Die unumstrittene US-Dominanz im internationalen System und eine durch die neoliberale Globalisierung „geschliffene“, zahn- und perspektivlose Arbeiterbewegung sind fundamentale Merkmale der gegenwärtigen Weltordnung. So lautet zumindest eine weit verbreitete Ansicht. Aus welthistorischer Perspektive stellt sich die Situation anders dar: Die globale Vorherrschaft der USA ist äußerst fragil und die Arbeiterbewegungen[1] setzen zu einem neuen Kampfzyklus an. Diese Thesen der Soziologen Beverly J. Silver und Giovanni Arrighi waren Thema des Workshops an der Uni-Marburg.
Bereits am Freitagabend stellte Beverly Silver ihr neues Buch „Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870“ vor. Mit ihrem Buch erregte Silver Aufsehen, da sie gegen Grundannahmen auch der gewerkschaftlichen Linken anschreibt. Sie bestreitet darin eine strukturelle Schwächung von Arbeiterbewegungen und Lohnarbeit durch die Globalisierung. Ihre zentrale These lautet: wohin das Kapital auch geht, Arbeiterunruhen folgen auf dem Fuß. Wenngleich in Regionen, aus denen produktives Kapital abziehe, die Arbeiterbewegungen geschwächt würden, nähmen Arbeiterunruhen in den Regionen, in die das Kapital ziehe, zu, und zwar nicht nur im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch im Kampf um Demokratie. Arbeiterklassenformierung und Proteste verlagerten sich historisch innerhalb gewisser Industrien, entlang der geographischen Reallokation der Produktion, aber auch hin zu neuen Leitindustrien. Würde sich das aus ihrer Analyse von Zeitungen erkennbare historische Muster fortsetzten, müsste es beispielsweise in China bald zu einer großen Welle von Arbeiterunruhen kommen.
Giovanni Arrighi formulierte in seinem Vortrag die These, dass die US-Hegemonie im gramscianischen Sinne vorbei sei. Spätestens seit dem 11. September handelte es sich vielmehr um Dominanz ohne Hegemonie, die USA gebrauchten weder Überredung noch Konsens, um ihre Vormachtstellung im internationalen System zu behaupten, vielmehr seien Zwang und Korruption an deren Stelle getreten. Arrighi unterscheidet zwei zentrale Krisentypen einer Hegemonialmacht und des maßgeblich von ihr gestützten Weltkapitalismus. Einerseits ließen sich in der Geschichte des modernen Weltsystems finale Krisen (terminal crisis) identifizieren. Sie beenden einen Hegemoniezyklus und führen in eine „chaotische“ und turbulente Epoche bis ein neuer Hegemon wieder relative Stabilität garantiere. Ein Beispiel wäre das „Zeitalter der Katastrophen“ (Hobsbawm), das am Ende der britischen Vorherrschaft die Welt in zwei globale Kriege stürzte. Der andere historisch zu identifizierende Krisentypus markiere jeweils den Anfang der finanziellen Expansion eines dominanten Akkumulationsregimes, die Signalkrise (signal crisis). Aufgrund von Überakkumulationskrisen werde Kapital aus Produktion und Handel in die Finanzsphäre verlagert. Die Signalkrise führe nicht zuletzt wegen der „Finanzialisierung“ der globalen Ökonomie oft zur größten Blüte einer Hegemonialmacht, markiere aber zugleich ein Signal für eine systemische Krise. In dieser Phase der sich verstärkenden Widersprüche bestehe für ein konkurrierendes Regime die Möglichkeit, sich durchzusetzen. Die Signalkrise der US-Hegemonie liegt Arrighi zufolge bereits zurück: die Überakkumulationskrise und der relative Niedergang der amerikanischen Hegemonie der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Die folgende US-zentrierte neoliberale Globalisierung habe (oberflächlich) eine Erneuerung der amerikanischen Vorherrschaft und des Kapitals bewirkt, insbesondere nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes in der Clinton-Ära (Belle Epoque). Damit revidierte Arrighi eine Einschätzung aus seinem Buch: „The long 20th century“. Hier hatte er die Belle Epoque in der Reagan-Zeit verortet. Der Höhenflug der neunziger Jahre konnte die anhaltende Überakkumulationskrise zwar übertünchen, aber nicht verschwinden lassen. Die Schwierigkeit besteht aber darin, die finale Krise zu identifizieren.
Arrighi ist der Auffassung, die amerikanische Antwort auf den 11. September mit dem Krieg gegen den Terror und der „neokonservative Shift“ (D. Harvey) markierten ein Ende der neoliberalen Globalisierung und einen Bruch in Richtung terminal crisis.
Seit dem „project for a new american century“ reiche der Urteilsspruch des Marktes allein nicht mehr für eine Außenpolitik als Weltpolitik im nationalen Interesse der Vereinigten Staaten. Fortan müssten die USA den militärischen „Muskel“ spielen lassen, um Glaubhaftigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen, was insbesondere der Irak-Krieg zeige. Im Gegensatz zu vielen, wie z.B. auch David Harvey, für den der Zugang zum Öl im Vordergrund steht, betont Arrighi, dass die Vereinigten Staaten das Öl im mittleren Osten bereits kontrollieren. Die Marktkräfte allein stellten die amerikanische Wettbewerbsfähigkeit im hochtechnologischen und militärischen Bereich allerdings seit den 1980ern auf tönerne Füße. Nicht zuletzt sei das „Trauma“ von Vietnam im Irak-Krieg von 1991 nicht überwunden worden, was diesmal ein Eingreifen in Bagdad nötig machte. Das doppelte Defizit in der Handelsbilanz und im Haushalt der USA umfasse nicht weniger als 80 Prozent der weltweiten Ersparnisse. Während in den späten 90ern die US-Wirtschaft wie ein Schwamm Geld anzusaugen vermochte, verkehre sich mit dem Platzen der Finanzblase 2001 die Abhängigkeit der Welt von dem zentralen US-Markt zusehends in eine Abhängigkeit der amerikanischen Ökonomie von ausländischer billiger Finanzierung und billigen Rohstoffen. Neben den ökonomischen Strukturproblemen stoße das neokonservative Projekt George W. Bushs an seine Grenzen. Einerseits sei mit dem Ende des kalten Krieges ein wesentlicher Pfeiler der globalen Schutzmachtfunktion der USA weggebrochen. Andererseits erweise sich die Invasion in den Irak zunehmend als unkontrollierbare militärische Intervention. Gleichzeitig könne die gegenwärtige Entwicklungsdynamik Chinas zu einem möglichen neuen Machtzentrum führen. Allerdings sei es unwahrscheinlich, dass noch einmal ein Staat allein einen Zyklus bestimmen könne, wahrscheinlicher sei eine Bündniskonstellation aus Staaten Ostasiens und Europas oder Nordamerikas, möglich sei auch eine Süd-Süd Kombination etwa aus China, Brasilien, Indien oder Südafrika. Damit rückte auch die Europäische Union und ihre in den letzten Jahren zunehmend aktivere Rolle in der Gestaltung der Weltordnung in den Blick. Doch drückt sich darin ein konkurrierender Gestaltungsanspruch zur US-zentrierten neoliberalen Globalisierung aus?
Martin Beckmann skizzierte in seiner Analyse der Europäischen Integration aus neogramscianischer Perspektive den Ansatz der Forschungsgruppe Europäische Integration (FEI). Ausgehend von einer selbst in der kritischen Wissenschaft verbreiteten Unterschätzung der Europäischen Union als eigenständigem Akteur im Prozess der globalen Restrukturierung, sprach Beckmann nicht von der EU als Bollwerk gegen neoliberale Globalisierung, sondern als „offenem Regionalismus“ – eingebettet in die kapitalistische Globalisierung. Gerade in den letzten Jahren sei die EU auch ein politischer Akteur geworden, was insbesondere die EU-Politik in der WTO und die externen ökonomischen Ambitionen verdeutlichen. Bezüglich der Sicherheits- und Militärpolitik habe die Union ihre Rolle redefiniert. Nicht allein die Entscheidung, eine Euroarmee von 60.000 Personen sowie schnelle Eingreiftruppen zu etablieren, auch die Aufrüstungsverpflichtungen des Verfassungsvertrages der EU sprächen dafür. In diesem Zusammenhang skizzierte Beckmann die Debatte der FEI um einen „Euroimperialismus“, die sich zwischen der Charakterisierung der EU als Subimperialismus, als Herausforderer im globalen Handel und als neuer Imperialismus (D. Harvey) bewegen. Fest stehe hingegen, dass die EU in ihrer Erweiterungsstrategie eine Form der soften Geopolitik verfolge, die allerdings die Option einer mehr auf Gewalt setzende Politik offen halte.
In der anschließenden Diskussion wandte Frank Deppe ein, dass in Europa die neoliberale Hegemonie in den Köpfen noch keineswegs beendet sei, was insbesondere Gewerkschaften und soziale Bewegungen, die zudem noch immer stark national organisiert seien, vor große Probleme stelle. Um das neoliberale Marktmodell der europäischen Union zu durchbrechen, bedürfe es der Vision eines demokratischen und sozialen Europas. Für Giovanni Arrighi hingegen war das Ablehnen des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden bereits eine Absage an neoliberale Hegemonie, selbst wenn es nicht ausnahmslos eine linke Absage war.
Christoph Scherrer, Uni Kassel, sprach mit Bezug auf einen Artikel von Arrighi, Silver und Benjamin D. Brewer über die Fortdauer der Einkommenskluft trotz fortschreitender industrieller Konvergenz zwischen Zentrum und Peripherie. In vielen Ländern der Peripherie gebe es bei relativem Rückstand industrielle Kerne, quasi Inseln des Wachstums, was nicht bedeuten müsse, dass diese Regionen und Länder insgesamt zu High-Tech-Industrien werden. Viele Ökonomien verharrten in einer Phase des Kopierens von Produkten und könnten keine Extraprofite durch eigene Innovationen einstreichen. Der zweite Ölschock in den 1980ern und die Zinserhöhung in den USA stürzten die „dritte Welt“ in eine doppelte Krise: einerseits explodierten die Schuldenzahlungen, andererseits fehlte es an harten Währungen für die gestiegenen Energiepreise. Die in dieser Zeit erforderlichen finanziellen „Kissen“ (etwa durch Extraprofite) fehlten den Ländern des Südens. Nach dem Ende der Systemkonkurrenz sei es in Indien und China zu einem so genannten „labor supply shock“ gekommen, von dem vor allem niedrigqualifizierte Arbeiter betroffen seien. Letztlich komme es im Norden entlang der Klassen- und Ausbildungsspaltung zu einer Dehomogenisierung der Einkommen, global reproduziere sich die Ungleichheit weiter.
In der anschließenden Diskussion wurde kontrovers die Rolle der WTO sowie eine Positionierung der Linken diskutiert. Arrighi und Silver vertraten den Standpunkt, dass das Scheitern der letzten Verhandlungsrunde in Cancun möglich wurde, weil sich die USA aus dem Geschehen zurückzogen. Eine Transformation der WTO in eine progressivere Richtung sei prinzipiell möglich, da die Vorherrschaft von Vereinigten Staaten und EU nichts der Organisation inhärentes sei, sondern abhängig von Kräfteverhältnissen. Anders als beim IWF, sei das Abstimmungsprinzip „one country one vote“ offen für eine Demokratisierung der Organisation.
Abschließend beschäftigte sich Beverly Silver mit Perspektiven der Arbeiterbewegungen im 21. Jahrhundert. In der momentanen Umbruchsphase bestünde die Gefahr des systemischen Chaos; von daher sei es für Arbeiterbewegungen wichtig, solche Tendenzen zu bekämpfen. Die zahlreichen Proteste gegen den Irak-Krieg stimmten optimistisch. In den USA sei es insbesondere bemerkenswert gewesen, dass der Gewerkschaftsverband AFL-CIO eine Resolution gegen den Krieg verabschiedete. Insgesamt wehrte Silver sich gegen die Annahme eines „decline“ der Arbeiterbewegungen. Die weltweite Arbeitslosigkeit schränke zwar die Marktmacht der Arbeiterbewegungen ein, ihre Produktionsmacht würde aber beispielsweise durch „Just-in-time-Produktion“ gestärkt, da einzelne Streiks an empfindlichen Stellen weit reichenden Schaden anrichten können (Transportwesen). Was aber ist die kritische Rolle von Arbeiterbewegungen und sozialen Kräften heute? Zunächst könne sie ambivalente Tendenzen feststellen; zum einen hätte es nach Seattle ein vermeintliches Verschwimmen der Nord-Süd-Spaltung gegeben, dass bald von neuen Grenzziehungen innerhalb der Arbeiterbewegungen eingeholt worden wäre. Ähnlich beurteile Silver beispielsweise das „Non“ der Franzosen zu Verfassungsvertrag. Die uneinlösbaren Versprechen (insbesondere für „den Süden“) von Wohlstand und Wachstum für alle, produziere Profitabilitäts- und Legitimationskrisen. In der Peripherie sei dieser Widerspruch bis in die 1970er unter der Bedingung der Profitabilität und mit Hilfe der nationalen Befreiungsbewegungen recht erfolgreich bearbeitet worden. Danach seien die Forderungen nach Wohlstand allerdings mit den sozialen und ökonomischen Konterrevolutionen beantwortet worden, was langfristig aber die Legitimität der Herrschaft untergräbt. Im Zusammenhang mit Seattle und einer wieder steigenden Produktionsmacht und neuen Regionen mit Arbeiterunruhen gäbe es Ansätze für einen erneuten Umschwung des Pendels in Richtung Dekommodifizierung und einer arbeiterfreundlicheren Entwicklung. Die Antikriegsproteste vieler Arbeiter 2003 machen auch die Chancen einer gekappten Verbindung zwischen Wohlfahrtsstaat und Krieg deutlich. Offen bleibe der Charakter der neu entstehenden Arbeiterbewegungen vor allem der neu entstehenden Kräfte in China. Diese seien zwar überwiegend an Abwehrkämpfen gegen Privatisierungen beteiligt, aber auch neue offensive Kämpfe kämen vereinzelt hinzu. Ungelöst blieben natürlich auch Fragen der Organisationsform neuer Arbeiterbewegungen und sozialer Bewegungen. Fest stehe nur, dass die klassischen Organisationsstrukturen mit einer Partei an der Spitze im Zuge einer Neugründung in Frage gestellt werden muss.
Insgesamt war es eine sehr fruchtbare Diskussion, die mindestens zwei Denkschulen sehr unterschiedlicher Reichweite und Perspektive auf dem Workshop miteinander zu verbinden versuchte.
[1] Die Verwendung des Plurals für „Arbeiterbewegung“ folgt der deutschen Übersetzung des Buches von Silver.