Nach dem Non der Franzosen und dem Nee der Niederländer ist in Europa nichts mehr wie es vorher war. Doch die „Berufseuropäer“ wollten das zunächst nicht wahrhaben. Nach dem ersten Schock setzten sie ihre bekannten selbstbewussten Mienen auf und verkündeten ein trotziges „weiter so!“ Der Vorsitzende der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas, der deutsche Europaabgeordnete Martin Schulz, stellte für sich fest: „Ich weiß, was in der Verfassung steht – dass nämlich mein deutsches Votum genauso viel wert ist wie ein französisches. Darauf beharre ich als Europäer.“[1] Was ja wohl heißen sollte, dass eine Mehrheit im Bundestag in einer Reihe mit dem Nein von 15,422 Millionen französischer Wählerinnen und Wähler steht. Noch vermessener äußerte sich sein Kollege Klaus Hänsch. Allen Ernstes forderte er am Morgen nach dem Nee von mehr als 60 Prozent der Bevölkerung die niederländische Regierung auf, das Ratifizierungsgesetz dennoch in das Parlament einzubringen.
Auch die Garde der nimmermüden Europarechtler war mit ihren Notfallplänen sofort zur Stelle. Verwiesen wurde auf die wohl nur wenigen Experten bekannte Wiener Vertragsrechtskonvention, wonach sich alle 25 Mitgliedstaaten durch die Unterschriften ihrer Regierungschefs unter den Verfassungsvertrag ein für alle mal verpflichtet hätten, nun auch für seine Ratifizierung zu sorgen, da sie sich sonst des Vertragsbruchs schuldig machen würden. Angesichts solch genialer Vorschläge konnte man den Eindruck gewinnen, dass es manche Juristen geradezu auf den Ausbruch revolutionärer Aufstände in Frankreich und in den Niederlanden anlegten.
Wenig überzeugend wirkte auch die immer wieder vorgenommene Aufzählung der Schar von Ländern, die schon ratifiziert hatten, wobei selbst die Zustimmung des maltesischen Parlaments eine große Meldung wert war.[2] Denn was nutzte schon all die Zusammenrechnerei von Ländern und Bevölkerungen, die Ja gesagt hatten, wenn der Vertrag doch nur bei Zustimmung aller Mitgliedstaaten in Kraft treten kann.
Die Regierungen jener EU-Länder, in denen die Ratifizierung noch aussteht, zogen unterdessen ihre eigenen Konsequenzen und dies meist still und leise. Ein Referendum nach dem anderen wurde abgesagt. Den Anfang machte Großbritannien, das die für 2006 geplante Volksabstimmung auf „Eis legte“, es folgten Dänemark, Irland, Portugal, Polen und schließlich auch Tschechien.
Allein in Luxemburg wurde noch abgestimmt. Wie allgemein erwartet, wurde der Verfassungsvertrag dort am 10. Juli 2005 gebilligt. Betrachtet man das Ergebnis genau, so kann von einem „starken Signal“[3], wie es Kommissionspräsident Barroso meinte vernehmen zu können, aber kaum gesprochen werden. Den 109.494 Ja-Stimmen standen nicht nur 84.221 Nein-Stimmen gegenüber, es wurden auch 5.984 weiße bzw. ungültige Wahlzettel gezählt und 21.108 Personen gingen trotz Wahlpflicht erst gar nicht zu den Urnen. Die Verfassung wurde also mit einer Mehrheit von 49,61 Prozent der wahlberechtigten Bürger oder 56,52 Prozent der gültigen Stimmen gebilligt. 43,5 Prozent der Stimmen lauteten auf Nein. Vor allem aber: Luxemburg galt und gilt als das „integrationsfreundlichste“ Land, seine Bürgerinnen und Bürger genießen – auch dank des hier praktizierten skandalösen Schutzes ausländischer Bankguthaben – den mit Abstand höchsten Lebensstandard in der EU. Das zweitkleinste Land der Union ist zudem Sitz zahlreicher europäischer Institutionen mit Tausenden von Arbeitsplätzen. Berücksichtigt man zudem, dass sich keine einzige größere Partei Luxemburgs gegen den Verfassungsvertrag ausgesprochen hatte,[4] und dass bei einem Nein Ministerpräsident Jean-Claude Juncker seinen Rücktritt angekündigt hatte und somit die Abstimmung stark von innenpolitischen Fragstellungen bestimmt war, so ist das Ergebnis überaus bemerkenswert. Es ist Beweis dafür, dass die Skepsis gegenüber der gegenwärtigen europäischen Politik inzwischen auch die Kathedralen der Macht erreicht hat.
In der europäischen Linken war bereits nach den Abstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden deutlich gemacht worden, dass kein Interesse daran besteht, die noch ausstehenden Referenden abzusetzen. Ihrer Ansicht nach kann nur aus der Mobilisierung breiter Bevölkerungsmassen Neues entstehen, kann die dringend notwendige Kursänderung der europäischen Politik nur auf diesem Wege durchgesetzt werden. Die luxemburgische Linkspartei déi Lénk formulierte es so: „Es geht um die Beibehaltung der Dynamik der Infragestellung des neoliberalen Europas.“[5] Auch die schwedische Linkspartei sah keinen Grund, auf ihre Forderung nach einem Referendum zu verzichten. Inzwischen hat sie die sozialdemokratische Regierung zwingen können, den parlamentarischen Ratifizierungsprozess auszusetzen. Ähnlich in Griechenland. Dort wird der Ruf immer lauter, endlich das Volk entscheiden zu lassen. Dass dies bereits das griechische Parlament stellvertretend für das Volk getan hat, irritiert die Befürworter eines Referendums nicht, schließlich hatten sowohl die französische Nationalversammlung als auch die luxemburgische Abgeordnetenkammer noch vor den Volksabstimmungen den Verfassungsvertrag gebilligt, übrigens in Frankreich mit einer Mehrheit von über 90 und in Luxemburg gar mit 100 Prozent!
Ein Verfassungsvertrag, der nicht sterben darf
Am 16./17. Juni 2005 befasste sich der Europäische Rat mit der neuen Situation. Zuvor war die Parole ausgegeben worden, alles zu unterlassen, was auch nur den Anschein erwecken könnte, der Vertrag sei tot. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn erklärte für die damalige Ratspräsidentschaft, dass „die EU nach dem Scheitern der Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden ein drittes und viertes Nein“ vermeiden müsse.[6] Und über die Haltung der deutschen Bundesregierung wurde berichtet: „Ähnlich äußerte sich Außenminister Fischer: Der Verfassungsprozess müsse weitergehen. Allerdings solle der Gipfel ganz in Ruhe beraten, ob die Zeitachse zur Ratifizierung verlängert werden könne. Oberste Maxime der Bundesregierung ist es, den Verfassungstext zu retten, da es sonst in absehbarer Zeit nicht mehr gelingen dürfte, ein solch umfassendes Werk zu Stande zu bringen.“[7] Eine besondere Sorge galt der britischen Position, fürchtete man doch, dass sich Blair das für ihn nicht gewinnbare Referendum in Großbritannien nach dem Non und dem Nee gleich ganz vom Halse schaffen wollte. Die Süddeutsche Zeitung meldete: „Deshalb versuchten mehrere EU-Regierungen und EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker Blair zu überreden, seine Vorbereitungen für das britische Referendum allenfalls vorläufig auszusetzen. ‚Wichtig sei, dass London das Verfahren in der Schwebe hält’, hieß es in der Bundesregierung.“[8] Diesen Ratschlägen folgend, fiel denn auch der Beschluss des Europäischen Rates aus: „Die jüngsten Entwicklungen stellen nicht in Frage, dass die Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses gerechtfertigt ist. Wir haben vereinbart, dass der Zeitplan für die Ratifizierung in verschiedenen Mitgliedstaaten angesichts dieser Entwicklungen und der jeweiligen Gegebenheiten in diesen Mitgliedstaaten angepasst wird. Wir kommen überein, im ersten Halbjahr 2006 zusammenzukommen, um eine Bewertung aller einzelstaatlichen Diskussionen vorzunehmen und den weiteren Fortgang des Ratifizierungsprozesses zu vereinbaren.“[9] Dies ist die klassische, oft bewährte Haltung der europäischen Bürokratie, wenn mal etwas schief läuft. Zunächst achtet man darauf, dass der ereichte Stand erhalten bleibt und nicht noch weiter in Frage gestellt wird. Anschließend versucht man, das Thema aus der Öffentlichkeit zu nehmen, um es nicht zusätzlich zu beschädigen. Es wird ein Termin angesetzt, wann es wieder auf der Agenda erscheinen soll. Dieser muss weit genug in der Zukunft liegen, damit gesichert ist, dass es den Gegnern nicht mehr gelingt an die alten Debatten anzuknüpfen. Hilft auch das nicht, so wartet man auf günstigere politische Konstellationen in den widerspenstigen Mitgliedsländern. Für Frankreich wurde so bereits das Datum der Präsidentschaftswahlen 2007 genannt, wenn die Zeit von Chirac endgültig abgelaufen ist. Spätestens dann will man einen neuen Anlauf wagen.
Eine „Denkpause“
Die vom Europäischen Rat verkündete „Zeit der Reflexion“, in der eine „ausführliche Diskussion in den Mitgliedsländern“ stattfinden soll, ist Ausdruck gegenwärtiger Rat- und Hilflosigkeit. Wie man diese „Zeit der Reflexion“ aber auf jeden Fall nicht nutzen sollte, haben inzwischen die europäischen Sozialdemokraten gezeigt: In einem „Fünf-Punkte-Plan zur Beilegung der EU-Krise“ fordern sie ausgerechnet jetzt die Verabschiedung der Dienstleistungs- und der Arbeitszeitrichtlinie, also die schnelle Annahme gerade jener höchst umstrittenen Vorhaben der EU, deretwegen viele in den Niederlanden, in Frankreich und auch in Luxemburg Nein gesagt hatten.[10]
Realistischer ist die neue konservative französische Regierung unter Dominique de Villepin. Sie kündigte an, beide Direktiven „vermeiden“ zu wollen.[11] Künftig sollen deshalb einmal im Monat Sitzungen zu den Projekten der EU-Kommission veranstaltet werden, um die politischen Folgen von geplanten EU-Richtlinien vorab zu besprechen. Und nicht nur das: Mit dem Hinweis auf den Ausgang des Referendums ist in der französischen Innenpolitik auch der Slogan vom „schlanken Staat“ in der Versenkung verschwunden. Keine Rede ist mehr vom Abbau von 350.000 Stellen des öffentlichen Dienstes. Angekündigt wurde stattdessen die Schaffung von 100.000 „die Rückkehr in die Beschäftigung begleitenden Verträgen“, die staatlich finanziert werden und den öffentlichen Krankenhäusern, Altersheimen und anderen Einrichtungen zugute kommen sollen. Man sieht: Das Non zeigt bereits erste Wirkung!
Ein neuer Vertrag wird bereits konzipiert
Zu Konsequenzen ganz anderer Art kommt man hingegen in den europapolitischen Think Tanks. Dort nimmt man die schönen Worte von der geplanten großen Aussprache mit den Menschen nicht allzu ernst, sondern begreift die gegenwärtige Phase vielmehr als Möglichkeit, Zeit zu gewinnen, Korrekturen vorzunehmen und um Pläne zu schmieden, mit deren Hilfe ein erneuter Anlauf gelingen kann. Hier tut sich vor allem das Centrum für angewandte Politikwissenschaft (CAP) hervor, das gemeinsam von der Münchener Maximilians-Universität und der Bertelsmann-Stiftung getragen wird. Das CAP war bereits in den neunziger Jahren als Stichwortgeber bei der Entwicklung der Konventsmethode und mit seinem Vorschlag, die institutionellen Probleme der EU mit Hilfe eines Verfassungsprozesses zu überwinden, aufgefallen.[12]
Angesichts der Niederlagen in Frankreich und in den Niederlanden fordert das CAP nun aber Abstand zu nehmen von einer „symbolstarken Überhöhung des Vertragscharakters“, was nichts anderes heißt, als zukünftig auf den Begriff Verfassungsvertrag zu verzichten.[13] Und in der Tat war diese Begriffswahl ein fataler Fehlgriff der politischen Eliten. Es wurde damit eine große öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt, wo es doch „nur“ um eine Anpassung des Institutionengefüges an eine vergrößerte EU ging. Günther Nonnenmacher schrieb dazu in der FAZ: „Hätte man der EU nicht eine ‚Verfassung’ geben wollen, sondern sich damit begnügt, den missratenen Vertrag von Nizza so zu verbessern, dass die größer gewordene Union funktionsfähig bleibt, wäre das ein großer Erfolg geworden. Stattdessen wurde der fatalen europapolitischen Neigung nachgegeben, Formen zu schaffen in der Hoffnung, diesen würden Funktionen zuwachsen und danach könnten sie auch Legitimität erwerben. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Form muss der Funktion folgen. Eine Verfassung sollten die EU-Staaten, alle zusammen oder einige von ihnen, dann in Angriff nehmen, wenn sie sich darauf einigen können, einen Zustand von – wie immer definierter – Staatsähnlichkeit anzustreben. Bis dahin sind (bescheidenere) Verträge gut genug.“[14]
Wie ein solcher „bescheidenerer“ Vertrag aussehen könnte, darüber hat das CAP bereits sehr genaue Vorstellungen. Ausgangspunkt ist die Entkoppelung von institutionellen und inhaltlichen Fragen. „Die Änderungen einzelner Bestimmungen des EU- und EG-Vertrages von Nizza könnten die zentralen Neuerungen der Verfassung auch ohne umfassende Neuformulierung des europäischen Primärrechts bewahren.“[15] Dahinter steht die richtige Beobachtung, dass sich in den Kontroversen um den Verfassungsvertrag die Auseinandersetzungen „nicht am institutionellen und prozeduralen Kern der Verfassung entzündet“[16] hatten. Und in der Tat, die Kritik, insbesondere die der Linken, richtete sich vor allem gegen die materiellen Bestimmungen des Vertrages, etwa gegen den geforderten „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschten Wettbewerb“ oder gegen eine solch provokante Formulierung wie die, wonach sich „die Mitgliedstaaten verpflichten, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“[17] Doch vieles von dem Kritisierten findet sich bereits – wenn auch nicht so zugespitzt wie etwa in den Artikeln über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik des Verfassungsvertrages – in den geltenden Verträgen über die Europäische Union bzw. über die Europäische Gemeinschaft. Obwohl manche dieser Formulierungen bereits seit 1992 feste Bestandteile der vertraglichen Grundlagen sind, wurden sie erst jetzt, in der Kampagne zum Verfassungsvertrag, bewusst zur Kenntnis genommen.
Nur ganz am Rande wurden dagegen die institutionellen Neuerungen des Verfassungsvertrages einer kritischen Würdigung unterzogen.[18] Doch gerade hier sollen jetzt die Rettungsversuche für den Verfassungsvertrag ansetzen. In der Studie heißt es: „Die wesentlichen Fortschritte der Verfassung im Hinblick auf Handlungsfähigkeit, Demokratie und Transparenz wurden nicht in Frage gestellt. Diesen Kern gilt es auch im Falle des Scheiterns der Ratifizierung zu sichern. Eine pragmatische Option besteht darin, den Kernbestand an Verfassungsneuerungen in die bestehenden Verträge zu übertragen. Hierzu müssten die zentralen Reformen der Verfassung identifiziert und in Gestalt eines Änderungsvertrags zum Vertrag gebündelt werden.“[19]
Doch gerade diese als „wesentliche Fortschritte“ gepriesenen Reformen des Institutionengefüges würde kaum mehr Transparenz und vor allem keine Demokratisierung der EU zur Folge haben. Es handelt sich vielmehr um ein beispielloses Programm der Straffung und Zentralisierung der Entscheidungsverfahren und Gremien der Union. Mit ihm soll die EU fitt gemacht werden, um nach ihrer Erweiterung von 15 auf 25 und bald noch mehr Staaten handlungsfähig im Sinne der europäischen Eliten zu bleiben.[20] Es geht darum, die Eingriffs- und Einspruchsrechte vor allem der kleineren und mittleren Staaten so zu beschneiden, dass sie in dem sehr viel größer gewordenen Europa zukünftig nicht mehr stören können.
Dem dient etwa die Ausweitung der Bereiche, in denen der Ministerrat zukünftig mit Mehrheit entscheiden kann, von gegenwärtig 137 auf zukünftig 181 Fälle. Dem entsprechend verlieren die Mitgliedstaaten hier ihre Vetomöglichkeiten. Zwar werden zugleich auch die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments ausgeweitet, doch das Parlament bleibt ein unvollständiges. Auch nach den Bestimmungen des Verfassungsentwurfs wird es kein Initiativrecht bekommen. Der Kommissionspräsident wird auch zukünftig nicht frei vom Europäischen Parlament gewählt werden können. Die entscheidende Vorauswahl bleibt weiterhin dem Europäischen Rat vorbehalten.
Doch die zentrale Bestimmung der mit dem Verfassungsvertrag vorgesehenen Reform des Entscheidungs- und Abstimmungsverfahrens im Rat und Europäischen Rat ist die Einführung der „doppelten Mehrheit“. Tritt die Bevölkerungszahl als positives Kriterium an die Stelle der gewichteten Stimmen, so werden sich die Machtverhältnisse unter den Staaten erheblich verschieben. Begünstigt sind die vier bevölkerungsstärksten Länder, und hier insbesondere Deutschland. „Da die Länder Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland gegenwärtig jeweils 29 gewichtete Stimmen im Rat haben, beträgt ihr prozentualer Anteil an den 345 Gesamtstimmen nach der Erweiterung nur jeweils 8,4 Prozent. Ganz anders sähe es hingegen aus, wenn die Bevölkerungszahl zu dem entscheidenden Kriterium wird. Dann würde sich allein der Anteil Deutschlands glatt auf 17 Prozent verdoppeln. Die Anteile Frankreichs, Großbritanniens und Italiens würden sich auf immerhin noch jeweils ca. 12 Prozent erhöhen. Da sich aber die von Spanien und Polen nur geringfügig von 7,8 auf 8 Prozent vergrößern, ginge der Einfluss dieser beiden Staaten zurück.“ [21] Allein diese vier Staaten, die 55 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, würden nicht mehr weit von der Mindestgröße von 65 Prozent entfernt sein, die u. a. erforderlich ist um eine qualifizierte Mehrheit zu erreichen.[22]
Die Einführung der doppelten Mehrheit, wobei die demographische Größe eines Landes das entscheidende Kriterium ist, gehört schon seit langem zu den wichtigsten Zielen der deutschen Europapolitik, schließlich profitiert kein anderes Land davon wie Deutschland. Sie bedeutet in der Tat „eine Zäsur in der Entwicklung der Europäischen Union“ denn dieses Abstimmungsverfahren „erschwert“, wie es ganz offenherzig in der CAP-Studie gesagt wird, „die Bildung mitgliedstaatlicher Blockadekoalitionen und fördert konstruktive Mehrheiten“.[23] Die Mächtigen wissen daher weiterhin sehr genau, was sie wollen. Ihre Agenda werden sie jetzt zwar umschreiben, aber ihre Ziele behalten sie dabei fest im Blick.
Die Linke sagte Nein
Wie sieht das nun auf der anderen Seite, auf der Seite der Nein-Sager aus? Hier ist zwischen den verschiedenen Ländern zu unterscheiden, in denen Referenden stattfanden. Die innenpolitischen Konstellationen in Spanien, Frankreich, den Niederlanden und in Luxemburg sind nur schwer miteinander zu vergleichen. In Spanien etwa war die Ablehnung in den nach mehr Autonomie strebenden Regionen am größten. Hier misstraut man dem europäischen Verfassungsprozess, da mit der damit einhergehenden Zentralisierung auch die Schwächung regionaler Strukturen verbunden ist. Insgesamt blieb in Spanien die öffentliche Aufmerksamkeit für das Referendum gering und die Wahlbeteiligung niedrig.
Bei den drei anderen Ländern lässt sich hingegen ein durchgängiger Trend feststellen. Es gab hohe Wahlbeteiligungen und das Nein wurde vor allem von den abhängig Beschäftigten getragen. In Frankreich stimmten 76 Prozent der Arbeiter und 55 Prozent der Angestellten und in den Niederlanden gar 78 Prozent der Arbeiter und 60 Prozent der Angestellten gegen den Verfassungsvertrag. Ein ähnliches Bild ergab sich in Luxemburg. In den Industriegebieten des Südens überwog das Nein. Die größte Zustimmung gab es dagegen in der Hauptstadt Luxemburg und hier insbesondere in ihren Villenvororten, dort wo der Reichtum des Landes zu Hause ist.[24] Es kommt in Luxemburg eine Besonderheit hinzu: Gut 38 Prozent der dort abhängig Beschäftigten konnten an der Abstimmung nicht teilnehmen, da sie entweder Bürger anderer EU- Staaten oder von Drittstaaten sind. Hätten sie mit abgestimmt, so wäre das Ergebnis mit Sicherheit anders ausgefallen.
Es ist demnach offensichtlich, dass Zustimmung und Ablehnung des Verfassungsvertrags eng mit der sozialen Lage korrespondieren. Und so war das Nein denn auch vor allem unter den Wählern der Linksparteien populär. In Frankreich stimmten 95 Prozent der Anhänger von PCF sowie der radikalen Linken und 61 Prozent der Unterstützer der Sozialisten und der Grünen gegen den Verfassungsvertrag. In den Niederlanden lag der Anteil bei den Anhängern der Sozialistischen Partei bei 87 Prozent und bei denen der sozialdemokratischen PvdA bei 63 Prozent. Doch nur 46 Prozent der Unterstützer von Groen Links stimmten mit Nein
Ein Ja für ein anderes Europa?
Diese Zahlen sagen aber noch nichts darüber aus, weshalb der Vertrag in den einzelnen Ländern abgelehnt wurde. Die oft zu hörende Interpretation, die Ablehnung sei in erster Linie innenpolitisch motiviert gewesen, erklärt noch nichts. Zum einen wird dabei regelmäßig und gern übersehen, dass auch auf der Seite der Befürworter diejenigen deutlich überwogen, die ihr Abstimmungsverhalten an innenpolitischen Gesichtspunkten ausrichteten.[25] Zum anderen betrafen die etwa in Frankreich als die wichtigsten Gründe für eine Ablehnung genannten Motive („negativ für die Beschäftigung“ und „Arbeitslosigkeit“) die neoliberal ausgerichtete Politik generell, ganz gleich, ob sie auf nationaler oder europäischer Ebene angesiedelt ist.
Man würde aber die Ergebnisse überinterpretieren, wollte man das Nein einfach gleichsetzen mit einem Plebiszit für ein anderes, vor allem soziales Europa. Eine solche Annahme kann womöglich noch für Frankreich gelten, wo die Aussage „zu wenig ‚soziales Europa’“ immerhin noch auf den vierten Platz kam. Mit Sicherheit gilt das aber nicht für die Niederlande, wo diese Aussage erst auf Platz 23 auftauchte.[26] Offensichtlich reflektieren diese unterschiedlichen Motive die verschiedenen nationalen Sichtweisen auf die europäische Integration. Die Bürgerinnen und Bürger Frankreichs als eines großen, die Politik der Europäischen Union immer entscheidend mitbestimmenden Landes erwarten von ihrer Regierung heute die Durchsetzung einer anderen Politik, auch und gerade in Europa. Selbstbewusst wurde dies etwa von der „Europäischen Konferenz“ am 25. Juni 2005 vorgetragen: „Wir wollen die Krise im europäischen Aufbau, dessen Leitbild der Markt und dessen Liturgie die heimliche Verhandlung sind, überwinden, ein soziales, demokratisches, friedliches, feministisches, ökologisches, mit den Völkern solidarisches Europa schaffen.“[27] Ganz ähnlich klang die Erklärung des Konvents der ATTACs Europas, einer Organisation, die bekanntlich ihren Ursprung in Frankreich hat.[28]
In den Niederlanden ist die Sichtweise eine andere. Die Ablehnung war dort stark von Ängsten vor einem Verlust nationalstaatlicher Souveränität geprägt. Auch die dem Verfassungsvertrag kritisch gegenüberstehende niederländische Linke stellte diese skeptische Haltung in den Mittelpunkt ihrer Kampagne.[29] Vergleichbar mit den Öffentlichkeiten der skandinavischen Länder sieht man in diesen relativ kleinen Ländern kaum Möglichkeiten, nachhaltig Einfluss auf die europäischen Geschicke zu nehmen. Verschärft noch durch die Erweiterung der Union von 15 auf 25 Länder hat sich dort die Haltung der „passiven Integration“ etabliert. Auf die regelmäßigen Anwandlungen der großen EU-Staaten, ein Direktorium oder ein Kerneuropa zur Beschleunigung der Integration zu gründen, reagiert man dort allergisch. Die großen demokratischen Defizite der EU werden hier ungleich schärfer registriert als in den großen Mitgliedstaaten. Viel deutlicher wird auch erkannt, dass die mit dem Verfassungsvertrag einhergehende Zentralisierung und Straffung von Gremien und Entscheidungsstrukturen vor allem auf Kosten der kleinen und mittleren Staaten gehen wird.
Eine Konzeption für ein „anderes Europa“ hat diese unterschiedlichen Sichtweisen, die sich übrigens durch alle Fraktionen im Europäischen Parlament ziehen,[30] zu berücksichtigen. Ganz und gar unangebracht ist die Diffamierung dieser Haltungen als nationalistisch oder gar wohlstandschauvinistisch. Konzeptionen für ein „anderes Europa“ haben vielmehr Antworten auf dieses nicht mehr zu leugnende und sogar wachsende Demokratiedefizit in der Europäischen Union zu geben. Auch in den großen Staaten wächst die Kritik an diesen Mängeln.[31]
Es reicht eben nicht aus, nur Forderungen nach einer Stärkung des Europäischen Parlaments zu stellen. Da eine europäische Öffentlichkeit bisher kaum existiert, sind der Entwicklung demokratischer Rechte auf europäischer Ebene von vornherein enge Grenzen gesetzt. Entscheidend bleibt vielmehr – zumindest auf absehbare Zeit – die Stärkung der nationalstaatlichen Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeiten, um mit ihrer Hilfe europäische Politik zu gestalten. All die schönen und richtigen Konzeptionen eines „sozialen, demokratischen, friedlichen, feministischen, ökologischen, mit den Völkern solidarischen Europas“ müssen verbunden werden mit gangbaren Vorstellungen, wie man dahin kommen will, ansonsten bleiben sie unverbindliche Blaupausen.
[1] Handelsblatt vom 31.5.05.
[2] Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 8.7.05.
[3] Vgl. „Luxemburger billigen EU-Verfassungsvertrag“, in: FAZ vom 11.7.05.
[4] So hatte denn auch die Luxemburger Abgeordnetenkammer den Verfassungsvertrag am 28. Mai 2005 in erster Lesung mit allen 55 abstimmenden Abgeordneten angenommen.
[5] ‚Auszeit’ für die EU-Verfassung: späte Einsicht oder Sturheit? in: Goosch.lu, Informationsdienst der Partei déi Lénk (die Linke) Nr. 56, Juni 2005.
[6] „EU-Außenminister finden keine Lösung für die Verfassungskrise“, in: Handelsblatt vom 14.6.2005.
[7] Ebd.
[8] „Sorge um die Zukunft der Europäischen Union“, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.06.2005.
[9] Tagung des Europäischen Rates am 16./17. Juni 2005, Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Ratifizierung des Vertrags über eine Verfassung für Europa.
[10] Unter Punkt 2 des „Fünf-Punkte-Plans zur Beilegung der EU-Krise“ der SPE vom 21.6.2005 heißt es: „Die Dienstleistungsrichtlinie gemeinsam zu verabschieden, um Wettbewerb zu sichern und gleichzeitig hohe Sozial- und Umweltstandards zu garantieren. Ebenso soll ein Rechtsrahmen für öffentliche Dienstleistungen geschaffen werden. Die Arbeitszeitrichtlinie gemeinsam zu verabschieden, um Flexibilität zu gewährleisten und Ausbeutung zu verhindern. Diese beiden Richtlinien sind wie keine andere geeignet zu zeigen, dass Markterfordernisse und soziale Stabilität zusammen gehören.“
[11] Vgl. „Die Rückkehr der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – Villepin will um jeden Preis Beschäftigungserfolge und verschont die Beamten“, in: FAZ vom 1.7.2005.
[12] Vgl. zur Rolle des CAP und vor allem seines Chefs, Werner Weidenfeld, bei der Entstehung des Verfassungsvertrages: Andreas Wehr, Europa ohne Demokratie? Köln 2004, S. 10f.
[13] Vgl. Centrum für angewandte Politikforschung (CAP), Wege aus der Verfassungskrise, ein Vertrag zum Vertrag von Nizza.
[14] „Das Publikum verlässt den Saal“, in: FAZ vom 13.6.2005.
[15] CAP, Wege aus der Verfassungskrise, a.a.O, S. 3.
[16] CAP, a.a.O., S. 1.
[17] Artikel I-41, Abs.3 des Vertrags über eine Verfassung für Europa.
[18] Eine der wenigen kritischen Artikel dazu ist der Beitrag von Norman Paech „Die Europäische Verfassung – ein Schritt zur Demokratisierung der EU?“, in: Zur Kritik des Vertrags über eine Verfassung für Europa, herausgegeben von der PDS-Delegation in der Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament, Brüssel 2005.
[19] CAP, a.a.O., S. 1.
[20] Zur Analyse und Kritik dieser im Verfassungsvertrag enthaltenen Veränderungen des Institutionengefüges vgl. auch Andreas Wehr, Wer regiert in Europa? Die neue Hegemonialordnung der Europäischen Verfassung, in: Z 58, Juni 2004, S. 116ff.
[21] Andreas Wehr, a.a.O.
[22] Artikel I-25 des Vertrags über eine Verfassung für Europa bestimmt in Absatz 1: „Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 Prozent der Mitglieder der Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der Union ausmachen.“
[23] CAP, a.a.O., S. 2.
[24] Die meisten Nein-Stimmen gab es mit mehr als 56 Prozent in der Stahlarbeitergemeinde Rumelange dicht an der lothringischen Grenze, die wenigsten (32 Prozent) im Luxemburger Vorort Strassen.
[25] Dies war insbesondere in Luxemburg der Fall. Nachdem Ministerpräsident Jean-Claude Juncker angekündigt hatte, im Fall einer Ablehnung von seinem Amt zurück zu treten, wurde das Referendum zu einem Plebiszit über sein Verbleib. Und nur 19 Prozent der Ja-Wähler begründeten dementsprechend ihre Zustimmung denn auch mit dem Inhalt der Verfassung. Dies gilt auch für die Abstimmung in Spanien vom Februar 2005. Geschickt wurde sie dort vom frisch gewählten Ministerpräsidenten Zapatero in eine Abstimmung über den Kurs der neuen Regierung, insbesondere über den innenpolitisch heftig umstrittenen Abzug der spanischen Truppen aus dem Irak umgedeutet.
[26] Am häufigsten wurde dort genannt: 1. Zu wenig Information, Verfassungstext undurchschaubar; 2. Verlust nationalstaatlicher Souveränität befürchtet; 3. Protest gegen bestimmte Parteien/Regierung; 4. EU zu teuer. Konsequent denn auch, dass 66 Prozent der Niederländer als Konsequenz des Neins die Neuverhandlung des Vertrags mit dem Ziel nennen, die Interessen der Niederlande besser zu verteidigen. Vgl. Eurobarometer zum Ausgang des Referendums in den Niederlanden.
[27] Zur „Europäischen Konferenz“ waren am 24. und 25. Juni 2005 auf Initiative der Kommunistischen Partei Frankreichs die 200 internationalen Unterzeichner des Aufrufs für eine Unterstützung des Nein eingeladen.
[28] Vgl. „Für eine demokratische Neugründung Europas“, Konvent der ATTACs Europas vom 16. Juni 2005.
[29] Von der Sozialistischen Partei wurden etwa Flugblätter mit einer Karte Europas verteilt, auf denen sich auf der Fläche der Niederlande die blaue Nordsee erstreckte.
[30] In der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) sind es die schwedische Linkspartei, der finnische Linksbund und die Sozialistische Partei der Niederlande, die mit vergleichbaren Argumenten einen euroskeptischen Flügel in der Fraktion bilden. Auch die jede weitere Integration ablehnenden portugiesischen und griechischen Kommunisten reflektieren die Unterordnung dieser im EU-Verbund schwachen und kleinen Länder im europäischen Integrationsprozess.
[31] In Deutschland wird diese Kritik etwa regelmäßig im Zusammenhang mit den unzureichenden Mitwirkungsrechten der Bundesländer in europäischen Angelegenheiten artikuliert.