Die grundlegende Idee der Vereinten Nationen nach dem Sieg über die Hitler-Armeen war die Errichtung einer Weltfriedensordnung auf der Basis eines kollektiven Sicherheitssystems. Seine zentralen Koordinaten waren die Herrschaft des Rechts, wie es vor allem in der UNO-Charta kodifiziert wurde, die souveräne Gleichheit aller Staaten, ob klein oder groß, schwach oder stark, das absolute Gewaltverbot in den Beziehungen zwischen den Staaten und die Beilegung aller Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln. Die Realisierung dieser Ziele war bei ihrem ersten Versuch im Rahmen des Völkerbundes faktisch schon vor dem deutschen Angriff auf Polen und die Sowjetunion gescheitert – die Idee jedoch nicht. Ihre Wiederaufnahme noch während des zweiten Weltkrieges durch Roosevelt und Churchill basierte auf der Überzeugung beider Staatsmänner, dass zukünftige Außenpolitik nur unter strikter Beachtung der UNO-Charta eine erneute Katastrophe verhindern könne.
Die Geschichte der letzten sechzig Jahre ist zwar alles andere als frei von Kriegen, hat aber zumindest bis zum Untergang der Sowjetunion nicht prinzipiell an dem System kollektiver Sicherheit und seinen zentralen Koordinaten gerüttelt. Dies mag zwar mehr der Balance zweier atomarer Supermächte als der Stärke des Rechts und der übrigen Prinzipien der UNO-Charta geschuldet sein, die Idee und die konkrete Konstruktion des kollektiven Sicherheitssystems durch die UNO sind jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden. Dies hat sich mit der Beseitigung des Machtgleichgewichts zwischen den USA und Russland tiefgreifend verändert. Der Krieg gegen Jugoslawien 1999 und die anschließende Kriegserklärung an alle Welt unter dem Signum des Antiterrorkampfes haben die Grundfesten des alten Systems angegriffen. Dieses Kriegszenario hat nicht nur das absolute Gewaltverbot ausgehebelt, sondern faktisch Hand an das Prinzip der Herrschaft des Rechts gelegt. Es ignoriert zudem die souveräne Gleichheit der Staaten, welche vor allem die kleineren und schwächeren Staaten schützen soll, und benutzt die Diplomatie, d.h. die Beilegung der Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln, zur Eskalation rechtlich nicht einlösbarer Machtansprüche (Beispiel Kosovo, Irak und jetzt Iran).
Die Erosion des UNO-Friedenssystems ist auch ein Erbe der rot-grünen Koalition, mit dem sich die Friedenspolitik der Linksfraktion derzeit im Bundestag auseinanderzusetzen hat. Alle friedens- und außenpolitischen Initiativen der Linksfraktion werden deshalb aktuell durch die Folgen der direkten und indirekten Beteiligung an drei großen Kriegen (Jugoslawien, Afghanistan und Irak) und deren „Aufräumarbeiten“ geprägt. Dieses und der als zentrales Element der Sicherheitspolitik ausgegebene Antiterrorkampf haben den Krieg wieder zu einer Option in der Politik gemacht und zu einer immer stärkeren Militarisierung der Außenpolitik geführt. Die Auswirkungen prägen nicht nur die Umstrukturierung der Verteidigungs- und Rüstungspolitik, den Umbau der NATO von einer Verteidigungs- zu einer Interventions-Organisation und der EU von einer Wirtschaftsvereinigung zu einer politischen Union mit militärischen Aufgaben, sondern auch den Ausbau des Überwachungs- und Repressionsapparates in der Innenpolitik. So tief sich diese Spuren bereits in der nationalen Politik eingraviert haben, so stark sind ihre Schäden, die sie bei den internationalen Institutionen des Völkerrechts und der UNO hinterlassen haben.
Um die Friedensorientierung der internationalen Politik ohne Militäreinsatz und die grundsätzliche Ächtung des Krieges wieder zur Leitidee der Außenpolitik zu machen, bedarf es einer prinzipiellen Umorientierung der Sicherheitspolitik. So darf der klassische Verteidigungsbegriff, wie er im Grundgesetz (Art. 87 a, 115 a) und der UNO-Charta (Art. 51) als militärische Reaktion auf einen unmittelbaren Angriff anerkannt ist, nicht beliebig ausgedehnt werden. Er ist eindeutig von der Abwehr internationaler Bedrohungen, Gefahren und Krisen, wie sie etwa in der neuen NATO-Strategie von 1999 aufgeführt werden, zu trennen.[1] Um diesen Gefahren begegnen zu können, bedarf es des Aufbaus eines wirksamen Instrumentariums zur zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenssicherung, nicht aber des Militärs.
Als konkreter Beitrag zu einer aktiven Friedenspolitik sind daher die ersten parlamentarischen Initiativen der Linken zu verstehen, obwohl eher von den tagespolitischen Anforderungen diktiert. Ihr gemeinsames Ziel ist der Abzug deutscher Truppen von ihren Auslandseinsätzen, sei es in Afghanistan, Bosnien-Herzegowina oder Darfur/Sudan.[2] Im Zusammenhang mit der Forderung nach Abzug der ausländischen Truppen aus dem Irak und der Absage an den Aufbau militärischer Präsenz in verschiedenen Ländern Afrikas (aktuell der Kongo) ergibt sich daraus der Versuch, ein Konzept aufzubauen, welches grundsätzlich das Militär aus der Außenpolitik wieder in die Kasernen der Landesverteidigung zurückholt. Die Schwierigkeit dieses Ansatzes liegt nicht nur in der grundsätzlichen Gegnerschaft aller anderen Parteien im Bundestag, sondern auch in der weitgehenden Propagierung eines militärgestützten Auftritts Deutschlands in der neuen Weltordnung durch große Teile der Medien.
Ganz im Rahmen dieses außenpolitischen Konzeptes liegt die Betonung der Abrüstung, die in der alten Regierung praktisch keine Rolle mehr gespielt hat. Dabei hat in der aktuellen Situation die atomare Abrüstung Vorrang. Sie wird derzeit mit einem parlamentarischen Antrag auf Abzug der amerikanischen Atomwaffen vom Territorium der BRD vorbereitet und muss sich dann auf die Abkehr von der nuklearen Option der NATO erstrecken. Allerdings ergibt sich ihr Sinn erst im Rahmen der generellen Forderung nach Einhaltung des Atomwaffensperrvertrages, sowohl was den Verzicht auf den Erwerb militärischer atomarer Kapazitäten angeht (z.B. Iran, Nord-Korea) als auch die Pflicht zur effektiven Abrüstung der Atomwaffenstaaten, die immer wieder gegen den Vertrag verstoßen (insbes. USA, Russland und China). Die allgemeine Abrüstung wird insgesamt in Zukunft die gegenwärtige Auf- und Umrüstung ablösen müssen – ein Paradigmenwechsel allerdings, der angesichts des Drucks der Rüstungsindustrie und des herrschenden Verständnisses von Sicherheitspolitik schwersten Widerstand zu überwinden hat.
Die Linke wird zudem sehr bald friedenspolitische Positionen gegenüber den weiteren Krisenherden des Nahen und Mittleren Ostens entwickeln müssen. Vor allem im Israel/Palästina-Konflikt muss sie eine klare Haltung zur israelischen Besatzungspolitik in der Westbank, zum Siedlungs- und Mauerbau und zum Jerusalemproblem sowie zu den Terrorakten auf beiden Seiten einnehmen. Sie sollte sich an den unstrittigen und vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag in seinem Gutachten von 2004 zur israelischen Mauer bestätigten völkerrechtlichen Standards und Prinzipien ausrichten. Im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wird das bisher weitgehend vernachlässigte Kurdenproblem und die damit zusammenhängenden Menschenrechtsfragen eine besondere Aufmerksamkeit erfordern.
Menschenrechtsfragen sind weitgehend auch außenpolitische Fragen, sie treten immer mehr in den Vordergrund der internationalen Beziehungen. Streng genommen gehören sie allerdings zu dem vom Interventionsverbot geschützten Bereich der inneren Angelegenheiten eines Staates. Erst wenn die Menschenrechtsverletzungen einen Grad der Schwere angenommen haben, der die staatlichen Grenzen überschreitet und in eine „Bedrohung oder einen Bruch des internationalen Friedens“ (Art. 39 UNO-Charta) übergeht, treten sie in den Raum außenpolitischen Zugriffs. D.h. jede Außenpolitik hat sich darüber im Klaren zu sein, wie sie die Verletzung von Menschenrechten in ihren auswärtigen Beziehungen thematisieren und im äußersten Fall zum Gegenstand militärischer so genannter humanitärer Interventionen machen will (vgl. einerseits Jugoslawien/Kosovo 1999, andererseits Kampuchea 1975/79, Ruanda 1994). Da sich letztere auf Grund des zwingenden Gewaltverbots des Art. 2 Z. 4 UNO-Charta verbieten, bzw. sich nur für den UN-Sicherheitsrat im Rahmen des Art. 42 UN-Charta eröffnen (vgl. z.B. die Einrichtung eines sog. save haven für die Kurden im Irak 1991 durch die UN-Sicherheitsratsresolution 688), bleiben für die einzelnen Staaten nur politische und ökonomische Mittel der Einwirkung.[3] Diese allerdings spielen in den bilateralen Beziehung zu den mächtigen Staaten (z.B. USA-Guantánamo, Russland-Tschetschenien, China-Tibet etc.) so gut wie keine Rolle. Auch hierzu muss die Linke eine klare Grundhaltung entwickeln.
Kommen wir zurück auf die UNO, die gerade bei den Problemen, die in den bilateralen Beziehungen nicht oder nicht friedlich lösbar sind, als kollektives Sicherheitssystem eine zentrale Rolle spielt. Deshalb sind auch die Beziehungen der BRD zur UNO von erheblicher Bedeutung. International steht die Demokratisierung der UNO als zentraler Punkt ihrer Reform auf der Tagesordnung. Beides beschränkt sich nicht nur auf die unmittelbaren Organe der UNO wie Generalversammlung, Sicherheitsrat und Generalsekretär, sondern erstreckt sich auch auf internationale Organisationen wie die Weltbank, den IWF und die WTO.
In nur wenigen der hier aufgeworfenen Fragen wird die Linke im Parlament ähnliche Positionen vorfinden oder gar durchsetzungsfähige Koalitionen bilden können. Alle bisherigen Anträge wurden abgelehnt.[4] Dafür gibt es in der deutschen Friedensdiskussion sehr aktive Organisationen, die in allen hier genannten Felder der Außenpolitik nicht nur über detaillierten Sachverstand sondern auch über politische Perspektiven und Vorschläge verfügen.[5] Zu allen Organisationen besteht ein enger Kontakt. In den Gewerkschaften ist der Stand der Diskussion angesichts der nationalen Probleme, die sich ihnen permanent stellen, sehr unterschiedlich entwickelt. Der Druck auf die Arbeitsplätze lässt insbesondere in der Maschinen-, Schiffbau- und Elektronikindustrie, die stark in der Rüstungsproduktion engagiert ist, nur geringe Ansätze für die Forderungen nach einer Reduzierung des Rüstungsexports und die Entmilitarisierung der Außenpolitik übrig. Dennoch besteht im außerparlamentarischen Bereich über die Friedensbewegung hinaus gerade bei Arbeitnehmern und Gewerkschaften die größte Resonanz auf friedenspolitische Forderungen und Konzepte. Hier liegen die gesellschaftlichen Kräfte, die zu mobilisieren notwendig ist, um auf der parlamentarischen Bühne eine neue Friedens- und Außenpolitik formulieren und durchsetzen zu können.
[1] So z.B. „Ungewissheit und Instabilität im und um den euroatlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses (...) Ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten ... (Z. 20). „...Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen.“ (Z. 24)
[2] Näheres bei N. Paech, Es riecht nach Kollateralschäden, in: Freitag 2, 13. Januar 2006, S. 6.
[3] Näheres bei N. Paech, Über den Wendekreis des Krebses hinaus, in: Freitag 39, 30.09.2005, S. 8.
[4] Auf den jüngsten parlamentarischen Vorstoß der Linksfraktion, die USA zur Schließung von Guantánamo, zur Entlassung der Häftlinge ohne Verdacht und der Überweisung verdächtiger Häftlinge an die ordentliche Gerichtsbarkeit der USA aufzufordern, kam aus den Fraktionen der CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen die Reaktion, dass dies zwar richtige Forderungen seien, sie aber von den falschen Leuten gestellt würden (vgl. Parlament in der Klemme, in: Der Spiegel, 16.01.2006).
[5] Genannt seien hier nur der Kasseler Friedensratschlag als Koordination zahlreicher regionaler Friedensgruppen, die Juristenorganisation gegen die Atomrüstung IALANA und die Ärzteorganisation gegen den Atomkrieg IPPNW aber auch die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen DGVN u.a.m.