Bei einer Auseinandersetzung mit dem Menschenbild von Karl Marx muss man sich vornehmlich mit zwei Texten aus dessen Feder befassen, weil diese immer wieder im Zentrum der Debatten zum Thema stehen. Dabei handelt es sich um die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ aus dem Jahre 1844 und um die sechste Feuerbachthese.[1] In den Manuskripten tritt uns der Mensch als freies und bewusstes Wesen entgegen, das seine Lebenstätigkeit zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewusstseins macht. Marx schreibt, der Mensch sei „[...] nicht eine Bestimmtheit, mit der er unmittelbar zusammenfließt.“[2] Das unterscheide ihn letztlich vom Tier. In der besagten Feuerbachthese hingegen findet sich das berühmte Diktum, dass das Wesen des Menschen in seiner Wirklichkeit das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse sei.[3] Auf der einen Seite also das freie Individuum, auf der anderen Seite der ausschließlich gesellschaftlich determinierte Mensch. Hier der junge humanistische Marx, dort der reife – nur mehr an Strukturen interessierte – anti-humanistische Marx.[4] Eine solche Lesart mag der Durchsetzung politischer Interessen nützlich sein – das Menschenbild von Marx vermag sie nicht zu erhellen.
In den Manuskripten geht Marx der Frage nach, wie sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf den Menschen auswirken. Er führte aus, dass die Notwendigkeit, seine Arbeitskraft zu verkaufen, den Arbeiter von seiner an sich freien Lebenstätigkeit entfremde.[5] Die Perspektive, die Marx hier einnimmt, ist dem Individuum verpflichtet. Doch gleichzeitig bleibt das Bild von diesem Individuum abstrakt. „Der Mensch“ ist hier noch ein idealtypisches Individuum, dem allgemeine menschliche Wesenszüge und Bedürfnisse eigen sind. Diese Vorstellung verwirft Marx in der sechsten Feuerbachthese. An die Stelle eines abstrakten Individuums treten nun die empirisch zu beschreibenden Verhältnisse, in denen sich jeder Mensch bewegt und die jedes Individuum prägen. Insofern besteht der Unterschied zwischen den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten und den Feuerbachthesen weniger in einer Veränderung des Blicks auf die Individuen, als vielmehr in einer Präzisierung der Sprache, derer Marx sich bedient. Von daher konnte das reale Individuum stets der Ausgangspunkt der Untersuchungen von Marx und Engels bleiben, wie sie es in der „Deutschen Ideologie“ formulierten.[6] Noch im „Kapital“ – in dem Marx die Unternehmer und Kapitalisten nur insoweit als Personen betrachten wollte, als sie Träger ökonomischer Funktionen sind[7] – wird immer wieder deutlich, mit welcher Abscheu Marx die wirklichen Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen seiner Tage wahrnahm.[8] Mehr noch: Marx fasste im „Kapital“ das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation mit den folgenden Worten zusammen und griff dabei einen entscheidenden Gedanken aus den „Manuskripten“ wieder auf: „[...] innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, enfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses [...]; sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie, verwandeln seine Lebenszeit in Arbeitszeit, schleudern sein Weib und Kind unter das Juggernaut-Rad des Kapitals.“[9] Angesichts dieses Faktums ist Lucien Sève zuzustimmen, der feststellt, dass Marx immer wieder frühere Positionen aufgriff, überarbeitete und in neuer Form in sein Werk aufnahm. Auf diese Weise seien viele Überzeugungen des jungen Marx in seinem Spätwerk dialektisch aufgehoben.[10] Oder – um mit Adam Schaff zu sprechen: „[...] für Marx ist die Ökonomie, auch wenn er ihr sein Leben widmet, nicht Selbstzweck. Marx war und blieb ein Philosoph und Soziologe, für den die Frage des Menschen die zentrale Frage ist.“[11]
Karl Marx war Philosoph und Ökonom. Doch vor allem war er Politiker, der seine wissenschaftlichen Erkenntnisse anwenden wollte zur Veränderung der Welt.[12] Er wusste um die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und obgleich er fest überzeugt war, dass diese Widersprüche dazu führen müssten, dass der Kapitalismus überwunden werde, glaubte er nicht, dass dieser Prozess zwangsläufig verlaufen würde. Für ihn stand fest, dass allein der Klassenkampf zu einem Ende der kapitalistischen Ausbeutung führen könne,[13] doch dieser Klassenkampf könnte – so Marx – mit dem Sieg einer der Klassen oder mit dem Untergang der kämpfenden Klassen enden.[14] Darüber hinaus wies er jede Vorstellung zurück, die kommunistische Gesellschaft könne jemals ein widerspruchsfreier „Glückseligkeitsstall“[15] werden. Die freie Assoziation freier Produzenten[16] war für Marx nicht mehr und nicht weniger als die Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Menschheit jenseits der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Überlegungen über die Form der kommunistischen Gesellschaft hat Marx kaum angestellt, weil er die konkreten Bedingungen der Überwindung des Kapitalismus nicht zu antizipieren vermochte.[17] Aus seinen wenigen Einlassungen lassen sich aber entscheidende Punkte herausarbeiten, die nach Marx für den Kommunismus unabdingbar sind und die auch das Menschenbild von Karl Marx beleuchten. So distanzierte er sich stets von zeitgenössischen Vorstellungen, dass der Sozialismus eine spartanische Gesellschaftsformation, mit dem Ziel der „rohe[n] Gleichmacherei“[18] sei. Ebenso fremd waren ihm Sozialismuskonzepte, die die Befreiung der Arbeit in die Hände einer revolutionären Gruppe zu legen trachteten, die den Kommunismus im Interesse der Arbeiterklasse umsetzen sollte.[19] Wenn Marx vom Kommunismus sprach, dann insistierte er darauf, dass in ihm der gesellschaftliche Reichtum allen Menschen zugute kommen würde, dass auf einer höheren Stufe seiner Entwicklung das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“[20] gelte. Besonders wichtig war es Marx aber auch, dass der Kommunismus die Gesellschaftsformation werden würde, in der die Freiheit des Einzelnen als Voraussetzung der Freiheit Aller möglich würde.[21] Es liegt auf der Hand, dass dieser Satz nicht umzudrehen ist in dem Sinn, dass mit der Freiheit der großen Masse der Menschen gleichzeitig jedes Individuum frei wäre. Die Freiheit des Individuums ist aber schlechterdings nicht vorstellbar als Dekret. Sie bedarf der bewussten Tätigkeit der einzelnen aber gemeinsam handelnden Menschen. Es bleibt daher festzuhalten, dass Marx nie von seiner Überzeugung Abstand genommen hat, dass Selbstorganisation, Selbstbewusstsein und Selbstbefreiung der Arbeiterklasse der einzige Weg zum Kommunismus sind.[22]
Fasst man nun die so gewonnenen Informationen über das Menschenbild von Karl Marx zusammen, dann ist sein Verständnis vom Menschen wohl so zu formulieren: Der Mensch ist ein Teil der Natur, weil er ein Lebewesen ist, das auf den biologischen Austausch mit der Welt angewiesen ist. Er ist in der Lage, sich Zwecke zu setzen und ihre Umsetzung zu planen – mithin die Wirklichkeit psychisch widerzuspiegeln. Da die geplanten Tätigkeiten erst in der Umsetzung und im Austausch mit anderen Menschen in einer spezifischen historischen Situation wirksam werden, bewährt sich der Mensch aber erst im tätigen Umgang mit anderen Menschen als Mensch.[23] Obwohl diese Ebenen bei Marx nur angedeutet waren, lässt sich doch sagen, dass Marx den Menschen als bio-psychisch-soziale Einheit begriffen hat.[24] In diesem Sinne liest sich der berühmte Satz aus dem „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ wie die Zusammenfassung des Marxschen Menschenbildes. Marx betonte hier sowohl die Selbstorganisation der assoziierten Individuen als auch die Bindung der Individuen an die historischen und materiellen Gegebenheiten: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten; sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“[25]
Das Menschenbild im Realsozialismus
Sicherlich ist zu konstatieren, dass sich dieses dialektische Menschenbild in den herrschenden kommunistischen Parteien Osteuropas nicht durchgesetzt hatte. Tatsächlich ging man dort viel eher davon aus, dass der Mensch vor allem von außen determiniert sei.[26] Obgleich Autorinnen und Autoren, die im vermeintlichen Anschluss an Marx diese Auffassung vertraten, sich mitunter noch versicherten, selbstverständlich nicht mechanistisch verstanden werden zu wollen,[27] bleibt doch im Bild von der Determiniertheit des Menschen wenig Platz für die emanzipatorische Tat von Menschen. Die von Stalin ausgegebene Losung, dass die Kader der Partei fürderhin alles zu entscheiden hätten,[28] markiert dementsprechend den endgültigen Abschied von der Orientierung auf die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse. Wie mechanistisch die Prägung der Menschen durch die gesellschaftlichen Bedingungen tatsächlich verstanden wurde, wird deutlich, wenn man sich der Forderung Stalins an die sowjetischen Schriftsteller erinnert, sie sollten als Ingenieure der Seelen tätig werden.[29]
Sehend, dass das herrschende Menschenbild in den sich sozialistisch nennenden Staaten Osteuropas wenig gemein hatte mit dem Menschenbild von Karl Marx, ist zu fragen, wie diese Differenz zu erklären ist. Adam Schaff wies in seiner Arbeit über den Marxismus und das menschliche Individuum auf den Umstand hin, dass viele der frühen Schriften von Marx erst später veröffentlicht wurden, so dass sie der Rezeption nicht zur Verfügung standen.[30] Wichtiger aber ist wohl der Fakt, dass in der Sowjetunion der 1930er Jahre die Entwicklung einer lebendigen Karl Marx verpflichteten Weltanschauung eingefroren wurde.[31] In der Atmosphäre der Sowjetunion unter Stalin sei – schreibt Schaff weiter – „[...] kein Platz für die Problematik des Einzelmenschen, die Philosophie des Menschen und den Humanismus“[32] gewesen. Der wissenschaftliche Sozialismus sei in dieser Situation „[...] im Kontext mit bestimmten Bedürfnissen der aktuellen Politik nicht nur sanktioniert, sondern noch mehr versteift“[33] worden. Folgt man dieser Darstellung, dann wird der Blick auf die soziale Struktur der Stalinschen Macht gelenkt. Es ist richtig, den sogenannten Stalinismus als „[...] exzessiv machtorientierte Ordnung der Innen- und Außenbeziehungen einer Gesellschaft des erklärten Übergangs zum Sozialismus“[34] zu beschreiben. Doch diese Definition ist zu präzisieren durch die Analyse der Trägerschichten dieses Systems durch Isaac Deutscher. Er führte aus, dass Stalin sich sehr bald auf Menschen in der Partei und in der Industrie stützen konnte, die nach der Oktoberrevolution sozialisiert worden waren und die nach der Ausschaltung der alten Garde der Bolschewiki auf die freigewordenen Leitungsposten drängten. Nach Deutscher widmeten diese jungen Kader sich ihren Aufgaben in Staat und Verwaltung ohne in den revolutionären Traditionen der Arbeiterbewegung verwurzelt gewesen zu sein.[35] Wenn diese Beschreibung zutreffend ist, dann wäre der Stalinismus auch als der scheinbar adäquate Überbau für die Phase der forcierten Industrialisierung der Sowjetunion zu betrachten. Ein solches Verständnis des Stalinismus leugnet nicht die enormen Leistungen beim Aufbau der Sowjetunion. Doch man wird feststellen müssen, dass das mit dieser Entwicklung verbundene Idealbild des „[…] flözhauenden, piplinebohrenden und stahlabstechenden Stachanow […]“[36]in seinem ungebremsten Utilitarismus wohl kein Mitglied „[...] der freie[n] und gleiche[n] Assoziation der Produzenten […]“[37] geworden wäre.
Natürlich entwickelte das Stalinsche Menschenbild Wirksamkeit – nicht nur in der Sowjetunion, sondern in der gesamten kommunistischen Weltbewegung.[38] Doch unwidersprochen blieb es unter Kommunisten nicht. Antonio Gramsci beispielsweise wies den Versuch, „[...] jede Schwankung der Politik und der Ideologie als einen unmittelbaren Ausdruck [...]“ der ökonomischen Verhältnisse erklären zu wollen, als primitiven Infantilismus zurück.[39] Dem Vorhaben, diese Kinderkrankheit als wesentliches Postulat des historischen Materialismus ausgeben zu wollen, sagte er den Kampf mit dem Mittel des „[...] authentischen Zeugnis von Marx […]“[40] an. In den „Gefängnisheften“ verteidigte er die sechste Feuerbachthese als die befriedigendste Antwort auf die Frage, was den Menschen ausmache.[41] Für Gramsci liegt die Stärke dieser Passage von Marx darin, die Entwicklung des Individuums zu betonen. Für ihn stellt sich die Geschichte letztlich als Quintessenz des Wesens der Gattung Mensch dar. Die Geschichte ist auch für ihn freilich das Ergebnis ständiger Klassenkämpfe. Das Individuum muss sich in diesen Klassenkämpfen – schreibt Gramsci – aktiv verorten und Partei ergreifen. Er fasste diesen Prozess der Parteinahme als dialektischen Vorgang der Veränderung und Selbstveränderung. Bei ihm heißt es: Die Verhältnisse, in denen der Mensch zu agieren hat „[…] sind nicht mechanisch. Sie sind tätig und bewusst, das heißt, sie entsprechen einem größeren oder geringeren Grad des Verständnisses, das der Einzelmensch von ihnen hat. Daher kann man sagen, dass jeder in dem Maße selbst anders wird, sich verändert, in dem er die Gesamtheit der Verhältnisse, deren Verknüpfungszentrum er ist, anders werden lässt und verändert.“[42]
Der Einfluss der Neuen Linken
Als um das Jahr 1968 die Studierenden nach einem neuen Weg in eine ausbeutungsfreie Welt suchten, schrieb Herbert Marcuse seinen „Versuch über die Befreiung“. Er ging in diesem Werk der Frage nach, wie die Überwindung des Kapitalismus zu bewerkstelligen sei. Zwar hielt er dabei an der Kritik der politischen Ökonomie, wie sie von Marx entwickelt worden war, fest, doch mochte er nicht mehr von einer Revolution ausgehen, wie sie noch in der Oktoberrevolution siegreich gewesen war.[43] Stattdessen meinte er, dass die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse nur auf der Grundlage einer neuen Moralität möglich sei, die sich bereits in die biologische Ausstattung der Erbauer der neuen Ordnung eingeschrieben haben müsse, bevor der Sprung in die neue Gesellschaftsordnung gelingen könne.[44] Dieser Ansatz wurde von Robert Steigerwald als idealistisch verworfen, weil Marcuse die Frage offen ließ, wie diese neue Moralität unter kapitalistischen Bedingungen entstehen sollte.[45] Doch in der Debatte um ein an Marx orientiertes Menschenbild hat Marcuse insofern seinen Platz, als er versuchte, die Psychoanalyse mit dem Marxschen Werk zu versöhnen. Leo Kofler verfolgte in seinen 1985 veröffentlichten „Thesen zum Menschenbild bei Marx“ ein ganz ähnliches Projekt wie Marcuse. Doch anders als dieser setzte er nicht auf individuelle Einsichten der Menschen, sondern griff auf die Marxsche Kategorie der Entfremdung zurück. Auf diese Weise hob er den scheinbaren Widerspruch zwischen individueller Libido und der gebotenen Solidarität der Subalternen auf. Er ging davon aus, dass nur die Überwindung des Kapitalismus auch die Überwindung der Entfremdung des Menschen vom Menschen ermöglichen würde und die Menschen sich dann sowohl in der Arbeit als auch in der Erotik selbst verwirklichen könnten, weil ihnen die Tätigkeit nicht mehr in erster Linie Lebensmittel, sondern Bedürfnis sei. In dieser Überzeugung wusste er sich durchaus mit Marx einig.[46]
Im Lichte der dargestellten Debatten wird deutlich, dass es in der kommunistischen Bewegung immer auch Menschen gab, die um das Verständnis der Dialektik vom Individuum und seiner Angewiesenheit auf das kulturelle Erbe der Gattung Mensch rangen. Diese – bei Marx gedachte – Dialektik schließt letztlich sowohl ein Bild des Menschen aus, das diesen als selbstgenügsame Monade begreift, als auch die Idealisierung des „[…] flözhauenden, piplinebohrenden und stahlabstechenden Stachanow […]“[47]. Aber diesen Umstand hat – sagt Lucien Sève – „[…] die kommunistische Bewegung von einst im Wesentlichen weder begriffen noch berücksichtigt. Wir sind hier an einer der Hauptquellen ihres unwiderruflichen Dramas.“[48]
Umso mehr darf das Menschenbild von Karl Marx Aktualität beanspruchen. Neben dem zutiefst humanistischen Anspruch sind es die Kategorien im Marxschen Menschenbild, die einen Anschluss für eine aktuelle Praxis ermöglichen. So kann festgehalten werden, dass Tätigkeit, Vermittlung, Vergegenständlichung und Aneignung entscheidende Begriffe im Konzept des Mensch-Seins darstellen, wie es von Karl Marx entworfen wurde.[49] Genau auf diese Kategorien griff beispielsweise die kulturhistorische Schule innerhalb der sowjetischen Psychologie zurück. Ihre Vertreter – vor allem Wygotskij, Lurija und Leontjew – gingen mit Marx davon aus, dass jeder Mensch durch seine Tätigkeit mit der Welt in Austausch tritt.[50] Dabei muss aber jeder einzelne Mensch nach Leontjew die gesellschaftlichen Bedingungen immer mit seinem persönlichen Sinn verbinden.[51] Auf der einen Seite bietet auch er damit eine Verbindung der individuellen Ebene mit der Ebene der gesellschaftlichen Gebundenheit des Individuums. Auf der anderen Seite gewinnt dieser Ansatz aber auch eine praktische Bedeutung, wenn man bedenkt, dass mit diesem Werkzeug auch pathologische Verhaltensweisen zu erklären sind. Wenn jede menschliche Tätigkeit mit einem persönlichen Sinn verbunden ist, dann sind Symptome – entstanden unter isolierenden Bedingungen – sinnvolle Handlungen des Menschen zur Wiederherstellung sozialer Beziehungen.[52] Von daher setzen die Vertreter der kulturhistorischen Schule darauf, die Ursachen von Störungen in der jeweiligen Biografie der behandelten Menschen zu finden.[53] Im Ergebnis dieses Verfahrens steht im Idealfall, dass diesen Menschen ein Austausch mit der Welt auf ihrem höchsten Organisationsniveau möglich wird.[54] Letztlich verweist diese Arbeitsweise auf den kategorischen Imperativ von Karl Marx „[…] alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist [...]“[55]
Abschließend bleiben zwei Dinge festzuhalten: Das Menschenbild, das Marx entwickelt hat, ist durch die historischen Ereignisse der letzten Jahrzehnte nicht widerlegt. Vielmehr gilt nach wie vor, was der türkische Dichter Nazim Hikmet in den folgenden Zeilen fasste: „Leben / einzeln und frei / wie ein Baum / und brüderlich / wie ein Wald / ist unsere Sehnsucht“.[56] Es ist diese scheinbare Widersprüchlichkeit, die das Marxsche Menschenbild auszeichnet und die ihm noch heute seine Aktualität sichert. Freilich wird diese Aktualität nur dann Bestand haben, wenn es gelingt, das Werk von Marx, Engels und allen anderen, die es präzisierten oder erweiterten, nicht dogmatisch zu verengen, sondern die Theorie von Marx stets zu überprüfen und weiterzuentwickeln.[57] Das bleibt auch – und gerade – nach dem Ende der Systemauseinandersetzung eine viel versprechende Aufgabe – nicht zuletzt – für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Literatur
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[1] Vgl. Brenner, Hans-Peter: Marxistische Persönlichkeitstheorie und die „bio-psychosoziale Einheit Mensch“ – Studie zur Entwicklung des Menschenbildes in der DDR, Bonn 2002, S. 225.
[2] Marx, Karl: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: MEW Ergänzungsband I, S. 516.
[3] Vgl. Marx, Karl: Thesen über Feuerbach. In: MEW Bd. 3, S. 6.
[4] Vgl. Fürle, Arnold: Kritik der Marxschen Anthropologie – Eine Untersuchung der zentralen Theoreme, München 1979, S. 128.
[5] Vgl. Marx, Karl: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: MEW Ergänzungsband I, S. 517.
[6] Vgl. Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. In: MEW Bd. 3, S. 20.
[7] Vgl. Marx, Karl: Das Kapital. In: MEW Bd. 23, S. 16.
[8] Vgl. z.B. ebenda, S. 687.
[9] Ebenda, S. 674.
[10] Vgl. Sève, Lucien: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankfurt/M. 1973, S. 75.
[11] Schaff, Adam: Marxismus und das menschliche Individuum, Wien 1969, S. 38.
[12] Vgl. Marx, Karl: Thesen über Feuerbach. In: MEW Bd. 3, S. 7.
[13] Vgl. Brief von Marx an Engels vom 30.4.1868. In: MEW Bd. 32, S. 74f.
[14] Vgl. Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei. In: MEW Bd. 4, S. 462.
[15] Brief von Marx an Engels vom 6. Mai 1854. In: MEW Bd. 28, S. 357.
[16] Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. In: MEW Bd. 21, S. 168.
[17] Vgl. ebenda, S. 83.
[18] Vgl. Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei. In: MEW Bd. 4, S. 489.
[19] Vgl. Marx, Karl; Engels, Friedrich: Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation. In: MEW 18, S. 425.
[20] Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms. In: MEW Bd. 19, S. 21.
[21] Vgl. Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei. In: MEW Bd. 4, S. 482.
[22] Vgl. Arndt, Andreas: Karl Marx – Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Bochum 1985, S. 122.
[23] Vgl. Marx, Karl: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: MEW Ergänzungsband I, S. 517.
[24] Vgl. Brenner, Hans-Peter: Marxistische Persönlichkeitstheorie und die „bio-psychosoziale Einheit Mensch“ – Studie zur Entwicklung des Menschenbildes in der DDR, Bonn 2002, S. 251.
[25] Marx, Karl: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. In: MEW Bd. 8, S. 115.
[26] Vgl. Hiebsch, Hans; Vorwerg, Manfred: Einführung in die marxistische Sozialpsychologie, Berlin/DDR 1971, S. 55.
[27] Vgl. ebenda.
[28] Vgl. Stalin, J.W.: Rede im Kremlpalast vor den Absolventen der Akademien der Roten Armee am 4. Mai 1935. In: Ders.: Werke Bd. 14. Dortmund 1976, S. 28.
[29] Vgl. Westerman, Frank: Ingenieure der Seele: Schriftsteller unter Stalin – Eine Erkundungsreise, Berlin 2003, S. 40.
[30] Vgl. Schaff, Adam: Marxismus und das menschliche Individuum, Wien 1969, S. 9
[31] Vgl. ebenda, S. 11.
[32] Ebenda.
[33] Ebenda, S. 12.
[34] Hofmann, Werner: Was ist Stalinismus?, Heilbronn 1984, S. 29.
[35] Vgl. Deutscher, Isaac: Stalin – Eine politische Biographie, Berlin (West) 1989, S. 492.
[36] Riess, Erwin: Vom Rassismus der Linken oder: Groll streicht einen Zaun. In: Randschau 4/1994, S. 15.
[37] Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. In: MEW Bd. 21, S. 168.
[38] Vgl. Deutscher, Isaac: Die unvollendete Revolution – Der Verlauf der Revolution 1917, Frankfurt/M. 1970, S. 34.
[39] Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Hamburg 1992, S. 878.
[40] Ebenda.
[41] Vgl. ebenda, S. 891.
[42] Ebenda, S. 1347f.
[43] Vgl. Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, Frankfurt/M. 2008, S. 40.
[44] Vgl. ebenda, S. 26.
[45] Vgl. Steigerwald, Robert: Herbert Marcuses dritter Weg, Köln 1969, S. 110.
[46] Vgl. Kofler, Leo: Eros, Ästhetik, Politik – Thesen zum Menschenbild bei Marx. In: Friauf, Heike (Hrsg.): Eros und Politik – Wider die Entfremdung des Menschen, Bonn 2008, S. 39.
[47] Riess, Erwin: Vom Rassismus der Linken oder: Groll streicht einen Zaun. In: Randschau 4/1994, S. 15.
[48] Sève, Lucien: „Der Mensch“? In: Marxistische Blätter 5/2009, S. 26.
[49] Vgl. ebenda, S. 25.
[50] Vgl. Leontjew, A.N.: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit, Köln 1982, S. 23.
[51] Vgl. Kölbl, Carlos: Die Psychologie der kulturhistorischen Schule – Vygotskij, Lurija, Leontjew, Göttingen 2006, S. 135.
[52] Vgl. Wygotskij, L.S.: Zur Psychologie und Pädagogik der kindlichen Defektivität. In: Die Sonderschule 2/1975, S. 71.
[53] Vgl. Jantzen, Wolfgang; Lanwer-Koppelin, Willehad (Hrsg.): Diagnostik als Rehistorisierung, Berlin 1996.
[54] Vgl. Jantzen, Wolfgang: Allgemeine Behindertenpädagogik Bd. 1 – Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen, Weinheim 1992, S. 345.
[55] Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: MEW Bd. 1, S. 385.
[56] Hikmet, Nazim: Leben. In: www.bepa-galerie.de/Gedanken/Leben.htm (11.11.2009)
[57] Vgl. Lenin, W.I.: Unser Programm. In: Lenin-Werke Bd. 4, Berlin/DDR 1974, S. 206.