Das Theater hat Prekarität – obgleich sich die so genannten Prozesse seit den 1970er Jahren abzeichnen – vor allem nach der Wende entdeckt, nicht zuletzt aufgrund der eigenen sich verschlechternden Lage. Denn die Wende brachte, so Hans-Thies Lehmann, „Strukturdebatten, Finanz-, Orientierungs- und Funktionsprobleme“,[2] führte zur Zusammenlegung von Sparten, ja zu Schließungen ganzer Häuser, zu Publikumsschwund und Legitimationskrisen. Auch deshalb interessieren sich die Theater seitdem für die sich vermarktenden, sich selbst disziplinierenden Subjekte,[3] zudem für die „diskriminierende“ Prekarität,[4] wie sie zunehmend selbst die gesellschaftliche Mitte bedroht.[5] Seit etwa 1995 entsteht eine große Zahl an „Wirtschaftsdramen“[6] – genannt werden könnten neben vielen anderen Urs Widmers Top Dogs, Falk Richters Zyklus Unter Eis, Kathrin Rögglas genau recherchierte Theatertexte draußen tobt die dunkelziffer sowie wir schlafen nicht, Moritz Rinkes auch verfilmte Republik Vineta, Gesine Danckwarts Täglich Brot, Robert Schimmelpfennigs Push up 1-3 und Martin Heckmanns Schieß doch, Kaufhaus!. Diese Stücke grenzen sich in der Regel von der Mitleidsdramaturgie der 1970er Jahre ab und rücken neue Gruppen ins Zentrum: Sie fokussieren den Dienstleistungssektor, Praktikanten, die New Economy, den Arbeitskraftunternehmer, vor allem aber den arbeitslosen Manager und Akademiker, vereinzelt den Börsianern; der alte Konfikt zwischen Kapital und Arbeit scheint ausgedient zu haben.[7] Diesen Dramen, die auf das klassische Repräsentationstheater zugeschnitten sind, wird allerdings zuweilen eine parasitäre Attitüde attestiert, weil man auf eine sozialrealistische Verkörperung des Elends setzt und die bildungsbürgerlichen Vorbehalte gegenüber einer (als proletarisch angenommenen) Masse fortschreibt.[8] Insbesondere der Berliner Schaubühne unter der Intendanz von Thomas Ostermeier, der sich bei seinem Amtsantritt zum Sprachrohr des Prekariats erklärt hat,[9] wird der Vorwurf gemacht, sich an den Prekären zu delektieren, auf ihre Kosten ein politisches Engagement zu simulieren, das auf seiner Kehrseite das Theater als hochkulturelle Bildungsinstitution wahrt, ohne die eigene Involviertheit in die Sphäre der „Verwundbarkeit“ – so der zentrale Ausdruck von Robert Castel – zu überdenken bzw. den Zuschauer zu affizieren.
Nicht also das Repräsentationstheater scheint das geeignete Medium für eine Ästhetik der Prekarität zu sein. Die Theaterwissenschaft profiliert vielmehr das Theater jenseits der Repräsentation, also im engen Sinne das postdramatische Theater, die Performance und das Happening als genuine Orte, um das Sujet Prekarität zu bearbeiten, und zwar auch deshalb, weil hier das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauer weit eher prekär werden kann als im Stadttheatersystem mit seiner Guckkastenbühne, wie allen voran Katharina Pewny in ihrer Habilitationsschrift Das Theater des Prekären. Ethik und Ästhetik des Theaters, der Performancekunst und des Tanzes materialreich illustriert.[10]
Im Folgenden sollen zwei Theatermacher genauer vorgestellt werden, die dem Postdramatischen zugerechnet werden können und sich auf prominente Weise mit Ausgeschlossenen[11] (in ihren vielfältigen Gruppierungen) beschäftigt haben. Christoph Schlingensief setzt sich in den späten 1990er Jahre zusammen mit seiner an Fassbinder geschulten Family insbesondere mit Ausländern, Behinderten und Arbeitslosen auseinander. Vielfach wird ihm der Vorwurf der Instrumentalisierung der Prekären gemacht – ein Vorwurf, der kaum zu entkräften ist und immer dann formuliert wird, wenn die Visibilisierung von Ausgeschlossenen durch bekannte Künstler, also mithilfe ihres symbolischen Kapitals, erreicht wird.
René Pollesch, einer aus der Gießener Schule, die dem Repräsentationstheater eine klare Absage erteilt hat, ist durch sein theorielastiges Sprechtheater bekannt geworden, das das TV-Format der Sit-coms nachstellt und Theorie im Anschluss an Hegel[12] und Brechts TUI-Fragmente als Möglichkeit der Selbstorientierung im Alltag versteht. Er integriert in Fragmenten, durchsetzt von Alltagssprache, von Schimpfwörtern und in Loops wiederkehrend, insbesondere Theoreme der Arbeitssoziologie, das heißt er reflektiert zusammen mit seinen SchauspielerInnen die neue Subjektivierungsform des postfordistischen Arbeitskraftunternehmers (beispielsweise in Heidi Hoh und Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr), ebenso die Sexualisierung der Arbeit, wie sie Boudry, Kuster und Lorenz profiliert haben[13] (in Sex. Nach Mae West), neuerdings die Prekarität von SchauspielerInnen (in Tod eines Praktikanten).
Im Folgenden stehen zwei Projekte im Zentrum, die sich auf die „äußeren“ Ausgeschlossenen beziehen, das heißt aus einer globalen Perspektive auf Migration und Kapitalismus bzw. seine Exklusionen: Im Fokus stehen Christoph Schlingensiefs Container-Projekt Ausländer raus. Liebt Österreich mit einem Seitenblick auf seinen Wahlzirkus Chance 2000. Wähle Dich selbst sowie René Polleschs Prater-Saga von 2004/2005 über okkulte Ökonomien in Afrika. Deutlich werden soll im Anschluss an Katharina Pewny, auf welche Weise die Verwundbarkeit in diesen Projekten auf die Zuschauer übertragen wird und wie eine Ästhetik der Entprekarisierung aussehen kann.
Prekäres Publikum und die Kollektivierung von Traumata: Christoph Schlingensief
Der Oberhausener Aktionist Christoph Schlingensief kann als Neoavantgardist in der Tradition des Kaprow’schen Happenings bezeichnet werden. Seine Aktionen, die auf Unkalkulierbarkeit, Verselbstständigung des ästhetischen Prozesses und Selbstwiderspruch basieren, schließen an die Surrealisten, die Situationisten und an Beuys an. Die Installationen und Projekte bedienen sich im Wesentlichen der Verkörperung und der Visualisierung, um die abstrakte politische Rede zu konkretisieren und in Störbildern oder „sozialen Skulpturen“ – ein Begriff von Joseph Beuys – bzw. „Schmutzplastiken“ zu verdichten.
Schlingensiefs Beitrag für die Wiener Festwochen führt die Reality-Show Big Brother, die den Voyeurismus des Fernsehens zum Selektionsspiel potenziert, mit dem öffentlichkeitswirksamen Thema der Ausländerpolitik bzw. der Abschiebung zusammen, und zwar in dem Augenblick, in dem sich Österreich unter dem Blick eines Zensors weiß; die EU-Kommission überprüft zu diesem Zeitpunkt die Einhaltung europäischer Grundwerte[14] – Big Brother is watching you. Schlingensief fusioniert Theater, Fernsehen, Internet und Politik, und zwar hinsichtlich ihrer Selektionspraktiken.[15]
An einem hoch signifikanten Ort des öffentlichen kulturellen Lebens, vor dem Opernplatz, wird ein Container aufgebaut, ein Lager, in dem sich Asylsuchende befinden. Diese sind mit Biographien ausgestattet, werden im Internet mit Portraits vorgestellt und scheinen sich um die Aufnahme in das Land zu bemühen – ob es sich um Schauspieler handelt oder um tatsächliche Asylbewerber, ist nicht zu klären. Das Selektionsspiel sieht vor, dass durch Telefonanrufe täglich zwei Abschiebungen stattfinden. Dem Sieger winkt die Anerkennung seines Antrags, eine Geldsumme und zuweilen ist von einer Heirat mit einem/r ÖsterreicherIn die Rede. Im Internet werden die Entscheidungen der Mitspieler visualisiert – das Ergebnis ist noch heute zu besichtigen, wobei die Bilder der abgewählten Bewerber durchgestrichen und mit der Aufschrift „abgeschoben“ versehen sind. Schlingensiefs Projekt trägt mithin die Grenzziehungen des politischen Systems zwischen nationalem Innen- und Außenraum, das heißt auch zwischen repräsentierbaren und schwer repräsentierbaren Interessen, aus architektonischer Perspektive die Grenze zwischen Zentrum und Ausgeschlossenen in das Herz der Stadt und ihre Bilder ein und führt sie in aller Sichtbarkeit vor. Das Schild „Ausländer raus“, das signifikanterweise vor der Oper als Ort der nationalen Hochkultur aufgestellt ist, stört die vertrauten Österreichbilder, also auch die Photographien der Touristen, zu denen Schlingensief in diesem infizierten Ambiente ausdrücklich auffordert. Sein Projekt, ganz offensichtlich eine „Bilderstörungsmaschine“, besteht also darin, den gesäuberten Bildern, wie sie die Medien, auch beispielsweise die Kronenzeitung, produzieren, irritierende Unreinheiten entgegenzusetzen. Zugleich werden die buchstäblich zusammenbrechenden und hysterisch schreienden Beobachter – Schlingensief bezieht sich in einem Interview ausdrücklich auf den Surrealisten André Breton[16] – zu Mittätern und prekären Aktivisten. Die Demonstranten erscheinen den verängstigten Insassen bei ihrem Sturm auf den Container als Täter, wo sie doch Befreier sein wollen. Diejenigen, die das provokante Schild „Ausländer raus“ von Schlingensiefs Wiener Container auf dem Opernplatz abmontieren, verstoßen mit der gleichen Geste gegen die Freiheit der Kunst. Umgekehrt bedeutet die Unterstützung des Projekts, das Ausländer per Internet abschieben lässt, die Anerkennung des Slogans: „Ausländer raus“ – eine prekäre Verklammerung, die in besonderem Maße augenfällig wird, wenn ein Moderator der Entscheidung über die Abschiebung von zwei Asylanten, die hier gleich erfolgt, großen Erfolg wünscht.[17] Diese Double-bind-Strategie kann man als theatrale Ästhetik der Verwundung bezeichnen. Die prekarisierenden Ausschlüsse der national orientierten Mehrheitsgesellschaft werden konkretisiert, sichtbar und damit unerträglich; und sie infizieren die von sozialen Exklusionen scheinbar bereinigte Stadt.
Eine Ästhetik der Entprekarisierung hingegen verfolgt das Projekt Chance 2000. Es handelt sich dabei um eine Partei, die sich tatsächlich am deutschen Wahlkampf 1996 beteiligt hat und die die Politik mit ihren eigenen sowie theatralen Mitteln schlägt, denn jeder Wähler konnte sich selbst wählen; „vote for you” ist der Slogan im Anschluss an Beuys’ Aktionen für die plebiszitäre Demokratie in den 1970er Jahren. Ausdrückliches Ziel ist es – so heißt es im Programm Schlingensiefs – auch „den arbeitslosen oder sonstwie ausgegrenzten Menschen wieder zum Menschenrecht der Würde zu verhelfen“ und dem „ganzen Volk wieder die strukturelle Gewalt zurückzugeben, die ihm das Grundgesetz unverbrüchlich verliehen hatte“[18] – eine Visibilisierung von schwer repräsentierbaren Interessen durch politisch-theatrale und burleske Aktionen in einem Zirkuszelt und auf den Straßen. Dort findet beispielsweise ein buchstäbliches Tauziehen um die Macht statt oder es wird der Seiltanz politischer Entscheidungen körperlich nachgestellt. Worauf es Schlingensiefs Partei vor allem ankommt, ist, um mit Stephen Greenblatt zu sprechen, „self-fashioning“, Selbstdarstellung[19] im Sinne einer Einübung in Selbstrepräsentation und -wahrnehmung. Im Hintergrund steht hier offensichtlich Bertolt Brechts theatrale Körperpolitik. Schlingensief macht mithin das persönliche, isolierende Trauma der Prekarität als partizipatives Spektakel erfahrbar und nimmt damit in gewissem Sinne eine Kolletivierung vor, die Isolation der Ausgeschlossenen zurück und adressiert sie als politische Kraft.
Ganz ähnlich ausgerichtet, allerdings weitaus dezentralisierter, sind die kollektiven Aktionen am EuroMayDay, der 2001 in Mailand ins Leben gerufen wurde, um auf prekäre Lebenssituationen aufmerksam zu machen – diese zeichnen sich, wie bereits angedeutet, durch ihre Pluralität aus und erschweren damit die politische Repräsentation. Diese europaweiten Aktionen am Tag der Arbeit versuchen aus der Not, sprich der Vernetzung, der Projektarbeit als bevorzugte Arbeitsformen des Arbeitskraftunternehmers, eine Tugend zu machen und markieren die Städte als Topographien der Ausschließungen, lassen problematische Arbeitsformen, beispielsweise durch Filminterviews, sichtbar werden und adressieren ihre Mitglieder als „prekäre Superhelden“. Auch diese Aktionen arbeiten an der Selbstdarstellung und Entprekarisierung, an Selffashioning als alternative Subjektivierung, beispielsweise durch „Narrationen, durch Sprache oder Praktiken, einen Umhang [sowie] eine knallbunte Superhelden-Sturmmaske“, die bei den Paraden verteilt werden.[20]
Okkulte Ökonomien und prekäre Theaterarbeit:
René Pollesch
René Pollesch beschäftigt sich in seiner Prater-Saga 1-5 von 2004/2005[21] mit dem globalen Kapitalismus aus afrikanischer Perspektive, mit „okkulten Ökonomien“, um die abstrakten Prozesse durch die Beschreibung von ghanaischen und nigerianischen Horrorvideos zu verleiblichen und sichtbar zu machen – allerdings nicht auf die Partizipation der Zuschauer angelegt, sondern auf die der Schauspieler, die sich in einem kollektiven Produktionsprozess an der Textgenese beteiligen, mit theoretischem Material ausgestattet werden und ihre persönlichen Geschichten und Erfahrungen in den Theatertext einbringen. Es geht also darum, die autobiographischen Erfahrungen mit fremdem Material zu vernetzen, im Sinne Brechts zu distanzieren und damit zu präzisieren.
In Polleschs Prater-Saga verbindet der Theatermacher westliche Philosopheme mit afrikanischen Video-Produktionen. Simuliert werden Aufnahmen für ein Video in einer afrikanischen Reichenvilla aus einer „imprisoned community“, wie sie häufig zum Gegenstand von „Ideal Home Exhibitions“ werden, die die illusorischen Konsumgüter eines kapitalistischen Begehrens ins rechte Licht rücken.[22] In einer Fußnote im Anschluss an die Prater-Saga 1, 1000 Dämonen wünschen dir den Tod, nennt Pollesch seine Quellen, aus denen er zum Teil wortwörtlich zitiert. Es handelt sich unter anderem um Agambens Text Ins Offene, der die prekäre Grenze zwischen Tier und Mensch verhandelt und eine Sehnsucht nach der posthistorischen Transgression dieser Diskursmaschine formuliert, um Kerstin Pinthers Text Stadt ohne Eigenschaften über Videokunst in Ghana und Nigeria, und um den Katalog Africa Screams. Das Böse in Kino, Kunst und Kult, der sich mit den okkulten Ökonomien im Video beschäftigt. Diese okkulten Ökonomien, so machen die zitierten Texte deutlich, schließen einerseits an lokale afrikanische Traditionen an, können andererseits als Zerrbild der zivilisatorischen Moderne gelesen werden, denn das Magische steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer als undurchschaubar geltenden modernen Ökonomie.[23] Wendl spricht von dem „transafrikanischen Charakter“ dieser okkulten Phantasien, die die „dunkle Fratze des globalen Kapitalismus“ in Erscheinung treten lassen und in drastischen Figuren des Prekären verdichten.[24] En Vogue sind Vampirgeschichten als Metapher des Kolonialismus, denn das abgezapfte Blut wird gemeinhin Europäern zur Verfügung gestellt.[25] Verbreitet sind zudem Phantasien über Hexen, allem voran Kinderhexen (als Ausdruck zerrütteter Genealogien),[26] sowie die Zombifizierung von Menschen. Diese werden insbesondere nachts zombifiziert, um unentgeltlich arbeiten zu müssen – eine „Erklärung“ für die schlechte Situation am Arbeitsmarkt und die Zerschlagenheit am Morgen. Diese Figuren des Prekären, die die Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch durchkreuzen, korrelieren die Videos meist ganz unmittelbar mit ökonomischen Prozessen, wenn beispielsweise Zombis, ähnlich wie die Goethe’schen Lemuren, als „unfreiwillige[…] Wertschöpfer in den Mühlen der okkulten Ökonomien“ agieren.[27] Pollesch greift unter anderem eine Figur aus dem Film Diabolo von William Akuffo auf, die auch in Time, einer ghanaisch-nigerianischen Koproduktion, eine Rolle spielt: die geldspuckende zombifizierte Frau, die im Schrank durch ihr „Juju-Geld“ (magic money, blood money) für den Reichtum des Mannes sorgt. Die Videos zeigen prekäre Figuren jenseits des Menschlichen als Opfer des Kapitalismus, der immer größere Bevölkerungsteile von seinen Prosperitätsversprechen ausschließt, Existenzen bedroht und sich hier ganz unmittelbar von Körpern ernährt.
Erscheint der sich globalisierende Kapitalismus auch aus westlicher Perspektive als hoch abstraktes, undurchschaubares System, so bedient sich Pollesch konkretisierender, aber auch exotistischer Phantasien, um den Zustand der Entfremdung zu visualisieren und den SchauspielerInnen verfügbar zu machen. Pollesch schreibt zum einen eine notorische Afrika-Phantasie fort, die die Befreiung vom westlichen Subjekt durch Magie dort lokalisiert. Zum anderen aber konfrontiert er über die prekären Gestalten, über die Zombis und Hexen das Fundament des westlichen Kapitalismus, den Mythos vom homo oeconomicus, vom autonomen Subjekt, das souverän über sein eigenen Kräfte verfügt. Der Kapitalismus produziert mithin durch seine Entfremdung des Menschlichen seine eigene Transgression, die Abschaffung seiner Mythen und dazu gehört allem voran die „anthropologische Maschine“ (Agamben), die Tier und Mensch unterscheidet und das Bild des autonomen Subjekts bzw. eines geschlossenen, statischen Körpers herstellt. Und Pollesch bietet den Schauspielerinnen konkrete (Körper-)Bilder als Ausdruck für die eigene Arbeitssituation am Theater an.
Ausgehend von dieser Exkursion in die Symbollandschaft der afrikanischen Prekarität rückt Pollesch zunehmend die Beschäftigungssituation am Theater selbst ins Zentrum seiner Abende. In Tod eines Praktikanten tragen die Schauspielerinnen[28] die Gage, die sie an diesem Abend verdienen, sichtbar aufgedruckt auf ihren Brautkleidern. Nina Kronjäger sagt: „Und ist das nicht deine Tagesgage da? Zweihundert…“ Christine Groß: „(hält ihr den Mund zu) Darüber dürfen wir nicht sprechen.“[29] Pollesch wendet mithin auf das Theater zurück, was die Inszenierungen nicht nur an der Schaubühne gemeinhin unterschlagen: dass nämlich auch Schauspieler und vor allem Schauspielerinnen am Theater zum Personal der Prekären gehören; ihre Situation ist in hohem Maße von sozialer Unsicherheit, von einer ungewissen Zukunft[30] und von geringen Einkünften gekennzeichnet, so dass durchaus von einer Pauperisierung durch Arbeit zu sprechen ist. Allerdings werden diese Verhältnisse, anders als in anderen Bereichen, durch den traditionsreichen Diskurs des L’art pour L’art und eines bohemehaften Lebenstils camoufliert.[31] Pollesch ist dabei in hohem Maße konsequent, wenn er Prekarität vor allem mit Blick auf Schauspielerinnen thematisiert: An Schauspielschulen wird gegenwärtig eine weitaus größere Zahl an Frauen als an männlichen Bewerbern ausgebildet, während das immer noch an Klassikern orientierte Theater – diese machen in etwa 50 Prozent des Repertoires aus – weitaus weniger Frauen als Männer beschäftigt. In der Regel ist ein Drittel des Ensembles weiblich, das in etwa ein Drittel weniger verdient, weil das Angebot auf dem Arbeitsmarkt größer ist. Zudem ist es auf dieses Repertoire (und die Ablehnung des Typus alternde Frau, für die immer noch kein positives Role Model vorliegt) zurückzuführen, dass für Schauspielerinnen ab 40 die Situation vielfach aussichtslos ist und es zu einer hohen Zahl an beruflichen Umorientierungen oder aber zu Arbeitslosigkeit kommt.[32] Auch in den Statistiken zeigt sich „ein sprunghafter Rückgang in den Erwerbstätigenzahlen“ bei den darstellenden Künstlerinnen in diesem Alter.[33] Statistische Untersuchungen haben zudem ergeben, dass der überwiegende Anteil aller Künstlerinnen in ihren letzten Erwerbsjahren über ein Jahresbruttoeinkommen von maximal 10.000 Euro verfügen.[34] Es zeichnet sich gegenwärtig ab (und die Stücke von Pollesch sprechen dafür), dass die „Verwundbarkeit“ durch eine prekäre Arbeitssituation bei den Theaterakteuren selbst angekommen ist, was sich unter anderem an ihrer erhöhten Selbstdisziplinierung und der Verabschiedung von notorischen Theaterexzessen ablesen lässt. Der Deckdiskurs der Kunst (um der Kunst willen) scheint als Legitimationsstrategie nicht mehr auszureichen, um sich mit der problematischen Situation auszusöhnen.
[1] Der Aufsatz ist im Zusammenhang zweier Tagungen entstanden, der Tagung Marx und seine Widergänger – Was heißt Entfremdung 2009? am 25. Oktober 2009 im Foyer des Theaters Trier, veranstaltet von Birgit Althans und Franziska Schößler, und der Tagung Prekäre Figuren – Politische Umbrüche des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs der Universität Konstanz vom 26-28.11.2009.
[2] Hans-Thies Lehmann, Die Gegenwart des Theaters, in:Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre (Recherchen 2), Berlin 1999, S. 13-26, S. 15.
[3] Vgl. zum Phänomen des Arbeitskraftunternehmers (als theoretische Figur) G. Günther Voß, Hans J. Pongratz, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998), S. 131-158; Richard Weiskopf, Gouvernementabilität: Die Produktion des regierbaren Menschen in post-disziplinären Regionen, in: Zeitschrift für Personalforschung 19 (2005), S. 289-311; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007.
[4] Vgl. zu diesem Begriff Klaus Dörre, Prekarität im Finanzmarkt-Kapitalismus, in: Robert Castel, Klaus Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., New York 2009, S. 35-64.
[5] Allerdings wird diese Bedrohung von linker Seite in manchen Bereichen, beispielsweise der Generation Praktikum, als Mentalitätsphänomen wahrgenommen; Eske Wollrad, White trash – das rassifizierte „Prekariat“ im postkolonialen Deutschland, in: Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch, Annekathrin Müller, Tobias Roscher (Hg.), Von „Neuer Unterschicht“ und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten, Bielefeld 2008, S. 35-47, S. 45.
[6] Vgl. dazu auch Franziska Schößler, Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004, S. 288f.
[7] Bernd Blaschke, „McKinseys Killerkommandos. Subventioniertes Abgruseln“. Kleine Morphologie (Tool Box) zur Darstellung aktueller Wirtschaftsweisen im Theater, in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.), Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 209-224.
[8] Evelyn Annuß: Tatort Theater. Über Prekarität und Bühne, in: ebd., S. 23-38.
[9] Thomas Ostermeier fordert bei seinem Amtsantritt, das Theater müsse eine Nabelschnur zur Welt legen und soziale Geschichten auf die Bühne bringen: „Die Haltung des Realismus versucht die Welt zu vermitteln, wie sie ist, nicht wie sie aussieht. Sie versucht, Wirklichkeiten zu begreifen und sie zu refigurieren, ihr Gestalt zu geben. [...] Sie zeigt Vorgänge, das heißt, eine Handlung hat eine Folge, eine Konsequenz. Das ist die Unerbittlichkeit des Lebens, und wenn diese Unerbittlichkeit auf die Bühne kommt, entsteht Drama. [...] Der Kern des Realismus ist die Tragödie des gewöhnlichen Lebens.“ Thomas Ostermeier, Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, in: Theater der Zeit 4 (1999), S. 10-15, S. 13.
[10] Katharina Pewny nimmt in ihrer Habilitationsschrift eine grundlegende Neubestimmung des Theaters der Gegenwart vor und erarbeitet eine innovative Kategorie, um ästhetische Phänomene in ihrer Verknüpfung mit ethischen zu erfassen: die Kategorie des Prekären. Diesen selbst „ungesicherten“ Begriff erweitert sie zu einer fundamentalen analytischen Kategorie, die sowohl das labile, „schwierige“ Verhältnis zwischen Zuschauer und Geschehen auf der Bühne beschreibt als auch die Verknüpfungen zwischen theatralem Geschehen und anderen Wirklichkeiten, allen voran denen, die sich unter den (arbeits-)soziologischen Konzepten des Prekären bündeln lassen. Ihre Studie vernetzt philosophische Ansätze, die das prekäre Verhältnis zwischen Ich und Anderem beschreiben – im Zentrum steht die Ethik von Émmanuel Lévinas –, mit arbeitssoziologischen Erkenntnissen (u.a. Robert Castel) sowie der Geschichte der Performance Studies und der Theaterwissenschaft, um dann in einem zweiten Schritt die Analysekategorie des Prekären auszudifferenzieren, und zwar in das postdramatisch Theater, das transformatorische und das relationale.
[11] Vgl. zu dem Begriff Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München 2008.
[12] Vgl. dazu Norbert Otto Eke, Störsignale. Pené Pollesch im ‚Prater’, in: Schößler, Bähr (Hg.), Ökonomie im Theater der Gegenwart, S. 175-191, S. 179f.
[13] Pauline Boudry, Brigitta Kuster, Renate Lorenz, Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit und Zuhause, Berlin 1999.
[14] Vgl. Armin Thurnher, Das Bild Österreichs muss wieder sauber werden, in: Schlingensiefs Ausländer raus. Bitte liebt Österreich. Dokumentation von Matthias Lilienthal und Claus Philipp, Frankfurt a.M. 2000, S. 50-58, S. 52.
[15] Vgl. dazu auch Franziska Schößler, Wahlverwandtschaften: Der Surrealismus und die politischen Aktionen von Christoph Schlingensief, in: Ingrid Gilcher-Holtey, Dorothea Kraus, Franziska Schößler (Hg.), Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt a.M., New York 2006 (Historische Politikforschung Bd. 8), S. 269-293.
[16] Breton hält fest: „Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern in der Hand auf die Straße zu gehen und solange wie möglich blind in die Menge zu schießen“; zitiert nach Hans Magnus Enzensberger, Die Aporien der Avantgarde, in: ders., Einzelheiten II. Poesie und Politik, Frankfurt/M. 1976, S. 50-80, S. 78. Breton visioniert ein aktionistisches Straßentheater, das im Zeichen des Aufruhrs, der Revolution steht.
[17] Dietrich Kuhlbrodt, Bericht der Europäischen Kommission, in: Schlingensiefs Ausländer raus, S. 64.
[18] Christoph Schlingensief, Carl Hegemann, Chance 2000. Wähle Dich selbst, Köln 1998, S. 77.
[19] Stephen Greenblatt, Renaissance Self-fashioning.From More to Shakespeare, Chicago, London 1980
[20] Stephan Adolfs, Marion Hamm, Prekäre Superhelden: Zur Entwicklung politischer Handlungsmöglichkeiten in postfordistischen Verhältnissen, in: Altenhain u.a. (Hg.), Von „Neuer Unterschicht“ und Prekariat, S. 165-182, S. 177.
[21] Aenne Quiňones (Hg.), René Pollesch. Prater-Saga. Mit Beiträgen von René Pollesch, Diedrich Diederichsen, Jochen Becker, Stephan Lanz, Gob Squad und Stefan Pucher, Berlin 2005.
[22] Kerstin Pinther, Stadt ohne Eigenschaften. Zur filmischen Inszenierung des Urbanen im ghanaischen und nigerianischen Video, in: Jochen Becker, Claudia Burbaum, Martin Kaltwasser, Folke Köbberling, Stephan Lanz, Katja Reichard (Hg.), Learning from* Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation, Berlin 2003, S. 185-205, S. 193f.
[23] Jean und John L. Comaroff, Occult Economies and the Violence of Abstraction: Notes from the South African Postcolony, in: American Ethnologist 26, 2 (1999), S. 279-303.
[24] Tobias Wendl, Africa Screams. Spurensuche für eine Archäologie des Bösen und des Schreckens, in: ders. (Hg.), Africa Screams. Das Böse in Kino, Kunst und Kult, Wuppertal 2004, S. 11-30, S. 15.
[25] Ebd., S. 16.
[26] Vgl. dazu auch Filip de Boeck, Die zweite Welt. Kinder und Hexerei in der Demokratischen Republik Kongo, in: Wendl (Hg.), Africa Screams, S. 31-47.
[27] Wendl, Africa Screams, S. 17.
[28] Zur Situation von Schauspielerinnen, die seit Jahrhunderten in besonderem Maße von prekären Arbeitsbedingungen, häufig an der Grenze zur Prostitution, betroffen sind, vgl. Renate Möhrmann (Hg.): Die Schauspielerin – Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M., Leipzig 2000.
[29] René Pollesch, Tod eines Praktikanten, in: ders., Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke, Texte, Interviews. Mit einem Vorwort von Dietmar Dath, hg. v. Corinna Brocher, Aenne Quiňones, Reinbek bei Hamburg 2009, S.121-169, S. 124.
[30] Damit nähern sie sich dem Profil des Arbeitskraftunternehmers an; vgl. dazu Doris Eikhof, Axel Haunschild: Der Arbeitskraftunternehmer. Ein Forschungsbericht über die Arbeitswelt Theater, in: Theater heute 3 (2004), S. 4-17; Axel Haunschild, Managing Employment Relation in Flexible Labour Markets: The Case of German Repertory Theatres, in: Human Relations 56 (2003), S. 899-929.
[31] Pollesch rückt damit die konkrete ökonomische Situation von Kulturarbeiterinnen in den Fokus, an denen sich der Zusammenhang von sich selbst regulierendem Arbeitskraftunternehmer und Prekarität besonders deutlich zeigt; Isabell Lorey spricht in diesem Zusammenhang von Selbst-Prekarisierung; Isabell Lorey: VirtuosInnen der Freiheit – Zur Implosion von politischer Virtuosität und produktiver Arbeit, in: Altenhain u.a. (Hg.): Von „Neuer Unterschicht“ und Prekariat, S. 153-164.
[32] Vgl. dazu auch Franziska Schößler, Axel Haunschild, Genderspezifische Arbeitsbedingungen am deutschen Repertoiretheater. Eine empirische Studie, erscheint in: Gaby Pailer, Franziska Schößler (Hg.): Geschlechter Spiel Räume. Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam 2010. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie zu genderspezifischen Arbeitsbeziehungen von SchauspielerInnen in Großbritannien von Deborah Dean: Performing industrial relations: the centrality of gender in regulation of work in theatre and television, in: Industrial Relations Journal 38, 3 (2007), S. 252-268.
[33] Carroll Haak: Wirtschaftliche und soziale Risiken auf den Arbeitsmärkten von Künstlern, Wiesbaden 2008, S. 106.
[34] Ebd., S. 140.