„Eigentlich“ gibt es in manchen Planspielen unter Linken im Ergebnis der Bundestagswahl eine „Mehrheit links von der CDU“. Sie habe nur noch nicht zu einer anderen Regierungskoalition als der Großen geführt. Das könne sich ändern.
Natürlich strebt jede und jeder aufrechte Linke eine andere Regierung an und tut selbst das Menschenmögliche dafür. Ein Regierungswechsel, der zugleich ein Politikwechsel ist, bleibt ein Ziel zahlreicher Menschen, welche die weitere neoliberale Zerstörung der Gesellschaft stoppen wollen. Innerhalb der Gewerkschaften, in außerparlamentarischen Bewegungen, bei vielen Einzelpersonen, die zum Beispiel mit der Erfurter Erklärung einen wichtigen Anstoß zur Ablösung der Kohl-Regierung gaben, findet eine solche Position „Rot-Rot-Grün“ statt „Rot-Schwarz“ zumindest einen sympathisierenden Widerhall. Gerade deshalb kann ein ernüchternder Blick auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nicht schaden.
Die „Mehrheit links von der CDU“ existiert zur Zeit nur rechnerisch, nicht politisch. Die Scheidelinie zwischen neoliberaler und sozial gerechter Politik verläuft eben nicht „links von der CDU“ und der FDP, sondern sie geht auch mitten durch die SPD und die Grünen. Für ein rasches Ende der Großen Koalition und deren Ersetzung durch eine rot-rot-grüne Koalition fehlen derzeit alle politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen.
Der SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck verortete die SPD auf der jüngsten Klausurtagung als Partei der linken Mitte und kündigte eine (weitere) Abkehr von „sozialnostalgischen Vorstellungen“ an. SPD-Vizevorsitzender Beck, Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, ergänzte, „es gehe der Partei nicht mehr in erster Linie um Verteilungsgerechtigkeit“. Weiterer Abbau sozialer Sicherheit, Verzicht auf Verteilungsgerechtigkeit sollen ebenso wie eine grundsätzlich an den USA orientierte Außenpolitik zum Markenzeichen der New-SPD unter Platzeck werden.
Wenn aber trotzdem auch hier und da aus dem Regierungslager, wie zum Beispiel von Berlins Bürgermeister Wowereit, mit dem Gedanken an die Möglichkeit von Rot-Rot-Grün gespielt wird, schwingen zumeist taktische Momente mit. Auch, nicht nur, der Gedanke, die Linkspartei unter Druck zu setzen. Ein Musterbeispiel ist der Vorstoß von Grünen-Parteichef Bütikofer, der für eine Zusammenarbeit mit der Linken als Kriterium benannte: „Die Partei (Linkspartei.PDS) muss realistische außenpolitische Vorstellungen entwickeln, und sie muss sich von ihrer linkskonservativen Haltung gegen sozialpolitische und arbeitsmarktpolitische Reformen lösen.“ Salopp geschrieben: Ja zu deutschen Militäreinsätzen und Ja zu Hartz IV als Eintrittsticket in den Kreis der Regierungsfähigen. Nur, dass dann niemand mehr die Linkspartei braucht, weil solche Parteien in Gestalt von SPD und Grünen bereits vorhanden sind.
Zugegeben, die meisten Versuche, Anpassung statt Widerstand in der Linkspartei mehrheitsfähig zu machen, kommen nicht so offen daher, sind subtilerer Natur als der Vorstoß von Bütikofer. Die Grundlinie der Fraktion Die Linke. – u. a. zivile Außenpolitik, Rücknahme von Hartz IV, keine weiteren Privatisierungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, Umverteilung der Lasten nach oben, Vermögensteuer – ist mit der SPD und den Grünen nicht kompatibel. Ob und wie sich in der SPD und bei den Grünen darüber Auseinandersetzungen entwickeln, Veränderungen eintreten, ist heute spekulativ. Wenn überhaupt, dann nur, wenn der öffentliche Druck wächst. Dafür muss eine Linke, ganz unabhängig von der Regierungsfrage, wirken. Die Große Koalition braucht Widerstand.
Eine informelle Große Koalition hat es in den entscheidenden Punkten der Agenda 2010 und der Außenpolitik spätestens in den letzten drei Jahren von Rot-Grün schon gegeben. Die formelle Große Koalition hat sich zwei strategische Aufgaben vorgenommen: Zum einen die Radikalisierung des vorgezeichneten Kurses. Zum zweiten, ihm eine breite Basis in der Wirtschaft, der politischen Klasse, unter Intellektuellen und in der Bevölkerung zu verschaffen.
Erste Anzeichen, dass die Akzeptanz neoliberaler Politik bröckeln könnte, waren die Hartz-Proteste, die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden, endlich das Wahlergebnis für Die Linke.
Das ist der Hintergrund für die Große Koalition nicht nur als ungewolltes Zweckbündnis, sondern als strategische Allianz. Und in der Tat, der Großen Koalition ist es bisher gelungen, innere Widersprüche auszubalancieren und öffentlich soziale Konflikte zu dämpfen. Die Große Koalition steht heute stabiler da als Rot-Grün in der Endphase. Unter Zustimmung resp. Duldung durch FDP und Grüne eröffnet sie einen Korridor für eine antisoziale Radikalisierung, getragen von breiten politischen Mehrheiten. Die Große Koalition verpflichtet sich selbst zur Stabilität, um eine bröckelnde Akzeptanz des Neoliberalismus in der Bevölkerung zu kitten und sich gegen eine möglicherweise parlamentarisch und außerparlamentarisch stärker werdende Linke zu wappnen.
Das ist vor allem ein Problem für die Sozialdemokratie. Trotz dramatischen Mitgliederverlustes verfolgt die SPD-Spitze unter Matthias Platzeck nicht mehr die klassische integrationistische Linie, sie entledigt sich vielmehr sozialdemokratischer Traditionen und pflegt die Denkungsart des Pragmatismus, der Sachzwänge, was wiederum das Schlüsselargument des Neoliberalismus ist: Dazu gibt es keine Alternative! Zahlreiche Aktive der einst reformistischen Linie sehen inzwischen ihre politische Heimat in der WASG bzw. in der Linkspartei. Sie stehen als „Spielmaterial“ für taktische Klassenkampfparolen (Heuschrecken-Debatte) nicht mehr zur Verfügung. Um die verbliebene Parteilinke ist es einsam geworden; die Netzwerker konnten sie tief diskreditieren.
Ohne gesellschaftspolitische Idee sozialer Gerechtigkeit unterscheidet sich die SPD nunmehr nur noch graduell von der CDU. Wenn sie aber künftig auf ihr traditionelles Klientel und ihre Linkskräfte kaum mehr Rücksicht zu nehmen braucht, wird sich für die Linkspartei die Frage einer perspektivisch möglichen Koalitionsregierung mit der SPD auf ganz andere Weise stellen. Wo und wie wären dann noch Gemeinsamkeiten zu finden? Und welche?
Die strategische Allianz, in die sich die SPD begeben hat, erschwert die Bedingungen für Regierungskoalitionen auf Landesebene. Eine Orientierung von links, die Große Koalition dieser Legislaturperiode sprengen zu wollen, ist mehr vom Wunsch beseelt als von einer realistischen Analyse des Kräfteverhältnisses und seiner möglichen Veränderungen. Denn noch ist nicht entschieden, ob eine bröckelnde Akzeptanz des Neoliberalismus die Tür für Alternativen nach links öffnet. Es kann auch nach rechts losgehen, wie das Beispiel Polen zeigt.
Das erhöht nur noch die Verantwortung der Linken. Sie muss ihrerseits strategische Allianzen suchen, nicht in erster Linie im parlamentarischen Raum, sondern in der Gesellschaft. Gramsci hat das mit dem Begriff „historischer Block der Veränderung“ bezeichnet. Sein Ausgangs- und Bezugspunkt sind konkrete Bewegungen und Menschen mit ihren Interessen. Dem Interesse „Es muss doch auch anders gehen“, dem Interesse an einem etwas besseren Leben, an sozialer Gerechtigkeit, Frieden, Nachhaltigkeit. Das sind deutlich andere Interessen, es sind Interessen konträr zur Politik der Großen Koalition.
In den letzten Monaten wurde im Zusammenhang mit der sich abzeichnenden neuen Linken in Deutschland viel von einem „neuen linken Projekt“ oder „neuen linken Subjekt“ geschrieben, bezogen auf die neue linke Partei, die hoffentlich mehr sein wird als die Addition von WASG und Linkspartei. Aber selbst diese neue linke Partei ist nur ein Mittel, um zu einem historischen Block der Veränderung beizutragen. Dazu kann sie sich befähigen, wenn sie den Schwerpunkt ihrer Politik von den Institutionen und Parteien verlagert zur Gesellschaft und den Bewegungen. Schließlich geht es um nicht mehr und nicht weniger als eine Veränderung des geistigen und politischen Klimas, der Kultur, um einen Politikwechsel und geistige Hegemonie. Das schließt Druck von links auf andere Parteien, Zusammenarbeit mit ihnen und den Kampf um parlamentarische Mehrheiten ausdrücklich ein.