Daß die kapitalistische Welt mehr ist als der Gestaltwandel von Warenwerten, die sich nach Marx aus konstantem und variablem Kapital und Mehrwert – c+v+m – zusammensetzen, haben wir gewusst. Aber was alles genau dazu gehört und sich geschichtlich entwickelt hat, das zeigt die „kleine Geschichte des Kapitalismus“ Georg Fülberths, deren Haupttitel und -thema „G Strich“ ist, die Vermehrung von Geld zu G’ im kapitalistischen Wirtschaftskreislauf durch einen Zusatz, der (nicht nur von Marx) Profit genannt wird.*
Es ist bislang, auch bei marxistischen Theoretikern, keineswegs klar, was Kapitalismus ist, falls es so etwas gibt. Marx hatte das Substantiv Kapitalismus kaum oder nie benutzt, spätere wissenschaftliche Begriffsbestimmungen wurden nicht allseitig geteilt. Da Georg Fülberth zu den selten gewordenen Sozialwissenschaftlern gehört, die ihren Gegenstand begrifflich zu bestimmen versuchen, bevor sie über ihn reden, gibt es im theoretischen Teil dieses Buches, der dem historischen vorausgeht, zunächst den „Versuch einer eigenen Definition“. „Kapitalismus“ ist ihm zufolge, leicht verkürzt gesagt, die „Funktionsweise“ von – darum „kapitalistisch“ zu nennenden – „Gesellschaften“, die auf der „Erzielung von Gewinn und der Vermehrung (Akkumulation) der hierfür eingesetzten Mittel (=Kapital)“ durch die Produktion von Waren „sowie durch den Kauf und Verkauf von Waren [...] beruhen“, in denen also diese Wirtschaftsweise herrscht (12, 19ff). Für „Gesellschaft“ (ein in den bürgerlichen wie marxistischen Gesellschaftswissenschaften ebenfalls nicht geklärter Begriff) gibt es eine eigene Begriffsbestimmung, die über die ökonomische Reproduktion dadurch hinausweist, daß sie den Lebensunterhalt der nicht-erwerbsfähigen Bevölkerung sowie die Sicherung der räumlichen Lebensvoraussetzungen zu den Aufgaben gesellschaftlichen „Zusammenwirkens von Menschen“ zählt; dabei wird der Begriff der menschlichen Arbeit auf eine bewußte „Nutzbarmachung von Gütern“ beschränkt (12f). In einem Durchgang durch die wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftliche Begriffsgeschichte seit Marx über Joseph A. Schumpeter bis K. William Kapp werden Ergänzungen des genannten Kapitalismuskonzepts gewonnen, in das insbesondere die Kategorien des „ungleichen Tauschs“ und der „marktvermittelten Herrschaft“ einbezogen werden (19-46; die Effektivitäts- und Effizienzbegriffe 44f bedürften weiterer Klärung). Aus Fülberths Kurzfassung dieses Begriffs („Kapitalismus ist Akkumulation der Produktionsmittel aus dem Gewinn“) ergibt sich „die Frage: Wie entsteht der Gewinn?“ (47), die im Fortgang des theoretischen Teils untersucht wird.
Georg Fülberth macht hierzu einen zweiten Durchgang durch die Historie sozialökonomischer Kategorien von Adam Smith bis zu Robert L. Heilbroner, diesmal „auf der Suche nach dem Gewinn“ (47-80). Bei der Behandlung der Arbeitswertlehre von Marx, demzufolge sich der Wert der Waren aus den – Arbeitsmengen darstellenden – Elementen c, v und m zusammensetzt und sich mittels gesamtwirtschaftlicher Umverteilungen in Warenpreise umwandelt, wobei der Mehrwert sich als Profit darstellt, stimmt er einem auch sonst kaum bestrittenen Resultat der langen Debatte des Problems dieser sogenannten Transformation zu: es sei Marx nicht gelungen, die Rückführbarkeit der Preise auf jene Werte bruchlos nachzuweisen und seine Auffassung treffe nicht zu, es seien die Summe aller Werte gleich der Summe aller Preise und zugleich stets die Summe aller Mehrwerte gleich der Summe aller Gewinne. Er beruft sich hier vor allem auf die 1992 veröffentlichten Untersuchungen von Friedrun Quaas, und anscheinend sind auch weitere Resultate der Diskussion dieses Problems seit den frühen 1990er Jahren (z.B. in der Zeitschrift „Z“) sowie Erträge der theoretischen Arbeit in der Forschungsgruppe Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Marburger Universität in dieses Urteil und in die Schlußfolgerungen hieraus eingegangen, die für die Frage der Quellen des Gewinns und später für die Darstellung der Geschichte des Kapitalismus gezogen werden. Dabei wird zunächst festgehalten: „Preise lassen sich nicht in reiner Form auf Arbeitswerte zurückführen. Damit ist auch der Profit nicht alternativlos als Mehrwert darstellbar.“ (58) Also: für Profit gibt es auch andere Quellen als den Mehrwert. Welche das sein können, sagt, Georg Fülberth zufolge, vor allem Robert L. Heilbroner: außer dem Mehrwert (den Heilbroner aber anders als Marx begreifen will) auch Handelsgewinn und Innovationsgewinn, welche beide (wie die unmittelbare Ausbeutung der Arbeitskraft) Eigentum an Geld und Sachgütern voraussetzen (75ff).
Zunächst zwei Bemerkungen zu Effekten dieser Argumente auf die Arbeitswertlehre und für die Darstellung der Geschichte bürgerlicher Gesellschaften. Erstens: Die Einbindung des Kapitalismuskonzepts einschließlich der Lehre von der Wertbildung durch gesellschaftliche Arbeit in einen Gesellschaftsbegriff, der auch die Bevölkerung und die Naturgrundlagen von Vergesellschaftung umfasst, berührt den Begriff der gesellschaftlichen Arbeit und somit auch den Begriff des Werts. Die Erwägung weiterer Profitquellen außer der mehrwertschöpfenden Arbeit kann hingegen die Grundannahme der Arbeitswertlehre, daß sich in Erzeugnissen menschlicher Arbeit zeitlich bestimmte Arbeitsmengen, Werte genannt, vergegenständlichen, nicht infrage stellen, wenngleich dies für die Auffassung, es würden sich alle Waren zu durch das Wertgesetz beherrschten Preisen tauschen, nicht gilt. Zweitens: Das Verständnis von Kapitalismus als einer Wirtschaftsweise, die in einer Gesellschaft (mehr oder weniger) herrscht, erfordert es, die Geschichte des Kapitalismus nicht als bloße Abfolge auseinander hervorgehender Produktions- und Akkumulationsstrategien oder -regimes zu beschreiben oder als Progression ökonomischer Stadien, die ein postuliertes Grundgesetz kapitalistischen Wirtschaftens verwirklichen, sondern, diese Geschichte unter Einschluss der außerökonomischen Institutionen sowie der gesamtgesellschaftlichen Mensch-Natur-Beziehungen zu betrachten und zu begreifen. Da aber die Umwandlung von Profiten in Kapital und somit Ausweitung von Mehrwertproduktion und Kapitalakkumulation unbestritten den Kern dieser Wirtschaftsweise bilden, müssen die Formen der Profiterzielung, der Kapitalverwertung und der Organisierung von Produktion und Akkumulation im Mittelpunkt einer solchen Geschichtsschreibung stehen.
Diese Aufgaben einer erweiterten Historiographie des Kapitalismus bewältigt Georg Fülberth im umfangreichen historischen Teil seines Buches mit Bravour (81-300). Er erzählt die Gesellschaftsgeschichte des Kapitalismus im westlichen Eurasien und später auch in anderen, europäisierten Weltgegenden von der Vorgängergesellschaft des Feudalismus bis zum Neoliberalismus der Gegenwart, mit Perioden, die durch ein Fortschreiten zu zusätzlichen Gewinnquellen und -arten (Handelsgewinn, Gewinn aus industriellem Mehrwert, Gewinn aus Prozess- und Produktinnovationen, Monopolgewinn) ökonomisch charakterisiert sind. Einbezogen in die Betrachtung werden jeweils: stofflich-energetische und technische „Grundlagen“ der Wirtschaft, Eigentumsverhältnisse oder „Sozialstruktur“, Formen der Familie und der sozialen Sicherung, Formen der Politik und des Staates, räumliche Verhältnisse, „Gegenbewegungen“ von „links“ bis „rechts“ und, für den entwickelten Kapitalismus, die „Organisierung“ von Arbeit und Kapital. Jede Schematisierung der Historie aber wird vermieden, dagegen beeindruckt, selbst wenn Historiker fehlerhafte Details aufdecken könnten, die Fülle der dargestellten Sachverhalte. So können die Leser/innen anhand konkreter Informationen nachvollziehen, wie sich der Kapitalismus im Verlauf eines halben Jahrtausends allmählich immer tiefer in alle Sphären der gesellschaftlichen Reproduktion der Menschen, der außermenschlichen Natur und ihrer wechselseitigen Beziehungen hineingefressen und das Alltagsleben geprägt hat. Und was dessen Zukunft angeht, so gibt es im Schlußkapitel dazu ebenfalls äußerst lesenswerte Ausführungen.
Zwei Bemerkungen zum Stellenwert des Problems der sogenannten Transformation der Werte in Preise und eines Ausstiegs aus der Diskussion dieser Problematik für eine materialistische politische Ökonomie und Gesellschaftslehre.
Erstens: Die meisten Expert/inn/en in Sachen „Transformation der Werte in Preise“ sind sich, aus verschiedenen Gründen, anscheinend einig darüber, daß die Versuche gescheitert sind oder sogar scheitern mussten, den sich erweiternden gesamtwirtschaftlichen Kreislauf der Produktion, Distribution, Zirkulation und Konsumtion von Waren insgesamt als geldvermittelten Tausch von Waren mit arbeitsbestimmten Werten zu aus diesen ableitbaren Preisen darzustellen, wobei die Mehrwerte ihrer Auffassung nach vollständig in durchschnittliche Profite verwandelt sein sollten. Eine einheitliche widerspruchslose arbeits- und mehrwerttheoretische Preis- und Profitlehre könne es daher nicht geben. Sei dies wie es sei. Es gibt jedenfalls kapitalistische „Sonder-Einkommen“ (204), die unmittelbar mit Mehrwert nichts zu tun haben, und es gibt insbesondere gesamtwirtschaftliche Verhältnisse bzw. Vorgänge, in denen Handels- sowie Erzeugergewinne entstehen, die nur teilweise aus Mehrarbeit in der jeweilige Herkunftsbranche der gewinnerzielenden Waren und auch nicht notwendig aus Mehrwert anderer Branchen stammen. Beispielsweise ist der Warenhandel zwischen unterentwickelten und überentwickelten (kapitalistischen) Ökonomien zwar nicht als eo ipso ungleicher Tausch zu begreifen, doch führt eine etablierte internationale Dependenz u. U. etwa im (post)kolonialen Agrarsektor zu Verkäufen unter Wert zulasten kleinbäuerlicher Familien mit entsprechenden kommerziellen Profiten. Ein anderes Beispiel sind Profite aus jenen branchenbegründenden Prozeß- und Produktinnovationen, die z. B. die chlorchemische Erzeugungs- und Verarbeitungsindustrie hervorgebracht haben und die zu großen Teilen aus der Umwidmung wertloser Abprodukte in zirkulierendes konstantes Pseudo-Kapital oligopolistischer Unternehmensverbindungen bestanden. Gewinne dieser Art gehören zu den von Georg Fülberth genannten Kategorien der kommerziellen bzw. Innovationsprofite (75-78) und setzen (wie die kapitalistische Wirtschaft überhaupt) Machtausübung mittels institutionalisierter Verfügungsgewalten und -rechte voraus. Das alles bekräftigt die von ihm hervorgehobene These Robert Heilbroners, daß (Eigentum genannte) Verfügungsrechte und entsprechende Verfügungsgewalten (aber auch außerökonomische Machtbeziehungen) die ökonomische Modellwelt des Warentauschs und erst recht deren Rand- und Rahmenbedingungen durchziehen und prägen. Letzteres zeigt sich an jenen – von Georg Fülberth verschiedentlich betonten (32ff, 182ff u.a.) – wesentlichen Verletzungen des Grundsatzes, daß der Wert der Waren durch die für ihre (Wieder-)Her- oder Bereitstellung gesellschaftlich notwendige Arbeit bestimmt sei, welche sich aus der Bedeutung unbezahlter Dienstleistungen für die Bereitstellung der Arbeitskraft durch die (patriarchale) Familie und für das Verfügbarmachen von Ressourcen durch das (staatliche) Gemeinwesen ergeben. Man kann sich angesichts solcher offenkundiger Lädierungen des Äquivalenzprinzips in gesamtgesellschaftlichem Maßstab fragen, warum Marx so sehr danach strebte, den richtigen Gedanken der Vergegenständlichung von Arbeit in den Erzeugnissen und des Idealfalls eines Austauschs von Waren im Verhältnis der in ihnen steckenden Arbeitsmengen als ein unabdingbares gesamtwirtschaftliches Gesetz darzustellen, welches das Ganze der Austauschverhältnisse beherrscht. Es muß – wie auch bei anderen Problemen im „Kapital“ – ein gewisser Drang zu einer „objektiven Analyse des kapitalistischen Mechanismus“ als eines perfekten Mechanismus gewesen sein, mit dem Ziel einer Zusammenfassung aller „rein“ entwickelten Bewegungsgesetze in einem einzigen Modell (MEW 24, 504 u. 25, 184).
Zweitens: Ob und ggf. in welchem Sinne das Diktum Georg Fülberths, daß die Transformationsdebatte „mittlerweile als abgeschlossen gelten kann“ (58), richtig ist, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls ist es ein befreiendes „¡ya basta!“ zu jenen lange währenden Erörterungen selbstgeschaffener Fragestellungen, denen Marx zwar durch modelltheoretischen Übereifer und (wie gesagt wurde) mathematische Unzulänglichkeiten Vorschub geleistet haben mag, deren (ihm teilweise wohlbekannte) Anlässe er aber nicht als vordringliche Arbeitsaufgaben angesehen hatte. War nun diese bisherige Debatte Much Ado About Nothing? – das wohl nicht. Denn als wichtige Resultate der Auseinandersetzung mit jenem Problem können zumindest gewisse Klarstellungen gelten, nämlich, daß das Wertgesetz nicht alles und jedes bestimmt und daß die gesamtwirtschaftliche Profitmasse nicht vollständig auf den Mehrwert rückführbar ist, wie umgekehrt letzterer sich nicht nur in Profit verwandelt. Ein Verzicht auf weitere Versuche einer perfekten „Transformation“ von „Arbeitswerten“ in „Produktionspreise“ schiene mir gleichbedeutend mit der Zerstörung der illusionären Vorstellung eines geschlossenen Kreislaufs geldvermittelter Warentauschbeziehungen in den bürgerlichen Gesellschaften und erlaubte insbesondere eine ausdrückliche Einbeziehung aller gesellschaftlichen Macht-Ohnmacht-Verhältnisse, darunter der Eigentum genannten Verfügungsrechte und entsprechender Verfügungsgewalten, in die Darstellung der kapitalistischen Gesellschaft. Schon die Anerkennung weiterer Gewinnquellen als des durch Arbeit geschaffenen Mehrwerts erfordert auch (gleichgültig, was eine ebenfalls notwendige Klärung der Beziehungen entsprechender Gewinne zum Mehrwert erbringt) die Untersuchung eben dieser unmittelbar mit Verfügungsgewalten und daher Machtverhältnissen verschwisterten Quellen. Dadurch muß eine kritische Darstellung kapitalistischer Gesellschaften weitaus komplexer angelegt werden als bisher üblich, insbesondere muß sie extraökonomische, darunter staatliche, patriarchale und auch technische Gewaltverhältnisse einbeziehen, die weit in die Geschichte und Vorgeschichte des Kapitalismus zurückreichen. Insofern können und müssen Kapitalismus und Profit nun als geographisch-historisch konkrete Sachverhalte dargestellt werden – so, wie das die vorliegende „kleine Geschichte des Kapitalismus“ tut.
Ihr Autor hat in einer Vorbemerkung seinen – schon früher vorgetragenen – Begriff einer „Kapitalistik“ erläutert. Das soll die Wissenschaft sein, „in der die kapitalistischen Voraussetzungen und Folgen menschlichen Handelns und Denkens [...] reflektiert werden.“ (7) Diese Idee einer „neuen Weise der Erkenntnisgewinnung“ (ebd.), die im vorliegenden Buch praktiziert wird, eröffnet den Gesellschaftswissenschaften, wenn sie kritische Wissenschaft sein wollen, eine überzeugende Perspektive.
* Anmerkungen zu: Georg Fülberth, G Strich – Kleine Geschichte des Kapitalismus, PapyRossa Verlag, Köln 2005, 314 S., 19,80 Euro.