Klassentheorie V

„Mehr weiße Stellen als gesicherte Erkenntnisse?"

Anmerkungen zur Aktualität marxistischer Klassentheorie

März 2006

Nicht nur Optimisten meinen, einen Hoffnungsschimmer erkennen zu können: Karl Marx und die marxistische Kapitalismuskritik haben sich wieder eine Platz auf den Titelseiten der politischen Magazine und in den großen Tageszeitungen erobert, entsprechende Konferenzen – wie jüngst „Kapitalismus reloaded“ in Berlin – erfreuen sich starken Zulaufs und die Parteienlandschaft in Deutschland ist durch die Gründung der WASG und den Einzug der „Linken“ in den Deutschen Bundestag in Bewegung geraten. Allein, die Arbeiterbewegung befindet sich nach wie vor in der Defensive, die Gewerkschaften kämpfen mit dem Rücken zur Wand gegen Arbeitsplatzvernichtung und Lohndrückerei. Eine breite gesellschaftliche Bewegung gegen den Neoliberalismus ist nicht vorhanden. Zu einer voreiligen Euphorie besteht also kein Anlass.

30 Jahre Windstille

Doch nicht nur praktisch, sondern auch intellektuell ist „nach 30 Jahren Windstille“ (Helmut Steiner) ein Neuanfang in der marxistischen Klassentheorie erforderlich. Die letzten großen Studien zur Klassenstruktur der BRD sind zu Beginn der 1970er Jahren entstanden: Die Untersuchung „Klassenstruktur der BRD 1950-1970“ des Instituts für marxistische Studien und Forschungen (IMSF) und die „Materialien zur Klassenstruktur der BRD“ des Projekts Klassenanalyse. Auch diese Studien hatte Frank Deppe wohl im Auge als er in seinem Eröffnungsvortrag zu der Kölner Tagung theoretische Defizite der Klassenanalyse in der Tradition des Marxismus benannte. Trotz dieser Defizite sei – so Deppe – der Rekurs auf die marxistische Klassenanalyse unabdingbar, denn der auf Marx zurückgehende Ansatz der Kapitalismuskritik zeichne sich dadurch aus, dass er den Zusammenhang von ökonomischen Basisprozessen, politischer Regulation, Sozialstrukturveränderungen und der Relevanz sozialer und politischer Kämpfe zu begreifen vermöge und die Kritik der herrschenden Verhältnisse immer auch auf die Möglichkeiten ihrer Veränderungen beziehe.

Von einer „Windstille“ lässt sich jedoch begründeterweise nur für die deutsche Debatte sprechen. International erregte z.B. das „Comparative Project on Class Structure and Class Consciousness“ des US-amerikanischen Soziologen Erik Olin Wright Aufmerksamkeit, von dessen „analytischem Marxismus“ ein wichtiger Anstoß für die Klassentheorie ausgeht.[1]

Lebensnähe der Klassentheorie

Sehr anregend für die deutsche Soziologie sind zudem schon seit Jahren die Arbeiten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Er grenzt sich sowohl gegenüber dem soziologischen Mainstream, der meint, in den kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften eine Sozialstruktur „jenseits von Klasse und Schicht“ erkennen zu können, als auch gegenüber der marxistischer Klassentheorie ab. Deren Unzulänglichkeit sieht Bourdieu darin begründet, „dass sie indem sie die soziale Welt auf das Feld des Ökonomischen reduziert, die soziale Position zwangsläufig nur noch unter Bezugnahme auf die Stellung innerhalb der ökonomischen Produktionsverhältnisse zu bestimmen vermag“.[2]

Diese Kritik an der marxistischen Klassentheorie ist jedoch offensichtlich zu pauschal: Marx selbst hat in seinen historischen Studien[3] keine ausschließlich ökonomische Analyse betrieben, sondern gesellschaftliche Klassen auch im Hinblick auf materielle Lebensbedingungen und politische Orientierungen voneinander abgrenzt; ein Blick in die großartigen Untersuchungen des englischen Sozialhistoriker Edward P. Thompson[4] widerlegen Bourdieus Kritik zudem ebenso, wie – im deutschen Sprachraum – die Arbeiten z.B. von Kaspar Maase.[5]

Positiv gewendet mahnt seine Kritik vor ökonomistischen Verengungen und regt zu einer größeren Lebensnähe der Klassentheorie an. Diesen Impuls hat u.a. Margareta Steinrücke in ihrem Forschungsprojekt zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht aufgenommen.[6] Die von ihr auf der Tagung vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass die Geschlechtsunterschiede weitgehend von den Klassenunterschieden überlagert und dominiert werden. Die Gemeinsamkeiten und Affinitäten zwischen Mann und Frau innerhalb einer Klasse scheinen größer als die zwischen Frauen (oder Männern) über die Klassengrenzen hinweg. Einerseits lasse sich – so Steinrücke – von einer Gesellschaft ohne Klassenunterschiede im Lichte dieser Ergebnisse jedenfalls schwerlich reden, andererseits könne man jedoch ebenso wenig sagen, dass die geschlechtliche Ungleichheit bedeutungslos geworden wäre.

Olaf Groh-Samberg plädiert in seinem Vortrag für eine Integration des neomarxistischen Ansatzes Erik Olin Wrights und der kulturalistischen Klassentheorie Pierre Bourdieus. Wrights Auseinandersetzung mit dem strukturellen Klassenantagonismus und den Reproduktionsmechanismen von Herrschaft und Bourdieus Interesse für den klassenspezifischen Habitus und lebensweltliche Klassenmilieus schlössen sich nicht kategorisch aus, sondern ließen sich in einen produktiven theoretischen Zusammenhang stellen. Groh-Samberg ergänzt diese beiden Ansätzen zudem um den neoweberianischen Ansatz des englischen Soziologen John Goldthorpe und seine theoretische Perspektive der klassenspezifischen Ungleichheit von Lebenschancen.

„ArbeiterInnen des Kapitals“

Hoffnung macht auch, dass in den letzten Jahren einige beachtenswerte Untersuchungen jüngerer Soziologen erschienen sind, die der marxistischen Klassentheorie verpflichtet sind. Während Max Kochs 1998 veröffentlichte Forschungsergebnisse zum Strukturwandel einer Klassengesellschaft[7] erfreulich große Beachtung fanden, blieb die 1999 veröffentlichte Arbeit von Ben Diettrich zur Klassenformierung im Postfordismus[8] weitgehend unbeachtet.

Diettrich entschlüsselt in seiner anspruchsvollen theoretischen Arbeit einzelne Aspekte der Sozialstruktur und arbeitet heraus, dass die „ArbeiterInnen des Kapitals“ strukturell keine einheitliche Klasse darstellten, sondern in Klassenfraktionen und -segemente unterteilt sind. Dabei unterscheidet die klare Definition der Begriffe und ihre strikte Verwendung Diettrichs Arbeit wohltuend von Vielem, was derzeit zur marxistischen Klassentheorie veröffentlicht wird.[9] In seinem Vortrag ergänzt er diese Analyse um die Suche nach einer gemeinsamen Perspektive der unterschiedlichen Klassenfraktionen und -fragmente, denn eine erfolgreiche Klassenpolitik sei – so Diettrich – nur als Bündnis unterschiedlichster, teilweise antagonistischer Interessen möglich. Zwar bemühten sich Gewerkschaften in ersten Ansätzen darum, auf die veränderten Produktionsverhältnisse einzugehen, die strategischen Veränderungen reichten jedoch noch nicht weit genug. Diettrich schlägt daher Kampffelder einer gewerkschaftlichen Politik vor, welche in der aktuellen Defensive eine Auffangposition für die gewerkschaftliche Arbeit darstellen könnten und die Prekarisierung in den Blick nehmen.

Jeder ist ein Kapitalist

In der abschließenden Diskussionsrunde war v.a. Bourdieus Kapitaltheorie umstritten. Während Steinrücke die Fruchtbarkeit seiner Unterscheidung von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital betonte, kritisierte Diettrich, dass Bourdieu den marxistischen Kapitalbegriff verwische, wenn er ihn auch auf soziales und kulturelles Kapital anwende.

Bourdieus Ausweitung des Klassenbegriffs über seine rein ökonomische Bestimmtheit hinaus, sind bereits wiederholt kritisiert worden.[10] Zwar öffnet Bourdieus Unterscheidung den Blick für die Vielfalt der Reproduktionsmuster sozialer Ungleichheit und trägt damit zu einer Überwindung ökonomistischer Sichtweisen bei, unverkennbar ist aber, dass auf dieser Grundlage nur eine unzureichende Analyse der ökonomischen Klassenherrschaft möglich ist. Joachim Bischoff, Sebastian Herkommer und Hasko Hüning bringen die Schwäche des Bourdieuschen Ansatz prägnant zum Ausdruck: „Nach Bourdieus Fassung des Kapitalbegriffs ist (fast) jeder Kapitalist.“ [11] Tatsächlich wäre es wohl angemessener, an Stelle von Bourdieus kulturellem und sozialem Kapital von „Ressourcen“ zu sprechen.[12]

Der Diskussionsfaden ist wieder aufgenommen

Nach langen Jahren, in denen die Klassentheorie in den deutschen Sozialwissenschaften nur ein Randdasein geführt hat, wird nun nach und nach der Diskussionsfaden der 1970er Jahre wieder aufgenommen. Einerseits ist festzuhalten, dass die marxistische Theorie kapitalistischer Klassengesellschaft nicht an Aktualität verloren hat, andererseits sind damalige Fehler und Schwächen nur durch einen offenen und differenzierten Umgang mit modernen Gesellschaftstheorien zu vermeiden.

Hierzu wollte die Kölner Tagung einen Beitrag leisten. Sie hat einen Einblick in den Stand der wissenschaftlichen Diskussion geben können und zugleich gezeigt, „wie viel mehr weiße Stellen als gesicherte Erkenntnisse es gibt“ (Helmut Steiner). Doch immerhin, die Diskussion ist wieder in Gang gekommen.

Literatur

Bischoff, Joachim/Herkommer, Sebastian/Hüning, Hasko: Unsere Klassengesellschaft. Verdeckte und offene Strukturen sozialer Ungleichheit, Hamburg 2002

Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital; in: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt. Sonderband 2, Göttingen 1983, S. 183-198

ders.: Sozialer Raum und „Klassen“; in: ders.: Sozialer Raum und „Klassen“. Lecon sur la lecon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 7-46

ders.: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M. 1987 (1982)

Deppe, Frank/Dörre, Klaus: Klassenbildung und Massenkultur im 20. Jahrhundert; in: Tenfelde, Klaus (Hg.) Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 726-771

Diettrich, Ben: Klassenformierung im Postfordismus. Geschlecht, Arbeit, Rassismus, Marginalisierung, Hamburg/Münster 1999

Erbslöh, Barbara / u.a.: Ende der Klassengesellschaft?, Regensburg 1990

Institut für marxistische Studien und Forschungen (IMSF): Klassen- und Sozialstruktur der BRD 1950-1970 (3 Bde.), Frankfurt (Main) 1973 ff.

Koch, Max: Vom Strukturwandel einer Klassengesellschaft, Münster 1998 (2. Aufl.)

Leisewitz, André: Aktualität marxistischer Klassentheorie; in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 64 (2005), S. 182-186

Maase, Kaspar: Lebensweise der Lohnarbeiter in der Freizeit, Frankfurt a.M., IMSF-Informationsberichte, 1984

Marx, Karl: Klassenkämpfe in Frankreich; in: MEW Bd. 7, Berlin (DDR) 1960 (1850), S. 9-107

ders.: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte; in: MEW Bd. 8, Berlin (DDR) 1960 (1852), S. 111-207

Parteivorstand der DKP (Hg.): Diskussionsgrundlage des Parteiprogramms der DKP, Essen 2005

Projekt Klassenanalyse: Materialien zur Klassenstruktur der BRD (2 Bde.), Berlin (West) 1973/1974

Steinrücke, Margareta: Klassenspezifische Lebensstile und Geschlechterverhältnisse; in: Schwenk, Otto G. (Hg.): Lebensstil zwischen Sozialstrukturanalyse und Kulturwissenschaft, Opladen 1996, S. 203-219

Thompson, Edward P.: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts (2 Bde.), Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980

ders.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt a.M. 1987

Wright, Erik Olin: Classes, London/New York 1985

ders.: The Debate on Classes, London 1990

ders.: Class Counts: Comparative Studies in Class Analysis, Cambridge 1997

[1] Vgl. Wright, 1985; ders., 1990; ders., 1997; für Deutschland: Erbslöh / u.a., 1990.

[2] Bourdieu, 1985, 31.

[3] Vgl. u.a. Marx, 1960 (1850); ders., 1960 (1852).

[4] Thompson, 1980; ders., 1987.

[5] Maase, 1984.

[6] Steinrücke, 1996.

[7] Koch, 1998.

[8] Diettrich, 1999.

[9] So wird z.B. in der vom Parteivorstand der DKP 2005 veröffentlichten „Diskussionsgrundlage des Parteiprogramms der DKP“ von Arbeitern, arbeitenden Menschen, Arbeiterklasse, Proletariern, Massen oder gar Volk gesprochen, ohne dass diese Begriffe inhaltlich voneinander unterschieden würden. (Vgl. Parteivorstand der DKP, 2005)

[10] Vgl. u.a. Deppe / Dörre, 1991; Koch, 1994; Bischoff / Herkommer / Hüning, 2002.

[11] Bischoff / Herkommer / Hüning, 2002: 153.

[12] Vgl. Deppe / Dörre, 1991, 761.