Klassentheorie V

Gewerkschaftspolitik und Klassenfragmentierung

März 2006

Verglichen mit den Debatten in angelsächsischen und romanischen Ländern wird in Deutschland kaum versucht, klassentheoretische Antworten auf die aktuellen ökonomischen, politischen und sozialen Umstrukturierung zu geben. Die Debatte in Deutschland setzt vielmehr an einer Überwindung des hergebrachten Klassenmodells von Bürgertum und Proletariat an, um den aktuellen sozialen Wandel als tendenzielle oder völlige Entstrukturierung zu erklären. Es wird dabei nicht versucht, die Unterschiede und Zusammenhänge der einzelnen sozialen Verhältnisse („neue soziale Ungleichheiten“) in einem einheitlichen analytischen Gebäude aufeinander zu beziehen. Die in Ansätzen nun auch in Deutschland geführte Underclass-Debatte macht diese Defizite ebenfalls deutlich. Während mit der Analyse der Underclass ganz überwiegend die konkrete Ausprägung von Verarmungsprozessen untersucht wird und die Frage, ob diese zu Vergemeinschaftungsformen führen, soll das Phänomen der gesellschaftlichen Marginalisierung im folgenden zunächst strukturtheoretisch bestimmt werden, um in einem zweiten Schritt zu beleuchten, was dies für die Ausrichtung gewerkschaftlicher Politik bedeuten könnte.

Klassenstrukturierung und Klassenformierung

Eine Sozialstrukturanalyse lässt sich als klassentheoretischer Ansatz so entwickeln, dass jedes soziale Verhältnis auf seine spezifische Form der Klassenstrukturierung hin untersucht wird, einschließlich der Arbeitslosigkeit und der Hausarbeit. Innerhalb der Klassenanalyse der Lohnarbeit kann nach Produktionsverhältnissen unterschieden werden, in denen über die kapitalistischen Verwertungsstrukturen hinaus auch rassistische oder sexistische Mechanismen zum Tragen kommen. Auch gibt es bisher keine hinreichende klassentheoretische Diskussion der Spaltung in flexibilisierte Kernbelegschaften und in periphere Arbeitsverhältnisse.

Grundsätzlich kann eine Klassenanalyse in die Untersuchung der Klassenstrukturierung und der Klassenformierung unterteilt werden. Die Klassenstrukturierung bezieht sich auf die Struktur der Produktions- und Distributionsverhältnisse. Eine Analyse der Klassenformierung verdeutlicht, wie und mit welchen Resultaten sich die Klassenstrukturierung in einer historisch offenen Entwicklung in Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsprozessen niederschlägt. In diesem Zusammenhang ist es möglich, dass sich Klassenstrukturen beispielsweise auch in Milieus darstellen. Die Klassenformierungskapazität einer sozialen Gruppe wird unter anderem dadurch bestimmt, ob der Arbeitsprozess einen kommunikativen Austausch ermöglicht oder ob Konsum- bzw. Reproduktionsformen zu einer scharfen Abgrenzung der einzelnen Bevölkerungsgruppen genutzt werden. Bei der Unterscheidung von Klassenstrukturierung und Klassenformierung handelt es sich also um unterschiedliche Blickwinkel auf den gleichen Gegenstand.

Die hier vorgeschlagene Analyse der Klassenstrukturierung[1] hat drei Ansatzpunkte:

- die primäre Klassenstrukturierung durch den Produktionsprozess,

- die sekundäre Klassenstrukturierung durch die Distributionsprozesse und

- die des Klassenkampfes bzw. des Selbstbildungsprozesses der Klassen.

Die primäre Klassenstrukturierung bezieht sich auf die Akkumulations- und Regulationsformen von Produktionsverhältnissen. Das Akkumulationsregime stellt die ökonomische Seite einer Gesellschaft dar. Sie ist gegenwärtig von vielfältigen Umstrukturierungen gekennzeichnet. Politische und ideologische Momente machen die regulative Seite des Produktionsprozesses aus; sie spiegeln gegenwärtig vor allem den Diskurs über die Art und die Intensität der Herausforderung durch die sogenannte Globalisierung wider.

Die sekundäre Klassenstrukturierung beruht auf den Distributionsverhältnissen, das heißt darauf, wie Lohn, Wohnraum oder öffentliche Einrichtungen auf die Bevölkerung verteilt werden. Auf dieser Ebene wird, wenn überhaupt, die sich ausbreitende Armut diskutiert. Die Struktur der Distribution hängt von den Produktionsverhältnissen ab. So bestimmen die Höhe des Lohnes und die Regulation seitens des (Sozial-)Staates die individuellen Reproduktionsmöglichkeiten. Produktionsverhältnisse und ideologische Deutungen gesellschaftlicher Veränderungen können beispielsweise zu Vergemeinschaftungen entlang von Milieu- und Lebensstilkategorien in Wohnvierteln führen, die als Reproduktion sozialer Ungleichheit einen autonomen Beitrag zur Klassenformierung leisten können.

Der Austausch innerhalb oder zwischen Klassen bzw. Klassenfragmenten wird über das dritte Moment der Klassenstrukturierung, den „Klassenkampf“, hergestellt. Durch die Analyse des Klassenkampfs können die scheinbar statischen Klassenstrukturen als Beziehungen betrachtet werden, in denen reale soziale Gruppen ihre Konflikte austragen bzw. ihre gesellschaftlichen Positionen einnehmen. Die Zurückweisung, gesellschaftliche Phänomene als Klassenstrukturen zu deuten, wird häufig damit begründet, dass selbst in Zeiten zunehmender sozialer Ungleichheit und Marginalisierung im herkömmlichen Verständnis sichtbare Klassenkämpfe weitgehend ausbleiben. Eine solche Position unterschätzt aber z.B. die Standort- und Deregulierungsdebatte in ihrer ideologischen Funktion als „Klassenkampf von oben“.

Diejenigen Teile der Bevölkerung, die entweder mittelbar durch die Reproduktion von Arbeitskräften bzw. unmittelbar als Lohnarbeitende zum kapitalistischen Akkumulationsprozess beitragen oder wie die Arbeitslosen als industrielle Reservearmee von der kapitalistischen Akkumulationsbewegung abhängig sind, können analytisch als ArbeiterInnen des Kapitals verstanden werden. Bei der Verwendung dieser Begrifflichkeit darf nicht übersehen werden, dass etwa patriarchale Regulationsmomente einen eigenständigen Charakter haben, jedoch in eine gesellschaftliche Dynamik eingebunden sind, die als ganzes von der gesellschaftlichen Verwertungsstruktur determiniert wird. Diese Feststellung zur gesellschaftlichen Genese darf jedoch nicht zu dem Fehlschluss führen, dass auf der Ebene der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung kapitalistischen Momenten ein Vorrang vor patriarchalen zu geben sei. Auf der Grundlage unterschiedlicher Akkumulations-, Regulations- und Distributionsformen lassen sich innerhalb der ArbeiterInnen des Kapitals strukturanalytisch zudem Klassenfragmente bestimmen. Wenn ArbeiterInnen innerhalb der Produktion Herrschaft gegenüber anderen ArbeiterInnen ausüben bzw. dieser unterworfen sind, bilden sie eine Klassenfraktion. Sind sie spezifischen Verwertungs- bzw. Distributionsformen ausgesetzt, stellen sie ein Klassensegment dar.

Marginalisierungsprozesse und Klassenfragmentierung

Für eine klassentheoretische Bestimmung von Marginalisierungsprozessen, die über eine reine Deskription wachsender Armutspopulation hinausgeht, ist eine Analyse der Klassenstrukturierung der PeripheriearbeiterInnen, der rassifizierten oder patriarchalisierten Lohnarbeit, der Arbeitslosigkeit und der HausarbeiterInnen notwendig.

Hierbei sind PeripheriearbeiterInnen von KernarbeiterInnen abzugrenzen. Während KernarbeiterInnen in den Zentren des kapitalistischen Produktionsprozesses tätig sind und die Höhe ihres Lohns ihnen die Führung eines kleinbürgerlichen Lebensstils ermöglicht, sind die PeripheriearbeiterInnen vielfach Überausbeutungsverhältnissen ausgesetzt, d.h. sie können sich nicht oberhalb der Armutsgrenze (nach bundesdeutschem Standard weniger als 60 Prozent des gesellschaftlichen Durchschnittslohnes) reproduzieren. Da die PeripheriearbeiterInnen außerdem häufig einer unmittelbaren tayloristischen Kontrolle ihrer Arbeit durch das Aufsichtspersonal unterliegen und nur einen unzureichenden rechtlichen Schutz gegen willkürliche Maßnahmen genießen, kann ihre soziale Lage als Reproletarisierung verstanden werden. Die Ausdehnung von deregulierten peripheren Arbeitsverhältnissen wird dadurch erleichtert, dass überdurchschnittlich viele von ihnen durch rassistische oder patriarchale Regulationsformen geprägt sind. Im Verhältnis zu den KernarbeiterInnen stellen die PeripheriearbeiterInnen ein Klassensegment dar, das umfangreichen Marginalisierungsprozessen ausgesetzt ist.

Rassifizierte und patriarchalisierte Lohnarbeitende sind nicht nur von ökonomischen Zwängen der kapitalistischen Produktionsweise betroffen, sondern durch ihre Diskriminierung zusätzlich außerökonomischen Regulationsformen unterworfen, die ihre soziale Position zusätzlich schwächen. Mit der Diskriminierung werden ihnen spezifische Arbeitsbereiche zugewiesen. Der Grad des rassistischen und patriarchalen Zwangs in spezifischen Arbeitsfeldern bestimmt sich nach dem Charakter der außerökonomischen Regulationsformen, die von ideologischen bis zu rechtlichen Diskriminierungen reichen können. In der Mittelklasse kann sich der Zwang in bestimmte Arbeitsfelder z.B. dahingehend auswirken, dass diskriminierte Gruppen mehr leisten müssen als andere, um in der Unternehmenshierarchie aufzusteigen. Mehrheitlich sind die rassistisch oder sexistisch diskriminierten Lohnarbeitenden dagegen als PeripheriearbeiterInnen Überausbeutungsverhältnissen ausgesetzt. Gegenüber den nicht diskriminierten LohnarbeiterInnen bilden sie eine Klassenfraktion, weil sie im Vergleich mit diesen zusätzlich außerökonomischen Herrschaftsformen unterworfen sind. Wenn sich die nicht diskriminierten Lohnarbeitenden an der Diskriminierung beteiligen, bilden sie selbst eine Klassenfraktion gegenüber den diskriminierten LohnarbeiterInnen. Über Klassen- und Fraktionsgrenzen hinweg kann eine diskriminierte Gruppe als gesellschaftliche Kategorie verstanden werden. Ihre kollektive Unterwerfung unter rassistische oder sexistische Regulationsformen hebt die Klassengrenzen zwischen ihnen nicht auf, kann jedoch beispielsweise für den gemeinsamen Kampf um Bürgerrechte Bedeutung gewinnen.

Die Klassenstrukturierung der Arbeitslosen beruht auf einer politisch-ideologischen Reproduktion durch den Staat und die weitere Gesellschaft. Während die Monopolisierung von Produktionsmitteln eine Selbstversorgung unmöglich macht, führt die Effizienzsteigerung der flexibilisierten und deregulierten Produktion zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit. Der Staat sichert deshalb einerseits durch Versorgungsleistungen das physische Überleben der Arbeitslosen; gleichzeitig verhindert allerdings der Staat durch die Aufrechterhaltung der Monopolisierung von Produktionsmitteln, die gesellschaftlich notwendige Arbeit (und damit auch den Erhalt eines entsprechenden Reproduktionsniveaus) in gleichem Maße von allen verrichten zu lassen. Da die Arbeitslosen in ihrer unmittelbaren Klassenstrukturierung ausschließlich außerökonomischen Zwängen ausgesetzt sind, bilden sie unter einem klassenanalytischen Blickwinkel eine eigenständige Klasse und gehören einer von der kapitalistischen Produktionsweise zu unterscheidenden Reproduktionsweise an. Die Arbeitslosen können, je nachdem welchen Fraktionen oder Segmenten sie auf dem Arbeitsmarkt angehörten, in diverse Gruppen zerfallen.

Auch die unbezahlten HausarbeiterInnen stellen strukturanalytisch eine Klasse dar und gehören einer eigenständigen Produktionsweise an. Sie tauschen ihre Reproduktionsarbeit gegen Unterhalt. Da die HausarbeiterInnen im Durchschnitt länger arbeiten als die von ihnen Reproduzierten bzw. über einen geringeren Anteil am Haushaltseinkommen verfügen als diese, werden sie von diesen ausgebeutet. Die an den Reproduzierten geleistete Arbeit kann außerdem vom Kapital angeeignet werden, wenn diese Lohnarbeit verrichten. Im Gegensatz zur kapitalistischen Produktionsweise wird die Ökonomie der Hausarbeit von einem politisch-ideologischen Zwang der Frauen in die Hausarbeit bestimmt. Die patriarchalen Regulationsmechanismen im Klassenstrukturierungsprozess der Reproduktionsarbeiter dienen somit nicht, wie bei der Lohnarbeit, der Fragmentierung der Klasse, sondern sie konstituieren die Klasse der HausarbeiterInnen als solche. Je nach Reproduktionsniveau und -form der Haushalte gehören die ReproduktionsarbeiterInnen unterschiedlichen Segmenten an. ReproduktionsarbeiterInnen in Arbeitslosen- oder PeripheriearbeiterInnen-Haushalten stehen auf der untersten gesellschaftlichen Stufe.

Die ArbeiterInnen des Kapitals stellen somit entgegen der Auffassung orthodoxer KlassentheoretikerInnen strukturell keine einheitliche Klasse dar. Aufgrund der Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen untereinander sowie ihrer distributiven Besser- oder Schlechterstellung müssen sich ihre Klassenkämpfe bzw. Klassenbildungsprozesse im Sinne einer allgemeinen Emanzipation nicht nur gegen das Kapitalverhältnis richten, sondern teilweise auch untereinander ausgetragen werden. Dies hat gravierende Folgen für die Wahrnehmung und Bestimmung von Klassenformierungsprozessen. Es wird deutlich, dass die Herausbildung einer politisch homogenen ArbeiterInnenklasse die historische Ausnahme und nicht die Regel ist.

Es müssten mithin Antworten auf die Frage gesucht werden, wie auch die wechselseitige Unterdrückung der ArbeiterInnen beseitigt werden könnte. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf die politische und ideologische Regulation von Arbeits- bzw. Reproduktionsprozessen gelegt werden: Wie funktioniert etwa die rassistische oder sexistische Diskriminierung der Kern- und PeripheriearbeiterInnen untereinander und damit ihre politisch-ideologische Spaltung? Wie werden die Arbeitslosen, getragen von einem gesellschaftlichen Konsens bis in die ArbeiterInnenklasse, durch staatliche Institutionen befriedet? Wie funktioniert der patriarchale Zwang in die Hausarbeit, obwohl im Postfordismus schlecht bezahlte Teilzeitarbeit für Frauen zunimmt? Welche Beiträge müssten insbesondere die KernarbeiterInnen in ihrer ökonomisch relativ gefestigten Position leisten, um der Massenarbeitslosigkeit oder der Reproletarisierung der PeripheriearbeiterInnen etwas entgegen zu setzen? Im Ergebnis wird deutlich, dass der Fragmentierung der ArbeiterInnenklasse im Postfordismus analytisch und praktisch ein entsprechendes Gewicht eingeräumt werden muss, damit überhaupt an eine umfassendere Assoziierung gedacht werden kann.

Auf Grund der gegenwärtig weitgehenden Fragmentierung der Klassenstrukturen können selbstbewusst handelnde Klassen oder Klassenfragmente nur in einem langwierigen und widersprüchlichen Prozess entstehen. Deshalb ist der vorherrschend deskriptive und an den Erscheinungsformen von Armut und Marginalisierung orientierte Ansatz der Underclass-Debatte so wenig erfolgversprechend. Zur Bestimmung der Vergemeinschaftungs- und Handlungstendenzen trägt er zu wenig bei. Damit kann auch auf die Kritik derjenigen Ungleichheitsforscher zurückgekommen werden, die aus der gegenwärtigen Fragmentierung und Auflösung realer Klassen das Ende von Klassenanalysen ableiten. Die Klassenstrukturen und Klassenformierungsprozesse sind nicht verschwunden, sie haben heute jedoch andere Voraussetzungen und Ergebnisse als vor fünfzig oder hundert Jahren.

Gesellschaftliche Kräfteverhältnisse

Heute schlägt das Pendel der sozialen Kräfteverhältnisse eindeutig zugunsten des Kapitals aus. Die neoliberale Politik ist nicht gescheitert. Ganz im Gegenteil, sie ist erfolgreicher denn je. Die Internationalisierung der Produktion unter besonderer Dynamik des Finanzkapitals ermöglicht es, Arbeit weltweit in Konkurrenz bzw. außer Wert zu setzen. Gewerkschaften mit ihrer herkömmlichen Funktion als lokaler oder nationaler Konkurrenzausschluss der ArbeiterInnen werden damit teilweise selbst als betrieblicher Partner zunehmend überflüssig. Die Einbindung der organisierten und unorganisierten ArbeiterInnen von der Betriebsbasis bis zu den Gewerkschaftsspitzen in eine Standort- und Wettbewerbslogik ist deshalb nicht einer individuellen oder kollektiven Korruption geschuldet, sondern besitzt eine materielle Basis in der strukturellen Defensive. Die diversen „Bündnisse für Arbeit und Wettbewerb“ stellen hierbei die deutsche Variante des Wettbewerbskorporatismus dar. Von der Putzfrau bis zum Vorstandssprecher sollen sich alle im Betrieb mit einer „corporate identity“ der internationalen Konkurrenz stellen.

Diejenigen Teile der linken GewerkschafterInnen, die sich ausdrücklich auf die Fragmentierung der ArbeiterInnenklasse beziehen, setzen auf den sogenannten „new social movement unionism“. Damit sind informelle soziale Basisbewegungen inner- und außerhalb der Betriebe gemeint, die der Klassenfragmentierung entgegenwirken sollen. Allein selbst positiv angeführte Beispiele, wie etwa in Frankreich die Streiks im Transportsektor oder der Kampf um MigrantInnenrechte sowie der italienische Rentenstreit, besitzen keine Perspektiven über nationale Teilbereiche hinaus auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung. Solche Kämpfe stellen ein notwendiges Labor für die Aneignung neuer Erfahrungen mit der gegenwärtigen Produktions- und Reproduktionswirklichkeit dar. Maximal gelingt unter dem veränderten Koordinatensystem die partielle Verteidigung fordistischer Klassenkompromisse oder die Durchsetzung sozialliberaler Mindeststandards. Der Kampf um die Aufrechterhaltung des deutschen Sozialversicherungssystems in seiner hergebrachten Form nützt beispielsweise nur den Kernbelegschaften, während prekär Beschäftigte, Arbeitslose oder häusliche Reproduktionsarbeiterinnen zunehmend verarmen. Auch das von der Gewerkschaftslinken hoch gehaltene Konzept der Arbeitszeitverkürzung, das insbesondere an die Kernbelegschaften gerichtet ist, hat für sich genommen nicht weiter geführt. Statt sinkender Arbeitslosenzahlen oder mehr freier Zeit von verdinglichender Arbeit ist die Folge nach 20 Jahren eine Intensivierung der Verwertung durch eine Verdichtung des Arbeitsprozesses. Flexibilisierung und Rationalisierung werden ausgedehnt. Damit fallen nicht die Überstunden weg, sondern nur deren entsprechende Bezahlung. Die Kämpfe um die Arbeitszeitverkürzungen haben somit, wenn auch von den gewerkschaftlichen Akteuren nicht beabsichtigt, durch eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität zur Neuzusammensetzung des variablen (lebendige Arbeit) und des konstanten Kapitals (Arbeitsergebnisse) beigetragen.

Eine praktische und theoretische Antwort darauf, wie dem tendenziell internationalen Konkurrenzverhältnis lebendiger Arbeit und der damit einhergehenden globalen Klassenfragmentierung begegnet werden kann – außer als abstraktem Assoziations- bzw. Solidaritätsbekenntnis, mit dem alle Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse aufgehoben werden sollen – existiert zur Zeit nicht. Mit dem Postfordismus hat sich zwar ein neuer Regulationstyp herausgebildet, eine adäquate politisch-organisatorische Antwort der weiteren ArbeiterInnenklasse ist jedoch noch nicht einmal in den Grundzügen zu erkennen. Wegen der mangelnden praktischen Entfaltung der ArbeiterInnenklasse kann auch die Theoriebildung nur bedingte Fortschritte verzeichnen. In dialektischer Abhängigkeit vermag sie mit einem strukturanalytischen Blick nicht mehr zu erkennen, als in den praktischen Bewegungen schon angelegt oder vorhanden ist. Diese gegenwärtigen Beschränkungen zu reflektieren, sollte Grundlage für die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage sein.

Für die alltäglichen Auseinandersetzungen heißt dies unter anderem, von hegemonialen Bestrebungen innerhalb derjenigen, die unter das Kapital oder Patriarchat subsumiert sind, Abstand zu nehmen. Jede Teilbereichsbewegung, beispielsweise MigrantInnen, die um ihre BürgerInnenrechte kämpfen, ist politisch genauso ernst zu nehmen wie Kernbelegschaften in der Auseinandersetzung um die Verdichtung ihrer Arbeitsabläufe. Da die interessenspezifischen Selbstkonstitutierungsprozesse der jeweiligen Klassenfragmente zu Konflikten innerhalb der ArbeiterInnenklasse beitragen können, müssen diese Voraussetzungen insbesondere von ihren politisch dominanten Fraktionen reflektiert und Veränderungen angestrebt werden. Auch wäre darüber nachzudenken, wie sich die unterschiedlichen Klassenfragmente in ihren jeweiligen Selbstformierungsprozessen unterstützen könnten. Der Kampf um eine ausreichende Versorgung mit Kindertagesstätten dürfte dann nicht als untergeordnete Frage der Sozialpolitik, sondern müsste als eine notwendige Voraussetzung dafür verstanden werden, die patriarchale Arbeitsteilung zwischen häuslicher Reproduktionsarbeit und Lohnarbeit aufzuheben. Nur wenn die sozio-ökonomischen Interessen anderer Klassenfragmente jeweils genauso ernst genommen werden wie die Interessen des eigenen Klassenfragments, könnte dies zu einem klasseninternen Politikwechsel mit einer Partikularinteressen übergreifenden Perspektive führen.

Eine hinreichend erfolgreiche Klassenpolitik ist somit in näherer Zukunft nur als Bündnis unterschiedlichster, teilweise antagonistischer Interessengeflechte möglich. Aus Aktionsbündnissen können sich unter Umständen partielle Synthesen entwickeln. Indem etwa praktisch erkannt wird, dass die Selbstausbeutung in qualifizierten Jobs oder die ungeschminkte Ausbeutung in peripheren Arbeitsverhältnissen mit der Massenarbeitslosigkeit zusammenhängen, und dass das eine nur mit dem anderen verändert werden kann. Und auch dies kann nur zustande kommen, wenn die Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen, partiell gegensätzlichen und gemeinsamen Interessen zwischen den Klassenfragmenten zunehmen. Solche Positionen finden jedoch bisher nur wenig praktische und theoretische Zustimmung.

Gewerkschaftspolitik

Teilweise bemühen sich Gewerkschaften, auf die veränderten Produktionsverhältnisse einzugehen. Mit Blick auf neue Mittelklassen versuchen ver.di und die IG Metall im Sektor der Informationstechnologien und der Telekommunikationsindustrie Organisationsangebote zu machen, indem der Aufbau gesetzlicher Mitbestimmungsinstitutionen gefördert wird oder elektronische Netzwerke zum Informationsaustausch und für Kampagnen initiiert werden. Die Kampagnen richten sich u.a. gegen entgrenzte Arbeitszeiten oder eine individualisierte Interessenwahrnehmung. Die IG Bau bemüht sich, eine Vereinigung europäischer Wanderarbeiter aufzubauen. Der Schwerpunkt liegt derzeit bei dem Versuch, polnische Vertragsarbeiter, die auf deutschen Baustellen arbeiten, zu organisieren. Ver.di Hamburg arbeitet daran, Einblicke in die Arbeitssituation von Hausangestellten zu gewinnen. Dieser expandierende Jobsektor wird überwiegend von Migrantinnen ausgefüllt, die sich häufig mit einem ungesicherten Aufenthaltsstatus und ohne Arbeitsgenehmigung durchschlagen müssen. Da diese ArbeiterInnen regelmäßig mehr als einen Arbeitgeber haben, ihre Tätigkeit vereinzelt und in Schwarzarbeit verrichten sowie kulturelle und Sprachbarrieren bestehen, wurde von ver.di bisher von weitergehenden Organisationsbemühungen abgesehen. Zur Unterstützung bei individuellen Problemen wurde jedoch eine Kontaktstelle eingerichtet. Einigen örtlichen Kartellen des DGB sind auch Arbeitslosenräte bzw. deren Vertretungen angegliedert.

Aus strategischer Sicht ist jedoch der schwindende gewerkschaftliche Organisationsgrad entscheidend. Dies betrifft sowohl die neuen Industrien der Informationstechnologie mit ihren mehrheitlich akademischen ArbeiterInnen sowie die deregulierten und prekarisierten Arbeitssegmente, die zunehmend von Leiharbeit und Scheinselbständigkeit geprägt sind und im Fortgang der Outsourcingwellen mittlerweile alle einfachen bis mittel-anspruchsvollen Dienstleistungen und Gewerke umfassen. Vor diesem Hintergrund sind die Gewerkschaften selbst in Bereichen mit traditionell hohem Organisationsgrad nicht mehr in der Lage, eine Absenkung der Arbeitsstandards zu verhindern. Überwiegend werden trotz der oben angeführten Beispiele nicht genügend Anstrengungen unternommen, positiv auf Bereiche zu wirken, in denen keine gewerkschaftliche Basis existiert. Zum strategischen Bereich der erweiterten Selbstorganisation der KernarbeiterInnen gehören neben den prekären Arbeitsverhältnissen auch die Art der Ausgestaltung bzw. die Aufhebung der Arbeitslosigkeit. Nur dann ließe sich mittelfristig auch die eigene soziale Position absichern.

Mit Bezug auf Antonio Gramsci stellt sich somit die Frage, ob sich die derzeitige strategische Defensive als ein geordneter Rückzug organisieren lässt oder in einer heillosen Flucht und Auflösung gewerkschaftlicher Organisierung endet. Entscheidend dafür sind die gegenwärtig nur beschränkt möglichen Gegenbewegungen – im Laufe der Zeit und auf der Grundlage neuer praktischer Erfahrungen mögen sich daraus auch wieder Offensivpositionen entwickeln.

Insbesondere mit Blick auf diejenigen ArbeiterInnen des Kapitals, die den KernarbeiterInnen nachgeordnet sind, ergibt sich folgendes Bündel von Kampffeldern bzw. von 12 Forderungen, die aus meiner Sicht in ihrer Gesamtheit zu einer neuen Auffangposition für die gewerkschaftliche Arbeit führen könnten:

(1) Arbeitszeitverkürzungen auch ohne vollen Lohnausgleich: Dies dürfte sich nicht auf einen Programmsatz beschränken (z.B. die Überstundenproblematik ausblenden) und wäre der einzig wirksame Ansatz, um der strukturellen Arbeitslosigkeit entgegen zu treten. Auch könnten Arbeitszeitverkürzungen teilweise, insbesondere quantitativ die Belastungen durch die Arbeitsverdichtungen kompensieren. Mit dem Verzicht auf einen vollständigen Lohnausgleich würde praktisch anerkannt werden, dass die gewerkschaftliche Kartellbildung nicht den Grad der Internationalität erreicht hat, der notwendig wäre, um einmal erreichte absolute Lohnstandards zu sichern.

(2) Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Selbst wenn die Rechtsformen innerhalb eines Betriebes fragmentiert sind bzw. dies noch weiter zunimmt, könnte so zumindest eine weitere Fragmentierung des Reproduktionsniveaus gebremst werden. Die reale Etablierung eines solchen Standards wäre die Voraussetzung, um zukünftig ein einheitliches und rechtlich abgesichertes Arbeitsverhältnis für alle Beschäftigten durchzusetzen und so beispielsweise Scheinselbständigkeit oder Leiharbeit entgegen zu wirken.

(3) Brancheninterne und -übergreifende Lohnangleichung: Nur so entsteht ein relativer Schutz gegen die Prekarisierung einzelner Arbeitsbereiche oder ganzer Branchen. Damit könnte auch der Lohnabstand von Arbeitssegmenten, die von einem überdurchschnittlichen Frauen- oder MigrantInnenanteil geprägt sind, im Verhältnis zu den Kernbelegschaften verringert werden.

(4) Einführung eines deutschen bzw. europäischen Mindestlohnes: Dieser würde einer weiteren Reproletarisierung entgegen wirken, indem existenzsichernde Löhne gezahlt werden. Ein europäischer Mindestlohn würde insoweit auch dem Absenkungswettbewerb eine untere Grenze setzen. Ob Mindestlöhne dazu führen würden, dass Tarifgehälter in dessen Richtung abgesenkt werden könnten, hängt von der Kampfkraft in der jeweiligen Branche ab.

(5) Steuer- und Abgabenbefreiung der unteren Lohngruppen bei voller Integration in die Sozialsysteme: Umfasst wären alle Lohngruppen, die nicht zwei Drittel des gesellschaftlichen Durchschnittslohnes erreichen. Die Deckungslücke im Vergleich mit dem bisherigen System könnte steuerfinanziert werden. Dies würde der Verarmung in Arbeit entgegen wirken und insbesondere Schwarzarbeit und die damit einhergehende Vereinzelung und Abhängigkeit unattraktiver machen.

(7) Ein Minimum an Internationalisierung der gewerkschaftlichen Organisierung: Durch eine länderübergreifende Koppelung der heimischen Löhne an die Inflationsrate und das Produktivitätswachstum könnte insbesondere für die tariflich gesicherten Lohnsektoren dazu beigetragen werden, einem Abwertungswettbewerb zu verhindern.

(8) Einführung eines Bürgergeldes in einer Höhe, welche die volle gesellschaftliche Teilhabe erlaubt: Die Höhe müsste sich mindestens auf 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens (Armutskriterium) belaufen. Damit wäre im Ansatz eine Bekämpfung der Verarmungstendenzen durch die langjährige reale Absenkung der Sozialhilfe und die Einführung des Arbeitslosengeldes II auf Höhe der Sozialhilfe möglich. So könnte auch der allgemeinen gesellschaftspolitischen Depression durch einen drohenden sozialen Abstieg begegnet werden.

(9) Rechtliche Gleichstellung aller Bewohner der Bundesrepublik: Die rechtliche Differenzierung bzw. Ungleichbehandlung von Einheimischen und Einwanderern ist eine wesentliche Voraussetzung für die Aufrechterhaltung prekarisierter Arbeitsverhältnisse.

(11) Kostenfreie flächen- und bedarfsgerechte Kinderbetreuung: Da die Kinderbetreuung immer noch im Wesentlichen von Frauen geleistet wird, haben diese nur dann die Möglichkeit, sich voll in die Lohnarbeit zu integrieren, wenn von Geburt an in vollem Umfang, einschließlich hinreichender zeitlicher Flexibilität, eine öffentliche Kinderbetreuung gewährleistet wird. Sie sollte kostenfrei sein, da Familien bzw. Alleinerziehende auch so einen überdurchschnittlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion leisten.

(12) Eine politische Orientierung, die über eine betriebliche und gewerkschaftliche Perspektive hinausreicht: Dies würde in der Absicht geschehen, tarifvertraglichen Regelungen wieder mehr Gewicht zu geben, die Sozialpolitik außerhalb des Betriebes in den Blick zu nehmen und die Internationalisierung voran zu treiben. Mit einem solchen Handlungsansatz würde die Perspektive eröffnet, die strukturelle Defensive hinter sich zu lassen und gesamtgesellschaftliche Gestaltungsmacht zurückzugewinnen.

Diese Forderungen gehen teilweise über die unmittelbare Selbstorganisierung der Beschäftigten hinaus und berühren zentrale Felder der Sozialpolitik. Fortschritte in diesen Bereichen sind notwendig, um der Fragmentierung der ArbeiterInnen des Kapitals Einhalt zu gebieten und die Kartellbildung aller LohnarbeiterInnen zu befördern. Die einzelnen Ziele sind nur als relative und nicht als absolute zu verstehen. Sie müssten jedoch in der Gesamtheit verfolgt werden, damit sie in wechselseitiger Absicherung eine Wirkungsmacht entfalten können.

Trotz des möglicherweise berechtigten oder auch unberechtigten Vorwurfs einer übermäßigen Bürokratisierung sind die Gewerkschaften in der Bundesrepublik Ausdruck der Organisationsinteressen der Kernbelegschaften. Man kann strukturell nicht mehr von ihnen erwarten bzw. fordern als ihnen ihre Basis möglich macht. Ob der vorgestellte Zielkatalog, der darauf abzielt, der Reproletarisierung bzw. Prekarisierung entgegenzutreten, von den Gewerkschaften insgesamt oder zu nennenswerten Teilen als sinnvoll und notwendig angesehen werden würde, ist offen. Mithin ist eine wirkliche Vertiefung dieser Auseinandersetzungen nur zu erwarten, wenn auch eine weitergehende Selbstorganisierung in den prekarisierten Bereichen beginnt. Ob diese innerhalb oder in Anlehnung an die bestehenden gewerkschaftlichen Strukturen entsteht oder einen Organisationsaufbau außerhalb der etablierten gewerkschaftlichen Kartelle voraussetzt – und damit tendenziell auch gegen sie – ist noch ungewiss.

[1] Vgl. Ben Diettrich, Klassenfragmentierung im Postfordismus. Geschlecht - Arbeit - Rassismus - Marginalisierung, Münster 1999.