Das Jahr, in dem die „rot-grüne“ Koalition unterging, nachdem sie sich von ihren anfänglich verkündeten Zielen weit entfernt hatte, das Jahr, in dem sich CDU/CSU und SPD zum Regieren zusammentaten, was ihnen nicht schwer fiel, weil ihre führenden Politiker seit langem in den meisten Grund- und auch Einzelfragen der Politik übereinstimmten, das Jahr, in dem eine Fraktion mit linkem Anspruch in den Bundestag einzog, das Jahr 2005 hätte ein Einstein-Gedenkjahr sein sollen. Tatsächlich wurde an manche Einsichten und Leistungen des großen Physikers erinnert, manchmal auch an seine Ehen, an sein Geigenspiel, vielleicht auch gelegentlich an seinen Pazifismus – nur an eins nicht: seine Entscheidung für den Sozialismus.
Schon 1931 hatte Einstein geschrieben: „Was uns der Erfindergeist der Menschen in den letzten hundert Jahren geschenkt hat, vermöchte das Leben sorglos und glücklich zu gestalten, wenn die organisatorische Entwicklung mit der technischen hätte Schritt halten können. So aber nimmt sich das mühsam Errungene in der Hand unserer Generation aus wie ein Rasiermesser in der Hand eines dreijährigen Kindes. Der Besitz von wunderbaren Produktionsmitteln brachte nicht Freiheit, sondern Sorge und Hunger. – Wir werden genügend Geld, Arbeit und Lebensmittel haben, wenn wir nur unsere Mittel und Naturschätze unserem Bedarf entsprechend einsetzen, statt unbiegsame Wirtschaftstheorien und Traditionen sklavisch zu befolgen.“ 1949 bekräftigte er: „Die Produktion arbeitet für den Profit. Der Arbeiter lebt ständig in der Angst, seine Arbeit zu verlieren. Der technische Fortschritt führt zur Arbeitslosigkeit, anstatt die Arbeitslast aller Menschen zu erleichtern. Das Profitmotiv ist in Verbindung mit dem Konkurrenzkampf der Kapitalisten verantwortlich für die unbeständige Anhäufung und Verwertung des Kapitals, was dann wachsende schwere Wirtschaftskrisen verursacht.“ Noch zwei Einstein-Zitate seien hier hinzugefügt: „Die Verkümmerung des einzelnen Menschen betrachte ich als das schlimmste Übel des Kapitalismus.“ Und: „Ich bin überzeugt: Um diesen schlimmen Mißständen abzuhelfen, gibt es nur ein Mittel, nämlich die Errichtung einer sozialistischen Wirtschaft – in der die Produktionsmittel der Gemeinschaft gehören, die sie nach einem festgelegten Plan nutzt.“
Diese und weitere Äußerungen Einsteins über die Notwendigkeit des Sozialismus verstreute ich 1988 in einem Buch, in dem ich „Plädoyers für eine sozialistische Bundesrepublik“ herausgab. Die Plädoyers stammten von zahlreichen westdeutschen Gewerkschaftern, Grünen, Sozialdemokraten, Kommunisten sowie diversen Linken, die aus der einen oder anderen Partei ausgetreten oder ausgeschlossen waren. Im Nachwort des Buches schrieb ich unter anderem: „Das Großkapital ist und bleibt bereit, mit seinem Industrieabfall Flüsse und Meere zu vergiften (jedenfalls wenn gerade niemand hinsieht). Es ist und bleibt bereit, auch noch die letzten Indios und Indianer auszurotten, wenn sich in deren Siedlungsgebieten verwertbare Rohstoffe finden. Es ist und bleibt bereit zu immer wahnwitzigerer Aufrüstung, denn kein Geschäft ist so lukrativ wie dieses (vor allem, wenn immer irgendwo Kriegsstimmung geschürt wird). Wenn wir sehen, welche Verheerungen der Kapitalismus anrichtet, dann dürfen wir nicht zögern, auf seine Abschaffung hinzuarbeiten. Es gilt, das Projekt Sozialismus zu beschleunigen. (…) Vielleicht gibt es nirgendwo so dringenden Anlaß, den Kapitalismus abzuschaffen, wie in der BRD, dem reichsten Land weit und breit. Hier hat er seine historische Aufgabe, die Produktivkräfte zu entwickeln, erfüllt und übererfüllt. (…) Hier, angesichts wachsender Millionenzahlen von Arbeitslosen, wird der Widersinn unerträglich, daß sich die Konzerne auf den vorderen Seiten der Zeitungen höflich darum bitten lassen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, während sie sich einige Seiten weiter im Wirtschaftsteil dafür applaudieren lassen, daß sie erfolgreich Arbeitsplätze wegrationalisieren. Hier muß damit Schluß gemacht werden, daß wachsende Produktivität nicht oder nur in geringem Maße den abhängig Beschäftigten zugute kommt, daß der Anteil der Löhne und Gehälter am Bruttosozialprodukt von Jahr zu Jahr sinkt, daß die Unternehmensprofite ins Unermeßliche steigen, daß privater Reichtum und öffentliche Armut in immer größeren Gegensatz geraten und daß die Unternehmer, je mächtiger sie werden, immer noch dreister auftreten. In einer so hoch monopolisierten Gesellschaft, (…) wo einige Großkonzerne über Verfassung, Gesetze, Moral, Natur, Kultur, Vernunft hinweg regieren, über alles, worauf das Bürgertum einst stolz war, als es sich gegen den Feudalismus erhob, in dieser Gesellschaft, deren herrschende Schicht 200 Jahre nach der Französischen Revolution nur noch das Wort Freiheit im Munde führt, womit sie die Freiheit meint, über andere zu herrschen, während sie es peinlich vermeidet, über Gleichheit und Brüderlichkeit zu sprechen, in dieser Gesellschaft fehlen nur noch wenige Schritte zum Sozialismus. Wir müssen sie tun.“
Ich weiß nicht, ob alle, die zu dem Buch beigetragen haben (die meisten leben noch), nach wie vor für den Sozialismus plädieren würden wie 1988. An meinen eigenen Darstellungen und Schlußfolgerungen von damals finde ich wenig zu korrigieren. Was mit der Forderung nach einer sozialistischen Bundesrepublik gemeint war, stand in knappen Worten auf dem Umschlag des Buches: „Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche, die heute unter den Zwängen von Kapitalinteressen stehen: Wirtschaft, Politik, Justiz, Gesundheitswesen, Wissenschaft, Kunst und Medien usw.“.
Demokratisierung der Medienmonopole
Als vorrangigen Schritt zur Demokratisierung der Gesellschaft forderte ich 1988 die Demokratisierung monopolisierter Medien, deren Hauptfunktion es sei, aber nicht bleiben dürfe, „die Bevölkerung zu desorientieren, zu entmutigen, Tag für Tag zu gehorsamen Untertanen zu dressieren. Antimonopolistische Bestimmungen, wie sie ausdrücklich in einigen Länderverfassungen stehen, müssen endlich angewendet werden. Die schon in den 60er Jahren von der ‚Kampagne für Demokratie und Abrüstung‘, dem Zusammenschluß der damaligen Außerparlamentarischen Opposition, entwickelte, 1967 nach der Ermordung von Benno Ohnesorg und 1968 nach den Schüssen auf Rudi Dutschke von unzähligen Demonstranten skandierte Parole ‚Enteignet Springer!‘ ist aktuell geblieben und immer aktueller geworden: Der Springer-Konzern, hochgepäppelt mit Anzeigen von anderen, noch größeren Konzernen, war damals noch ein Zwerg im Vergleich zu seinen heutigen Ausmaßen und Verflechtungen.“ Inzwischen ist die Macht Springers und anderer Medien-Monopolisten noch weiter gewachsen; sie haben sich ganz Ostdeutschland aneignen dürfen und beherrschen jetzt auch viele ost- und südosteuropäische Staaten, deren Souveränität mir deswegen mehr als zweifelhaft erscheint. Und wie souverän ist das deutsche Volk unter der Herrschaft dieser Bewußtseinsindustrie? Die kapitalabhängigen Medien dienen – auch wenn vielen Journalisten das nicht immer bewußt ist, auch wenn einzelne Journalisten durchaus Sandkörner im Getriebe sein können – im wesentlichen der Volksverdummung. Ihre Aufgabe ist nicht Aufklärung, sondern Verhinderung von Aufklärung, nicht Demokratie, sondern Be- und Verhinderung von Demokratie. Deswegen wird das Volk permanent von wichtigen gemeinsamen Angelegenheiten abgelenkt, irregeführt, eingeschüchtert.
Wenn mich die Redaktion Z nun fragt, worauf sich die linke Opposition konzentrieren sollte, muß ich also bekräftigen: Ich halte die Demokratisierung der Medienmonopole für eine Schlüsselaufgabe zur Demokratisierung und Humanisierung der Gesellschaft – für einen notwendigen Schritt, den wir tun müssen, wenn wir vom Kapitalismus wegkommen wollen.
Konkret sollte das meines Erachtens bedeuten, daß Medienmonopolunternehmen in öffentlich-rechtliche Anstalten umgewandelt werden, in denen pluralistisch, nicht nur parteipolitisch besetzte Aufsichtsgremien die journalistische Unabhängigkeit garantieren. Dagegen werden sich ihre Eigentümer heftig sträuben, unterstützt durch das ganze große Kapital, das seine publizistischen Interessen von den Medien, wie sie sind, gut vertreten sieht und mit seinen Werbe-Etats entscheidend zu deren Finanzierung beiträgt. Demokratisierung der Medienmonopole ist also keine kleine, keine leichte Aufgabe. Aber wenn wir diesen Schritt nicht wagen, wenn wir uns nicht zutrauen, den Kampf um die Köpfe ernsthaft aufzunehmen, zu führen und zu gewinnen, sollten wir an andere Schritte gar nicht mehr denken, sondern uns unsere totale Resignation eingestehen.
Die medienpolitische Auseinandersetzung ist gewinnbar, weil sich die Widersprüche zwischen dem (gesetzlich fixierten) „öffentlichen Auftrag“ der Medien und der privaten Verfügung über sie, zwischen ihrer Propaganda für den „freien Markt“ und ihrer eigenen Monopolmacht und viele andere Widersprüche tagtäglich sichtbar machen lassen. In jeder Ausgabe liefern uns die Bild-Zeitung und die regionalen Monopolblätter aktuelle Beweise dafür, wie sie lügen, verschweigen, irreführen. Die Linke braucht sich dieser Beweise nur zu bedienen, um eine zielstrebige Kampagne zu führen.
Verkürzung der Arbeitszeit
Tagtäglich verbreiten die Monopolmedien unisono die gemeingefährlichen Glaubensartikel des sogenannten Neoliberalismus – den Widersinn, daß wir länger arbeiten sollen, um die Arbeitslosigkeit zu verringern, daß wir weniger verdienen sollen, damit der Aufschwung kommt, daß wir die Reichen steuerlich entlasten sollen, damit es uns und dem Staat besser geht. „Es gibt keine Alternativen“, behaupten diese Medien tagtäglich ebenso wie die tonangebenden Politiker und hämmern es dem ganzen Volk ein. Wer aber erkannt hat, daß sie gegen uns gerichtete Waffen im Klassenkampf von oben sind, kann lernen, sich nicht mehr von ihnen manipulieren zu lassen. Alternative Medien (namentlich die genossenschaftliche „Junge Welt“) können in dieser Auseinandersetzung zunehmend wertvoll sein – als Beispiele, daß eine andere Öffentlichkeit als die kapitalistische machbar ist, und unmittelbar als Mitwirkende. In einer großen gemeinsamen Kraftanstrengung der demokratischen Kräfte im Lande kann es gelingen, die Macht der Monopolmedien zu delegitimieren.
Als zweite, nicht minder vorrangige Aufgabe nenne ich die radikale Verkürzung der Arbeitszeit. Als es die DDR noch gab, sagte Jürgen Kuczynski auf die Frage seines Urenkels, ob er sich den Sozialismus in seiner Jugend so vorgestellt habe, wie er in der DDR geworden sei: „Die Produktionsmittel vergesellschaftet, daher ohne dauernde Krisen der verschiedenen Art, ohne Arbeitslosigkeit, ohne all die Grundübel des Kapitalismus. Das ist zuerst festzuhalten. Das ist das Entscheidende.“ Es wurde nicht festgehalten. Ähnlich gehen in Westdeutschland, wo wir mit großen Kraftanstrengungen in einigen Branchen die 35-Stunden-Woche erreicht hatten, solche Errungenschaften jetzt allmählich wieder verloren. Sind Deregulierung und Barbarisierung des „Arbeitsmarkts“ unaufhaltbar?
Schon Karl Marx hat unmißverständlich dargelegt, daß Arbeitszeitfragen nur in hartem Klassenkampf zu lösen sind. Wenn es nach den Unternehmern geht, vor allem nach den Großaktionären der Kapitalgesellschaften, sollen Waren mit möglichst wenig Personalaufwand produziert werden – selbstverständlich. Der einzelne Beschäftigte soll möglichst lange beschäftigt werden, möglichst viele Stunden am Tag, möglichst viele Tage im Jahr, möglichst viele Jahre seines Lebens, solange sich möglichst viel Profit aus ihm herauspressen läßt – selbstverständlich. Dann will man ihn wegwerfen, und er soll nichts mehr kosten – selbstverständlich. Und die möglichst vielen anderen, die man nicht als Arbeitskräfte braucht, sollen auch nichts kosten – selbstverständlich. Vom reinen Profitdenken her gibt es dazu wirklich keine Alternative. Aber die Techniken, die es ermöglichen, Waren mit immer weniger Personalaufwand herzustellen, müssen – Einstein hat es deutlich gesagt – allen Menschen zugute kommen. Das heißt: Die Erwerbsarbeitszeit muß verkürzt werden, und zwar kräftig, entsprechend dem technischen Fortschritt. Meiner Meinung nach ist es höchste Zeit für 4 x 7: die Vier-Tage-Arbeitswoche mit je sieben Arbeitsstunden. Ohne Verteilung der Erwerbsarbeit auf viel mehr Menschen – auf möglichst viele, möglichst alle Menschen – sind meines Erachtens auch andere große sozialpolitische Probleme von heute nicht lösbar, namentlich das Problem der Finanzierung der Sozialversicherung.
Und wie schaffen wir das? Für entscheidend halte ich es, daß wir möglichst starken Druck machen, zum Beispiel gewerkschaftlich. Und daß Intellektuelle mit zündendem Witz helfen, die neoliberalen Glaubensartikel zu entzaubern und so lächerlich zu machen, wie sie es verdienen – womit wir wieder beim Kampf um die Köpfe sind.
Manche behaupten, entscheidend sei eine große Partei, die schnell Ministerposten erhält. Ich erinnere mich, wie Gregor Gysi, nachdem er die „rot-rote“ Koalition in Berlin zustandegebracht hatte, im großen Zelt beim Pressefest des Neuen Deutschland ausrief: „Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht, daß wir heute wieder regieren in Berlin!“ Beim braven Klatschen seiner Zuhörerinnen und Zuhörer lief es mir kalt den Rücken herunter. Mitregieren in der kapitalistischen Gesellschaft heißt – nicht nur, aber vor allem –, dem Kapital die Rahmenbedingungen zu garantieren, die es braucht, um Profit zu machen. Musterbeispiel sind die von „Rot-rot“ garantierten Erträge aus jenen privilegierten Fonds, die im Berliner Bankenskandal publik geworden waren.
Ich erlaube mir, auch zur Organisationsfrage hier eine Passage aus meinem Nachwort zu dem Buch „Wie weiter? Plädoyers für eine sozialistische Bundesrepublik“ zu zitieren: „Jahrelang habe ich die These vertreten, Voraussetzung gesellschaftlichen Fortschritts sei der Zusammenschluß möglichst vieler Menschen in einer einheitlich handelnden Organisation. Wenn ich meine Erfahrungen nüchtern auswerte, kann ich das in dieser Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit nicht aufrechterhalten. Gerade große Organisationen sind oft besonders unbeweglich. Dagegen können kleine Freundeskreise starke Kreativität und Dynamik entwickeln. Sie können dann auch von außen mobilisierend auf große Organisationen einwirken. Die Französische Revolution, in der sich das Bürgertum mit Hilfe der noch sehr kleinen Arbeiterschaft der Diktatur des absoluten Feudalstaats entledigte, wurde nicht von großen Organisationen vorbereitet und vollbracht, sondern von kleinen Freundeskreisen, von Logen, Orden, Geheimbünden, die herrschender Ideologie und Propaganda entgegenwirkten. Listige Aufklärer machten die Herrschenden lächerlich. Eine Gesellschaft, die vom Volk nicht mehr ernstgenommen wurde, hörte auf, herrschen zu können. Schon zwei oder drei Freunde (also Menschen, die einander vertrauen und Freude daran haben, sich etwas auszudenken, was sie gemeinsam unternehmen wollen) können politisch viel in Bewegung bringen, vor allem dann, wenn sie in verschiedenen gesellschaftlichen und organisatorischen Zusammenhängen arbeiten und die jeweiligen Möglichkeiten nutzen. Die Linke kann und darf auf große Organisationen nicht verzichten. Aber vor Illusionen sei gewarnt. Wer glaubt, durch Beitritt zu einer Partei oder Gewerkschaft, durch Ein- und Unterordnung den entscheidenden persönlichen Beitrag zur Überwindung des Kapitalismus, zur Demokratisierung der Gesellschaft geleistet zu haben, wird aller Erfahrung und aller Voraussicht nach Enttäuschungen erleben. Die Organisationen können sich nämlich so entwickeln, daß sie dem Fortschritt eher hinderlich als förderlich werden. Diese Gefahr entsteht fast zwangsläufig dann, wenn es an innerorganisatorischer Demokratie fehlt, wenn sich der Apparat verselbständigt, wenn sich die hauptamtlichen Funktionäre der Willensbildung und Kontrolle von unten entziehen, wenn sie sich über die Mitglieder erhaben fühlen, wenn sie deren Beschlüsse mißachten, wenn sie Mitglieder- oder Delegiertenversammlungen manipulieren, wenn sie freiwerdende Positionen im Apparat ohne Wahl mit ihren Spezis besetzen und den Mitgliedern bzw. Delegierten nur noch die Möglichkeit formaler „Bestätigung“ lassen, wenn sie strafend auf Kritik aus der Mitgliedschaft reagieren, wenn sie sich schließlich gar als „Ordnungsfaktor“ verstehen, also stolz die Aufgabe von Bütteln übernehmen, die in vermeintlich gesamtgesellschaftlichem Interesse durch Disziplinierung der Mitglieder für Ruhe und Stabilität sorgen. Keine Gewerkschaft, keine Partei, kein Staat wird ganz ohne eine Zentrale auskommen. Aber die Kontrolle von unten kann nicht streng genug sein. Sobald die Zentrale beginnt, über die Basis selbstherrlich hinwegzuentscheiden und ihre Entscheidungen nicht einmal mehr zu begründen, ist es Zeit zur Auflehnung. Blindes Vertrauen kann dagegen in Selbstaufopferung enden. Immer aufs neue erlebe ich, wie Organisationen mit fortschrittlichem Programm die Ideen und den Idealismus ihrer Anhänger und Aktivisten aufsaugen. Die Verheißung, sie würden die Kräfte des Einzelnen vervielfältigen, erfüllt sich selten (am ehesten in gewerkschaftlichen Streiks). Meist verschleißen sie die Kräfte des Einzelnen.“
Ich bekräftige auch dies und füge ein weiteres Zitat von Einstein hinzu, der zur Organisationsfrage schrieb, „in einem gewissen Maß“ könne die organisatorische Zusammenfassung Widerstand leistender Menschen nützlich sein, aber: „Worauf es ankommt, ist, daß der Einzelne bei jeder Gelegenheit ehrlich und mutig für seine Überzeugungen einsteht.“ Gewiß brauchen Sozialisten den Meinungs- und Erfahrungsaustausch, sie brauchen Bildungsstätten wie einst die Marxistische Arbeiterschule, wo auch Einstein gelehrt hat, sie brauchen in der parlamentarischen Demokratie auch Kandidatenlisten, und sie müssen die parlamentarischen Möglichkeiten nutzen, um in die Öffentlichkeit zu wirken. Ich rede nicht gegen Organisationen, was ja auch Einstein nicht getan hat. Aber ich warne entschieden davor, allen Fortschritt etwa von einer Parlamentsfraktion zu erwarten, die damit allemal überfordert wäre. Ich warne davor, die eigene Verantwortung an eine Partei abzutreten, auch und gerade wenn sie sich „Die Linke“ nennt. Es gibt allzu viel Erfahrung mit Partei- oder auch mit Gewerkschaftsführungen, die das Gegenteil dessen getan haben, was die Mitgliedschaft eigentlich erhofft hatte. Ich schlage vor, daß wir alle Gruppen, Organisationen, Parteien, vor allem wenn sie als sozialistisch gelten wollen, daran messen, was sie zur Lösung dieser beiden Schlüsselprobleme – Demokratisierung der Medienmonopole, Verkürzung der Arbeitszeit – beitragen. Und daß wir auch uns selber daran messen.
Sozialistische Politik in einem hochentwickelten kapitalistischen Staat umfaßt selbstverständlich, wie ich 1988 am Schluß des Buches „Wie weiter?“ schrieb, die Aufgaben, „darüber aufzuklären, wie das Großkapital Menschenrechte verletzt und Demokratie be- und verhindert, durch Aufklärung der antisozialistischen Propaganda entgegenzuwirken, Widerstand zu leisten gegen die Privatisierung dessen, was wir gesellschaftlich erarbeitet haben, Widerstand zu leisten gegen neonazistischen Terror, der vor allem in Krisenzeiten des kapitalistischen Systems zu einer Bedrohung aller Demokraten werden kann, Solidarität mit denen zu leisten, di sich ein Stück Souveränität erkämpft haben, überzeugende Konzepte für eine sozialistische BRD zu entwickeln, sozialistisches Selbstbewußtsein zu stärken und Bereitschaft zum Handeln zu ermutigen.“ In diesem Sinne lassen sich jetzt viele wichtige Forderungen anschließen (Widerstand gegen sozialpolitischen, bildungspolitischen, kulturpolitischen, umweltpolitischen Rückschritt, gegen Militarisierung der Politik, gegen Kriegsvorbereitungen – mit höchster Wachsamkeit). Wenn wir aber in einem Forderungskatalog allzu weit in die Einzelheiten gingen, könnten sich flotte Parteimanager, so befürchte ich, diese oder jene Einzelheit heraussuchen und sie so kneten, daß sie irgendwann vielleicht auch politisch-publizistischen Vertretern des Großkapitals gefällt. Dann könnten sie eines Tages vielleicht behaupten, etwas erreicht zu haben, ohne daß wir dadurch auf dem Weg der Demokratisierung und Humanisierung der Gesellschaft, auf dem Weg zum Sozialismus auch nur einen Millimeter vorangekommen wären. Vorsicht vor Verzettelung!
Können wir uns auf die beiden von mir als vordringlich genannten Aufgaben verständigen? Wenn wir alle unsere Kräfte darauf konzentrieren, können wir sehr viel Druck machen.
Ich bin nicht der Meinung, daß Sozialisten zwecks Demokratisierung der Gesellschaft erst einmal regierungsfähig werden müssen. Sozialisten in einer kapitalistischen Gesellschaft müssen erst einmal oppositionsfähig werden. Und wirklich und wirksam opponieren.