dazu langsameres Wachstum der Nettoeinkommen und der Konsummöglichkeiten der Erwerbstätigen. Übersteigt das Wachstum des Altenquotienten und damit des erforderlichen Beitragssatzes eine bestimmte Relation zum Wachstum der Bruttoeinkommen, kann es sogar zu Stagnation oder Rückgang der Nettoeinkommen kommen.
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Berechnet nach: iwd (Hrsg), Deutschland in Zahlen 2004, Tabellen 12.8 und 12.12
Diese Grenze für das Wachstum der Sozialquote gilt übrigens völlig unabhängig von der Finanzierung der Kosten für Gesundheit und Alter. Dafür ist es gleichgültig, ob staatliche Systeme, beitrags- oder steuerfinanziert oder privat finanzierte Systeme existieren. Zwar ist die Sozialquote in den USA sehr niedrig, aber nur, weil diese Ausgaben von Haushalten und Unternehmen privat finanziert werden; es handelt sich trotzdem um Kosten für konsumtive Ausgaben. Wenn immer wieder behauptet wird, dass es die Art der Finanzierung sei, die Leistungsanreize untergraben würde, so ist diese Behauptung durch keinerlei Belege gestützt, wie Abbildung 2 zeigt, in der die Abgabenquote (Steuern und Sozialabgaben) dem Wachstum der Produktivität gegenübergestellt sind. Das heißt, es gibt keinen Zusammenhang zwischen hoher wirtschaftlicher Dynamik und niedrigen Belastungen durch Steuern und Sozialabgaben. Länder mit hohen Abgabenquoten wie Neuseeland, Italien, Dänemark, Belgien, Frankreich und Schweden weisen völlig unterschiedliche Wachstumsraten der Produktivität, darunter sehr hohe Raten auf, während Länder mit eher niedrigen Quoten wie z.B. Japan, USA und Kanada auch nur durchschnittliche Wachstumsraten erreichen.
5. Gerechtigkeit und Solidarität unter Unsicherheit
Welches Fazit kann gezogen werden?
- Die Dramatik der demografischen Veränderungen wird überzeichnet, zumal sich der Alten- und Belastungsquotient über mehrere Jahrzehnte und Generationen verändert, so dass sich auch der wachsende Finanzierungsbedarf bei den Sozialleistungen nicht bei ein und derselben, sondern verteilt über mehrere Generationen ergibt.
- Ist ein steigender Belastungsquotient unabänderlich, kann darauf prinzipiell in drei Richtungen reagiert werden: mit steigender Arbeitsproduktivität, mit wachsendem Arbeitsvolumen (steigende Arbeitszeit und/oder steigende Erwerbsquote bzw. sinkende Arbeitslosigkeit) oder mit sinkenden Sozialleistungen bzw. Nettoeinkommen. Einen Automatismus – es wurde in der Vergangenheit geschafft, also wird es auch in Zukunft geschafft – gibt es nicht. In der politischen Auseinandersetzung muss ein bestimmtes Gleichgewicht in der Entwicklung dieser Faktoren hergestellt werden, soll das Wohlfahrtssystem erhalten bleiben.
- Die wachsenden Pro-Kopf-Einkommen bilden zwar die Basis für den Erhalt wohlfahrtspolitischer Funktionen des Staates, aber zweifellos sind grundlegende Konstruktionsänderungen erforderlich. Insgesamt ist ein Steigen der Sozialquote unumgänglich. Obwohl es dafür eine Obergrenze gibt, die durch die Erfordernisses der Akkumulation bestimmt wird, ist diese Grenze selbst bei wohlfahrtspolitischen Verbesserungen nicht in Gefahr.
- Die vorwiegende Finanzierung des Systems auf der Grundlage nur eines Teils der abhängigen Beschäftigung ist unzureichend; es müssen neue Gruppen von Beitragszahlern erschlossen werden.
- Die innere Konstruktion und der Anteil der einzelnen Elemente des Sozialsystems bedarf gravierender Änderungen, weil sich der Bedarf dieser einzelnen Elemente sehr unterschiedlich entwickelt.
- Die Gesamtentwicklung ist durch Unsicherheit gekennzeichnet. Das heißt, das neue System muss mit dieser Unsicherheit rechnen und eine bestimmte Flexibilität bewahren.
Da in diesem Beitrag die grundsätzliche Frage der Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaates unter den Bedingungen des demografischen Wandels im Vordergrund steht, soll hier keine Darstellung des zweifellos erforderlichen Reformbedarfs seiner einzelnen Elemente erfolgen.[27] Bestimmte allgemeine Erfordernisse zur Sicherung der Finanzierung können gleichwohl verdeutlicht werden.
Die notwendige Anpassung der Sozialsysteme muss bestimmten Prinzipien unterliegen, die keineswegs gleichrangig sind und die auch nicht widerspruchsfrei umzusetzen sind. Solche Prinzipien und Kriterien sind: Gerechtigkeit, Sicherung erworbener Ansprüche, Solidarität, Nachhaltigkeit, Effizienz, Äquivalenz, Transparenz, Beachtung von Neben- und Langfristwirkungen, Durchsetzbarkeit, Berücksichtigung von Übergangsproblemen. Ohne hier eine umfassende Diskussion dieser Aspekte vornehmen zu wollen, sei doch darauf hingewiesen, dass ihre jeweilige Bedeutung diskutabel ist und die entsprechenden Präferenzen einem Wandel unterliegen und dass ihre umfassende Realisierung jedes Sozialsystem überfordern würde.
Die Komplexität und Widersprüchlichkeit dieser Fragen wird vom neoliberalen Lager zum Vorwand der Schlussfolgerung genommen, dass es am besten sei, den ganzen „Sozialklimbim“ beiseite zu lassen und die soziale Absicherung jedem selbst zu überantworten. Scheinbar gibt es dann kein Regelungsdickicht mehr, scheinbar wird die Wahlfreiheit des Einzelnen und sein Leistungsanreiz erhöht, scheinbar werden die Kosten für den Faktor Arbeit geringer und die Beschäftigung steigt. Eine Gegenrechnung wird nicht aufgemacht: Die Kosten bleiben für den Einzelnen gleich und werden durch beträchtliche Informationskosten womöglich höher. Wachsende soziale Unsicherheit erhöht das gesellschaftliche Konfliktpotential und bindet Kräfte und Potentiale. Die Umverteilung von unten nach oben, also das Zurückdrängen des Solidarprinzips, wirkt insgesamt hemmend auf die Nachfrage, weil die durchschnittliche Sparneigung steigt. Die Kosten-Risiko-Relation wird insgesamt verschlechtert, weil die Summe aller Risiken zwar gleich bleibt, die Gesamtkosten jedoch höher sind, denn Wettbewerb der Kassen und Privatversicherer bedeutet ja, dass jede Kasse mit eigener Verwaltung und Werbung ausgestattet werden muss und dass die Konkurrenz unter ihnen einer Kontrolle, mithin einer zu finanzierenden Instanz bedarf. Diese Kosten bilden einen Abzug von den eigentlichen Versicherungsleistungen.
Vorteile von einer Privatisierung haben nur die oberen Einkommensschichten, deren Risiko/Kostenrelation sich verbessert. Deren Risikoprämien sind niedriger, weil ihr Risiko dasselbe ist wie bei niedrigen Einkommen, die Prämien jedoch niedriger als beim Zwang zur Solidarität ausfallen und diese Schichten in solidarischen Umlageverfahren naturgemäß Nettozahler sind. Privatversicherung und Kapitalbasierung sorgen für zusätzliche Einnahmequellen der Versicherungen und Banken, die deshalb das größte Interesse an privat finanzierten Systemen haben.
Dagegen sorgen breit und einheitlich angelegte Systeme für breitere Risikostreuung; demografisch und konjunkturell bedingte Schwankungen sowie die räumliche Differenzierung können besser ausgeglichen werden. Das heißt, nicht nur die individuellen Lebensrisiken sowie der Kinder- und Altersunterhalt sind besser zu bewältigen, sondern auch die Unsicherheit bezüglich des zu erwartenden Wandels in der Struktur der Risiken, d.h. des Anteils von Pflege-, Gesundheits-, Arbeitslosigkeits-, Unfall- und Alterskosten usw. an den Kosten der gesamten sozialen Sicherung. Die betrifft auch den territorialen Strukturwandel, d.h. stärkere Differenzierung von „reichen“ und „armen“ Ländern in Deutschland. So gesehen wäre eine einheitliches Sicherungssystem, eine umfassende Bürgerversicherung oder ein über eine Sozialsteuer finanziertes System besonders krisenfest. Die dagegen vorgebrachten Einwände, das Äquivalenzprinzip würde verletzt, die Intransparenz würde erhöht, der Zugriff der Politik und die Konjunkturabhängigkeit wären zu stark usw., sind weitgehend Scheinargumente. Auch ein einheitliches System lässt sich so konstruieren, dass es diesen Prinzipien gerecht wird.
Auf jeden Fall sind die folgenden Reformrichtungen, gegebenenfalls schrittweise, unausweichlich:
- Anheben und Aufhebung von Pflichtversicherungsgrenzen,
- stärkeres Anheben von Beitragsbemessungsgrenzen,
- Ausweitung der Pflichtversicherung über Arbeiter und Angestellte hinaus; Einbeziehung von Selbständigen, Freiberuflern, Beamten,
- Einbeziehung aller Einkünfte, Lösung von der einseitigen Bemessungsgrundlage der Arbeitseinkommen,
- Ausweitung der Risikostrukturausgleichsfonds.
Zur Entspannung der Probleme trägt neben der Beschleunigung des Produktivitätsfortschritts und der Verminderung der Arbeitslosigkeit sowie der prekären Beschäftigung am meisten die Steigerung der Erwerbsquote, vor allem der Frauen bei, verbunden mit der durchgreifenden Verbesserung der Bedingungen zur Vereinbarkeit von Mutterschaft, Familie und Beruf. Damit würde nicht nur eine schreiende soziale Ungerechtigkeit zuungunsten der Familien mit Kindern in der Gegenwart vermindert, auch das Ansteigen des Altenquotienten in der Zukunft könnte gebremst ( allerdings erst nach mehreren Jahrzehnten) und die Basis zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaates verbreitert werden. Unter der Bedingung eines Wachstums der Pro-Kopf-Einkommen könnte dann die Finanzierung der Sozialsysteme gesichert sein, weil infolge der Steuerprogression die Steuereinnahmen rascher steigen und zur Finanzierung der Fehlbeträge im Sozialsystem (wie schon gegenwärtig zu etwa einem Drittel) herangezogen werden könnten. Es vollzöge sich ein Übergang zu einem stärker steuerfinanzierten System wie in Irland oder Dänemark. Dies freilich schlösse neben der Reform des Sozialsystems auch eine umfassende und gerechte Steuerreform ein. Dabei ist als selbstverständlich vorausgesetzt, dass die inneren Reserven der einzelnen Teile des Sozialsystems durch Rationalisierung der Verwaltung und kostensenkenden technischen Fortschritt ausgeschöpft werden. Eine Senkung der Sozialleistungen als überhaupt letztes Mittel zur Sicherung des Sozialsystems ist somit aus demografischen Gründen nicht begründbar, wenn seine Finanzierung insgesamt gerechter gestaltet und verbreitert wird.
[1] Es besteht im Kern aus der Sozialversicherung (Rentenversicherung, Gesundheitsversicherung, Pflegeversicherung, Unfallversicherung und Arbeitslosenversicherung) und dem System zur Bereitstellung öffentlicher Güter durch den Staat im engeren Sinne, d.h. die Gebietskörperschaften (Bildung, Wissenschaft, öffentliche Sicherheit, Leistungen zur Sozialhilfe und Kinderbetreuung usw.).
[2] „...unter anderem haben die nicht zuletzt wegen der Sozialbeiträge hohen Lohnzusatzkosten ... dafür gesorgt, dass Jobs in Deutschland verloren gegangen sind“. Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.), iwd Nr. 17 vom 28. April 2005, S. 2.
[3] Angaben nach: SVR 2004, Tabellen im Anhang.
[4] Vgl. zur Sozialstaatskrise auch: AG Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2004, Köln 2004, S. 52ff.
[5] Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung Deutschlands bis 2050, 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (Pressexemplar), Wiesbaden 2003.
[6] BMGS (Hrsg.): Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherung, Bericht der Kommission, Berlin.
[7] Gerd Bosbach, Demografische Entwicklung – kein Anlass zur Dramatik (2004), www.memo.uni-bremen.de, S. 4.
[8] ver.di (Hrsg.): Mythos Demografie, Berlin 2003, S.13ff.
[9] Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.): Vision Deutschland, Köln 2005.
[10] Vgl. z.B.: Georg Erber, Ulrich Fritsche, Estimating and Forecasting Aggregate Productivity Growth Trends in the US and Germany, DIW Discussion Papers 471, Berlin 2005 und Christoph Kamps, Carsten-Patrick Meier, Frank Oskamp, Wachstum des Produktionspotentials in Deutschland bleibt schwach, Kieler Diskussionsbeiträge 414, Kiel 2004.
[11] Vgl. auch: Kai Eicker-Wolf, Kapitalflucht aus der zu teuren und vergreisenden Basarökonomie? In: Z 62, Juni 2005, S. 36ff.
[12] BMGS (Hrsg.), Nachhaltigkeit, a.a.O.
[13] Norbert Reuter, Demografische Entwicklung contra Sozialstaat? Eine ökonomische Potentialanalyse.. in: Intervention, Nr. 2, 2004.
[14] iwd, a.a.O., S. 48.
[15] Ebenda.
[16] Vg. auch: Jürgen Leibiger, Arbeitszeitverkürzung und Perspektiven der Freizeit, in: Ronald Blaschke, Jürgen Leibiger, Arbeitszeitverkürzung – Begründungen, Probleme, Lösungsansätze. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2004.
[17] Norbert Reuter identifiziert eine solche Entwicklung mit „Einkommenssteigerungen ... für jede Bürgerin und jeden Bürger... Vorausgesetzt, der gesamte Einkommenszuwachs würde gleichmäßig auf alle Köpfe verteilt.“ Ebenda, S. 29.
[18] Vgl. z.B. Bernhard Manzke, The long-term sustainability of public finance in Germany – an analysis based on generational accounting, Diskussionspapier 10/02 der Deutschen Bundesbank, März 2002.
[19] Vgl. H. Seitz, Demografische Wandel in Sachsen, Analyse der Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs auf die Ausgaben und Einnahmen des Freistaates und seiner Kommunen, EUV Frankfurt/Oder, März 2004, Internetversion.
[20] Christoph Scherrer, Zukunft der Wirtschaft, Arbeitspapier 45, Hans-Böckler-Stitung 2001, Tabelle 5.2, S. 153.
[21] Berechnet nach: Jochen Pimpertz, Soziale Sicherung, in: Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.): Perspektive 2050, Köln 2005, S. 254.
[22] Christoph Scherrer, a.a.O..
[23] Berechnet nach: Sachverständigenrat, Gutachten 2003, Tabelle 86* (Leistungsempfänger nach Altersgruppen). Hier wurde von altersspezifischen Pro-Kopf-Ausgaben abgesehen.
[24] Steigende Lebenserwartung geht mit besserer Gesundheit einher. In: Demografische Forschung Jg. 2 (2005), Nr. 1, S. 2.
[25] Was kostet uns die Arbeitslosigkeit? In: IAB-Kurzbericht Nr. 10 vom 21.7.2003, S. 5.
[26] Zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte – eine Analyse anhand der Generationenbilanzierung, in: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Dezember 2001, S. 29-44.
[27] Vgl. dazu z.B. Vorstand der PDS (Hrsg.), Agenda: Sozial, Berlin 2004.