Die historische Herausbildung des Sozialstaats hat die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nachhaltig verändert. Als politische Reaktion auf die Folgeprobleme kapitalistischen Wirtschaftens steht der Sozialstaat zugleich in einem strukturellen Spannungsverhältnis zur Logik marktwirtschaftlicher Vergesellschaftung.[1] Zwar ist die massenhafte Transformation der Arbeitskraft in Lohnarbeit ohne staatliche Politiken nicht denkbar. „Sozialpolitik umfasst dementsprechend all jene repressions-, sozialisations- und sicherungspolitischen Maßnahmen, Strategien und Institutionen, die den Prozeß der Proletarisierung, der Transformation von Arbeitskraftbesitzern in Lohnarbeiter kontinuierlich aufrechterhalten.“ (Lessenich 2000:51). Zugleich aber schränkt der Sozialstaat die private Verfügung über den gesellschaftlich produzierten Reichtum ein und lockert vermittelt über soziale Sicherungsleistungen den Zwang zur Vermarktung der Arbeitskraft um jeden Preis. Soziale Rechte und wohlfahrtsstaatliche Institutionen sorgen damit einerseits für einen gewissen Ausgleich zwischen Markt und Demokratie und sind deshalb Grundlage der Stabilität und Legitimation moderner Industriegesellschaften. Andererseits war und ist der Sozialstaat nie unangefochten und stand und steht stets im Zentrum heftigster gesellschaftlicher Konflikte und Spannungen.
Flexibler Kapitalismus und neoliberaler Umbau der
Arbeitswelt
Auch wenn die Kritik des Sozialstaats seine Entwicklung begleitet, wäre es falsch, sie als immergleiche Begleitmusik abzutun und das Neue der gegenwärtigen Situation zu übersehen. Die Zeiten haben sich geändert:
Die Arbeitnehmergesellschaft, der es in der gemeinhin als Fordismus bezeichneten Entwicklungsphase des Kapitalismus gelungen war, Arbeit und Schutz, Arbeit und relative Sicherheit miteinander zu verbinden, befindet sich in einem dramatischen Wandlungsprozess. Die Arbeitslandschaft ist von einer Vielfalt von Arbeits-, Organisations- und Beschäftigungsformen geprägt. Dabei ist das, was als Koexistenz unterschiedlicher Arbeitswelten erscheint, häufig das systemische Produkt einer Reorganisation von Wertschöpfungsketten, die qualifizierte Wissens- und Facharbeit am oberen Ende mit einfachen Tätigkeiten, prekärer Beschäftigung und geringen Partizipationsrechten am unteren Ende kombiniert.
Auch wenn über Ausmaß und Folgen der Restrukturierung gestritten wird, eines ist gewiss: von einem „Ende der Arbeitsteilung“ oder gar einem Ende der Arbeit kann keine Rede sein.
Einigkeit besteht in der Diagnose darin, dass wir es mit einer Verschiebung von Marktgrenzen in der Gesellschaft wie auch in Betrieben und Unternehmen zu tun haben. In den neuen Steuerungsformen von Arbeit wird der einzelne Arbeitnehmer, die einzelne Arbeitnehmerin unmittelbar mit Markt- und Kundenanforderungen konfrontiert. Selbstorganisation, Ergebnisverantwortung und flexible Arbeitszeiten bauen die bisherigen institutionellen Puffer zwischen Individuum und Markt ab.
Mit der in der Arbeitsforschung mittlerweile etablierten These von der Subjektivierung der Arbeit wird ein ambivalenter Neuzuschnitt der Arbeitsanforderungen beschrieben: einerseits werden subjektive Potentiale und Ressourcen in erweiterter Weise vom Betrieb vereinnahmt, andererseits sind damit auch Chancen erweiterter Verantwortung und Autonomie in der Arbeit verbunden. Der Umgang mit den Risiken und die Wahrnehmung von Chancen hängen von den jeweils vorhandenen Ressourcen ab und nicht zu unrecht wird davon ausgegangen, dass die Ausweitung von betrieblichen Arbeitszeiten, Mobilitätsanforderungen und eine enorme Verdichtung von Arbeit einem männlichen Lebensentwurf eher entsprechen.
Der Gruppe der Beschäftigten in selbst organisierten Arbeitsformen stehen Beschäftigte gegenüber, die weiterhin und in zunehmendem Maße in restriktive Arbeitsvollzüge eingebunden sind. Ehemals komplexe Arbeitsbereiche werden in Teilarbeitsbereiche gespalten und an Teilzeitbeschäftigte, Mini-Jobber und Aushilfen vergeben. Damit verändert sich aber auch der qualitative Charakter der Arbeit (Fuchs/Conrad 2003). Diese prekär Beschäftigten sind – aus einer betriebswirtschaftlichen Sicht – jederzeit ersetzbar und erheblich kostengünstiger. Die Behauptung, dass diese Beschäftigungsformen familienkompatibel und – so wird gefolgert – damit auch frauenfreundlich seien, ist übrigens eine sich hartnäckig haltende Mär.
In der Arbeitsforschung scheint es ausgemacht, dass die Hauptlast der Restrukturierung einer sich entgrenzenden Arbeitswelt von den Individuen zu tragen ist, wo es dann nur noch darum geht, entsprechende Kompetenzprofile zu erarbeiten und sie in Qualifizierungskonzepten umzusetzen. Günter Voß nennt hier u.a. die Fähigkeiten zur Selbstvermarktung, zur Selbstrationalisierung, zum Kompetenzmanagement, zur aktiven Biographisierung, zur Identitätsarbeit und „emotion work“ (Voß 1998). Dies sind Fähigkeiten, die sich auch übersetzen lassen nach dem Motto: „My-myself and I“. Max Horkheimers Analyse von 1936, wonach der Egoismus in einer Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters zentral sei, gewinnt eine neue Aktualität.
„Der Umstand, daß in dieser Welt jeder dem anderen zum Konkurrenten wird und selbst bei steigendem gesellschaftlichen Reichtum es der Menschen in steigendem Maße zu viele gibt, verleiht dem typischen Individuum der Epoche jenen Charakter der Kälte und Gleichgültigkeit, der sich angesichts der ungeheuerlichsten Taten, wenn sie nur seinem Interesse entsprechen, mit der erbärmlichsten Rationalisierung zufrieden gibt.“
Voß räumt ein, dass die Selbstvermarktung als letzter Zweck ein Risiko der Überforderung des Individuums mit Strukturierungszwängen und Anpassungsleistungen enthält. Wenn dem aber so ist, stellt sich die Frage, wie weit sich die Gesellschaft aus der Konstruktion von sozialen Handlungssicherheiten zurückziehen darf und auf die Gestaltung sozialverträglicher arbeitspolitischer Normen und Regeln verzichten kann.
Die Gewerkschaften stehen vor der Aufgabe, die Koppelung von Arbeit und Absicherung – die große historische Errungenschaft der Arbeiterbewegung – auf einer neuen Basis umzugestalten:
1. Die Begründung der Arbeitspolitik aus der Kritik des Taylorismus trägt nicht mehr. Für den Großteil derer, die immer noch von abhängiger Arbeit leben – seien es Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen, seien es die viel beschworenen modernen Wissensarbeiter mit ihren individualisierten Arbeitsverträgen – besitzt diese Kritik kaum noch praktische Relevanz (Dörre 2005: 251). Die Kritik an Fremdbestimmung und Autonomieverlust gehört heute zum Standardrepertoire der Rationalisierungsrhetorik. Es gilt, Kriterien für „Gute Arbeit“ neu zu bestimmen, die Begriffe wie Autonomie, Selbstverantwortung und Partizipation mit neuen Inhalten füllt und der Pluralität und Dynamik von Arbeits- und Beschäftigungsformen Rechnung trägt.
2. Die Begründung der sozialen Sicherung (allein) aus den Risiken der Lohnarbeiterexistenz trägt ebenfalls nicht mehr. In dem Maße, wie Massenarbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, aber auch neue Formen von Arbeit und Leben entstehen, bleibt eine Kopplung sozialer Sicherung allein an Erwerbsarbeit und –status defensiv. Es gilt, sozialstaatliches Handeln an den umfassenden Anspruch demokratischer Gestaltung von Alltag und Gesellschaft zu binden (Lessenich/Möhring-Hesse 2004).
Sozialstaat und Demokratie
Die aktuelle Sozialstaatskritik – scheinbar wissenschaftlich untermauert und medial inszeniert – fährt starkes Geschütz auf:
- Der Sozialstaat sei zu teuer geworden, wir lebten in einer Gesellschaft der Vollkasko-Mentalität und der Anspruchsexplosion.
- Der Sozialstaat wirke als Bleigewicht gegen eine Belebung des Arbeitsmarktes. Eine Entlastung der Unternehmer von Lohnnebenkosten könnte eine Belebung auf dem Arbeitsmarkt bewirken. Darüber hinaus verhindere das hohe Niveau der Sozialleistungen die Bereitschaft, auch Jobs in einfachen Dienstleistungen anzunehmen.
- Und überhaupt sei der Sozialstaat zu einem Selbstbedienungsladen für die gut gesicherte Bevölkerungsmehrheit geworden. Deren hohes Niveau des individuellen Wohlstandes mache heute eine Abkehr von der sozialstaatlichen Zwangsversicherung und den Aufbau von Formen privater Risikoabsicherung möglich. Damit könne nun der Sozialstaat auf seine eigentliche Aufgabe zurück geführt werden, nämlich die Versorgung der wirklich Bedürftigen.
Die im Impetus des Engagements für die „wirklich Bedürftigen“ vorgetragene Kritik am Sozialstaat verkennt dessen zentralen Kern:
Aufgabe des Sozialstaats ist nicht – zumindest nicht primär – die Übernahme von Aufgaben, die der einzelne privat nicht leisten kann. „Aufgabe des Sozialstaats ist die Organisation und Gewährleistung verallgemeinerter Gegenseitigkeit.“ „Er ist folglich mit der Umsetzung der Idee beauftragt, dass Aufgaben der sozialen Sicherung und Fürsorge gemeinsam und öffentlich besser, d.h. professioneller, effizienter und gerechter verwirklicht werden können als individuell und privat.“ (Lessenich/Möhring-Hesse 2004) Solidarität und Teilhabegerechtigkeit ist mithin keine Frage des Wohlstandsniveaus.
Aufgabe des Sozialstaats ist nicht bzw. nicht nur die Umverteilung öffentlicher Gelder oder die Verhinderung von Armut. Aufgabe des Sozialstaats ist es vielmehr, die sozialen Voraussetzungen der individuellen und gesellschaftlichen Gestaltungsfähigkeit zu garantieren. Seine Rolle als Schutzinstanz und Garant dafür, dass auf allen Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie jeder die notwendigen Mindestressourcen besitzt, um seine Unabhängigkeit zu bewahren, ist von zentraler Bedeutung. „Das soziale Eigentum hat die ‚Klasse der Nichteigentümer’, die zu anhaltender sozialer Unsicherheit verdammt war, rehabilitiert, indem es ihr ein Mindestmaß an Ressourcen, Chancen und Rechten verschafft hat, mittels deren sie wenn schon keine Gesellschaft der Gleichen, so doch eine ‚Gesellschaft der Ähnlichen’ bilden können.“ (Castel 2005: 47f)
Aus dem konditionalen Zusammenhang von Sozialstaat und Demokratie lässt sich eine Gegenthese zum aktuellen Paradigma des aktivierenden Staates formulieren: Materielle Freiheit verwirklicht sich nicht durch staatliche Abstinenz und Verweis des Einzelnen an Selbsthilfe und Selbstverantwortung, sondern sie verwirklicht sich erst durch staatliche Garantien auf Ermöglichung materiell gleicher Chancen auf politische Partizipation.
Die gegenwärtig bis zur Ermüdung vorgetragene Behauptung, kollektive Rechte und soziale Sicherheit seien der Tod der individuellen Freiheit und verhinderten ein marktkonformes Verhalten, unterstellt, der Arbeitsmarkt sei ein Markt wie der von Bohnen, Fahrrädern oder Leberwurst. Arbeitskraft, als von ihrem Träger untrennbar, ist aber gezwungen, subsistenzlogisch statt marktlogisch zu agieren. Für den Arbeiter, die Arbeiterin ist es lebensnotwendig, seine/ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Daher ist die Vertragsbeziehung zwischen Arbeitgeber und ArbeitnehmerIn ein völlig ungleiches Tauschverhältnis. Der Unternehmer kann seine Bedingungen diktieren, weil er Ressourcen besitzt, die dem Lohnabhängigen fehlen. Dadurch kann er die Verhandlungen in seinem Sinne steuern. Aus der Machtasymmetrie auf dem Arbeitsmarkt ergibt sich damit notwendig, dass allererst ein kollektiver Status, der durch gewisse Regeln definiert wird, dem Individuum Sicherheit und Schutz bieten kann. Sozialpolitische Rechte und Einkommensgarantien sind folglich auch nicht, wie Georg Vobruda zu Recht gegen die These von Esping-Andersen vorbringt, auf die Funktion der „Dekommodifizierung“ der Arbeitskraft, d.h. auf die Minderung des Warencharakters von Arbeit, zu reduzieren, sondern sie bauen Machtgefälle auf dem Arbeitsmarkt ab und sind „darum eine Voraussetzung zur Verwirklichung des Arbeitsmarktes in dem Sinne, dass beide Arbeitsmarktparteien in die Lage versetzt werden, (wenigstens ungefähr) marktmodell-konform zu agieren“ (Vobruda 2003: 150).
Die Vorwürfe der destruktiven Wirkung der sozialen Sicherung auf Kapital- und Arbeitsmarkt, der Armutsfalle und der unangemessenen Freiheitsnutzung lassen sich mit Georg Vobruda als Eingeständnis lesen, dass Sozialpolitik ein Stück Freiheiten für alle einlösbar macht, dass aber die bürgerliche Gesellschaft diese Verallgemeinerung ihrer Freiheitsversprechen nicht verträgt. In dieser Perspektive lässt sich die aktuelle Sozialstaatskritik als Demokratiekritik entlarven.
Claus Offe hat sich mit dem republikanischen Pathos beschäftigt, mit dem gerade auf der linken Seite des politischen Spektrums der Begriff des Gemeinwohl besetzt worden ist (Offe 2001). Er verweist auf die politische Instrumentalisierung des Gemeinwohlbegriffs zur Verbreitung von Ressentiments und Diskriminierungen. Deren Wirkungsspektrum reicht von der moralischen Infragestellung bestehender Rechtsansprüche bzw. deren Widerrufung bis hin zur Ausweitung positiver Rechtspflichten. Fluchtpunkt der herrschenden –sozialdemokratischen – Gemeinwohldeutung ist dabei die Diskreditierung der Nicht-Erwerbstätigkeit. „Aus Arbeit herausgenommen zu werden“ – so Streek und Heinze – „ist weder eine Wohltat noch gar ein Recht“. Es gehöre zu den „Solidaritätspflichten der Gemeinschaft, ihre Mitglieder nicht vor Marktzwängen zu schützen, die sie dazu bewegen könnten, sich noch einmal aufzuraffen.“ (Streek/Heinze 2000: 258) Was sich hier nach Stephan Lessenich abzeichnet ist „das Bild einer Aktivgesellschaft, deren eingeschränktes, halbiertes Verständnis von Aktivierung auf Individuen, nicht auf Kollektivitäten, auf selbstorganisierte Lebensführung, nicht aber auf kooperative Gestaltung des Arbeitsprozesses zielt – und in der das öffentlich angekündigte ‚Dir werden wir helfen’ in den Ohren eines strukturell passivitätsverdächtigen Publikums mehr wie eine Drohung denn als Verheißung klingen muß.“ (Lessenich 2003: 218) In der Obsession für immer mehr lohnabhängige Beschäftigung nach dem Motto „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit“ oder in der Variante von Frau Merkel: „Sozial ist, was Arbeit schafft“ sieht Lessenich weniger die Sorge um die individuelle Wohlfahrt der zu aktivierenden BürgerInnen, sondern vielmehr ein Verlangen nach sozialer Kontrolle durch Arbeit und arbeitsstrukturierte Zeit.
Neues Leitbild für den Sozialstaat
Über der Kritik der Sozialstaatskritik dürfen nun aber Leistungsversagen, Finanzierungsprobleme und Gerechtigkeitsdefizite der bestehenden Systeme sozialer Sicherung und Fürsorge nicht übersehen werden. Zwar entbehrt die Behauptung einer Unfinanzierbarkeit der Sozialen Sicherung in Anbetracht einer seit zwei Jahrzehnten nahezu gleich gebliebenen Sozialleistungsquote einer haltbaren Grundlage, gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass die Überlastung der beitragsfinanzierten Systeme der sozialen Sicherung durch allgemein gesellschaftliche Aufgaben zu Engpässen und Leistungsdefiziten in Teilbereichen der sozialen Sicherung geführt haben. Und nicht zu leugnen ist, dass die Normalitätsannahmen, die der Konstruktion der sozialen Systeme zugrunde liegen, mit dem Fortgang der Gesellschaft nicht Schritt gehalten haben und selbst zum Problemverursacher geworden sind.
Die sozialstaatlichen Institutionen und Interventionen verdanken sich einem Arbeits- und Sozialmodell des fordistischen Produktionsmodells, das bestimmte Normalitätsannahmen zu Grunde legt und ihnen erst zur Durchsetzung verholfen hat:
- Die Annahme der kontinuierlichen Beschäftigung im Normalarbeitsverhältnis als stabile Zugangsvoraussetzung zur sozialen Sicherung.
- Die Annahme der Familie als gesellschaftliche Normalität und damit der Gleichverteilung der Kinderlasten.
- Die Annahme der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in einem sozial abgesicherten Ernährermodell, mit der Folge einer aus der Erwerbstätigkeit des Mannes abgeleiteten sozialen Sicherung der nichterwerbstätigen Ehefrau.
- Die Annahme, dass Beiträge und Leistungen halbwegs gerecht verteilt werden.
- Schließlich die Annahme der Armutsvermeidung und Bedarfsgerechtigkeit des Fürsorgesystems.
Der Wandel von Arbeit und Lebensweisen mit Massenarbeitslosigkeit, Reallohnverlusten und der Prekarisierung von Beschäftigung auf der Seite des Arbeitsmarktes sowie die Pluralisierung und Individualisierung von Lebensweisen und der Legitimationsverlust des Ernährermodells haben diese Annahmen grundlegend in Frage gestellt.
Wie immer man zu den Thesen eines Umbruchs im Arbeits- und Sozialmodell steht, eine Rückkehr zu den Normalitätserwartungen des fordistischen Systems hält wohl keiner für möglich und – zumindest was das hierarchische Geschlechterverhältnis anbetrifft – auch nicht für wünschenswert.
Eine auf den Status quo orientierte und auf die Sozialen Sicherungssysteme konzentrierte Sozialpolitik steht damit in Gefahr, mit der Verteidigung der bestehenden Sicherungssysteme auch deren Leistungsversagen und deren Gerechtigkeitsdefizite mit zu verteidigen.
Der Sozialstaat lässt sich nur aus einem umfassenden Anspruch demokratischer Gestaltung verteidigen. Er bedarf – wie Möhring-Hesse und Lessenich formulieren – eines neuen Leitbildes eines Sozialstaats, der universalistisch ausgerichtet ist hinsichtlich seines Leistungsanspruchs wie auch hinsichtlich seiner Finanzierung. Die Funktionsweise des traditionellen Systems sozialer Sicherung ist grundlegend in Frage gestellt, wenn es weiterhin diejenigen nicht miterfasst, die aus der Welt der Erwerbsarbeit herausgefallen sind oder an ihr nur diskontinuierlich teilhaben. Die Zweiteilung zwischen einem immer noch die meisten Beschäftigten absichernden Versicherungssystem und Fürsorge- und Hilfeleistungen, mit denen Minimalleistungen gegen die Vielfalt sozial prekärer Situationen gewährt werden, können den Ruin des gesellschaftlichen Zusammenhangs bedeuten. Ein homogenes Rechtssystem, das über den Einbau von Mindestsicherungselementen die Dichotomie von Sicherungsleistungen verhindert und zugleich hinsichtlich seiner Finanzierung auf eine breite, alle Beschäftigungs- und Einkommensarten einbeziehende Basis gestellt ist, kann die sozialen Solidaritätsbeziehungen wieder stärken.
Nach wie vor ist das soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik auch auf die Erwerbstätigkeit der Frauen und Mütter und die Pluralisierung von Familien- und Lebensformen nicht ausgerichtet. Unabweisbar notwendig sind grundlegende Veränderungen des in der alten Bundesrepublik durchgesetzten Wohlfahrtsstaates als Sozialversicherungsstaat mit relativ wenig ausgeprägten sozialen Diensten, Halbtagsschulen und defizitärer Kinderbetreuung. Diese überholte Struktur eines westdeutschen Sonderweges hat in der Vergangenheit eine insgesamt niedrige Erwerbsbeteiligung der Frauen in der alten Bundesrepublik bzw. Westdeutschland begünstigt. Zwar zeichnen sich hier derzeit Veränderungen ab – Förderung der Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen und Müttern und Individualisierung sozialer Sicherungsansprüche haben Konjunktur – freilich mehr im Sinne der Funktionalisierung erwerbstätiger Mütter für einen deregulierten und unterbezahlten Dienstleistungsmarkt, als im Sinne der Anerkennung und sozialen Regulierung einer Vereinbarkeit von Beruf und Sorgearbeit. Im Zuge der verstärkt hervortretenden „Entgrenzung“ von (Erwerbs-)Arbeit und Leben gewinnt diese Frage der Vereinbarkeit sowohl in zeitlicher wie auch in sozialer und psychosozialer Sicht in wachsendem Maße an Bedeutung (Pröll/Gude 2003). Dabei muss es vor allem darum gehen, über Arbeitspolitik und Arbeitskultur ein neues gesellschaftliches Normalarbeitsverhältnis zu etablieren, das die Dynamik und den Pluralismus flexibler Arbeit mit neuen Formen sozialer Sicherung verbindet. D.h. die Aufgabe besteht darin, neue Ankerpunkte für Sicherheitserfahrungen in Bezug auf den Arbeitsmarkt und das Beschäftigungssystem zu installieren. Die Debatte um das Leitbild „Flexicurity“ kann dabei Anknüpfungspunkte bieten.
Der Sozialstaat ist zu verteidigen, freilich nicht in einer unendlichen Reihung von kleinteiligen Gerechtigkeitsdiskursen, sondern in der Perspektive eines demokratischen Gemeinwesens, das der Fiktion der Marktgesellschaft die soziale Gestaltung eines „guten Lebens“ entgegenhält.
Literatur
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Dörre, K., Prekarität – eine arbeitspolitische Herausforderung, in: WSI Mitteilungen Heft 5/2005 S. 250-259
Fuchs, T. Conrads, R., Analyse der Arbeitsbedingungen, -belastungen und Beschwerden von abhängig Beschäftigten unter besonderer Berücksichtigung von flexiblen Arbeitsformen. Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitschutz und Arbeitsmedizin, 2003
Horkheimer, M., Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters, in: Z. Sozialforschung 5, 1936, S. 161-234
Lessenich, S., Der Arme in der Aktivgesellschaft – zum sozialen Sinn des „Förderns und Forderns“, in: WSI Mitteilungen, 4/2003, S. 214-221
Lessenich, S., Die Arbeit in der Sozialstaatsdebatte, Ein Plädoyer für eine realistische Theorie der Sozialpolitik, in: Ludwig, H., Gabriel, K. (Hrsg.), Gesellschaftliche Integration durch Arbeit, Münster 2000, S. 41-67
Lessenich,S., Möhring-Hesse, M., Ein neues Leitbild für den Sozialstaat. Gutachten im Auftr. der Otto-Brenner-Stiftung, 2004
Offe, C., Wessen Wohl ist das Gemeinwohl? In: Wingert, L., Günter, K. (Hrg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 2001, S. 459-488
Pröll, U., Gude, D., Gesundheitliche Auswirkungen flexibler Arbeitsformen, Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Fb 986, Dortmund, Berlin, Bremen 2003
Stolz-Willig, B. (Hrg.), Arbeit und Demokratie, Solidaritätspotentiale im flexiblen Kapitalismus, Hamburg 2001
Streek, W., Heinze, R.G., Institutionelle Modernisierung und Öffnung des Arbeitsmarktes: Für eine neue Beschäftigungspolitik, in: Kocka, J., Offe, C., Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt/Main 2003, S. 234-265
Vobruda, G., Freiheit: Autonomiegewinne der Leute im Wohlfahrtsstaat, in: Lessenich, S. (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe, Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt/New York 2003, S. 137-157
Voß, G., Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft, eine subjektorientierte Interpretation des Wandels der Arbeit, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Heft 3/1998
[1] Vortrag zur gemeinsamen Veranstaltung des DGB Hessen in Kooperation mit Arbeit und Leben und Frankfurter Rundschau am 7.06.2005 in Frankfurt/Main.