Sozialismus im Zeitalter Mao Zedongs
Der chinesische Sozialismus vor Beginn von Reform und Öffnung gehörte in allen grundlegenden Bereichen wie den theoretischen Auffassungen und den Besonderheiten der gesellschaftlichen Organisation zum Sozialismus zentraler Machtkonzentration, der sich vom sowjetischen Modell nicht grundlegend unterschied. Natürlich war er keine vollständige Übernahme oder Kopie des sowjetischen Modells. Die Machtkonzentration wies chinesische Besonderheiten auf, die einerseits auf die besondere Lage des noch rückständigeren Agrarlandes des Ostens zurückzuführen und andererseits dem persönlichen Charakter Mao Zedongs geschuldet waren. ...
Das Merkmal beider Sozialismusmodelle war ein System zentraler Machtkonzentration. Das Eigentum an Produktionsmitteln und die Macht auf allen anderen Gebieten wurde so weit wie möglich in den Händen des Staates[1] konzentriert. Zugleich wurde eine äußerst strenge Plankontrolle durchgesetzt. Man war bestrebt, diese Kontrolle bis auf die innersten Gedanken der Persönlichkeit auszudehnen. ...
Im System der zentralen Planwirtschaft wurden Tempo und Qualität betont, Effektivität und Qualität jedoch vernachlässigt. Vor allem wurde die Schwerindustrie auf den ersten Platz gestellt. Leichtindustrie und Landwirtschaft, die für das Leben des Volkes von grundsätzlicher Bedeutung sind, wurden hintangestellt. Das war nicht nur eine ökonomische Entwicklungsstrategie, sondern widerspiegelte auch ein grundlegendes Verständnis des Sozialismus. ...
Ständig gab es neue politische Säuberungen, um die in der Gesellschaft vorhandenen Widersprüche zu „lösen“. Stalin verkündete dazu bereits Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre seine Ansicht, dass sich der Klassenkampf in der Gesellschaft immer mehr zuspitzen werde. Unter Mao Zedong erreichte diese Ansicht in den 1960er Jahren ihren Gipfelpunkt. Er war der Meinung, dass der Klassenkampf in der gesamten Zeit vom Kapitalismus bis zum Kommunismus existiere. ... Weder Stalin noch Mao Zedong repräsentierten den Gedanken der klassischen marxistischen Lehre von der „Assoziation freier Menschen“. ...
Zusammenfassend ist festzustellen, dass mit der Verwirklichung des sowjetischen Modells alle Merkmale dieses Modells und seine Auswirkungen in China zu Tage treten mussten. Offensichtlich ist durch die Erfahrungen der Sowjetunion und Chinas bereits bewiesen, dass das System der zentralen Machtkonzentration es in einem Sozialismus des Übergangs nicht ermöglicht, sich die materiellen und geistigen Ergebnisse des Fortschritts der Menschheit anzueignen, die Grundrechte des Volkes praktisch zu garantieren und das Grundproblem der „Assoziation freier Menschen“ auf den Weg zu bringen.
Sozialismus seit Beginn der Reform und Öffnung
Die Reform und Öffnung unseres Landes sind heute bereits über 20 Jahre alt. Sie sind wirklich eine gesellschaftliche[2] Revolution im eigentlichen Sinne des Wortes. Die gesellschaftlichen Veränderungen in diesem Zeitabschnitt sind größer und tiefgehender als in jeder beliebigen Zeit zuvor. Von der langfristigen Entwicklung der Weltgeschichte her gesehen hat dieser Prozess jedoch gerade erst begonnen, und es ist daher noch zu früh, seinen geschichtlichen Platz im Prozess der Evolution des Sozialismus insgesamt zu verallgemeinern. Deshalb können die hier vorliegenden wissenschaftlichen Abhandlungen auch nur einen vorläufigen Charakter haben. ...
Worin sind nun die grundlegenden Besonderheiten der Theorie Deng Xiaopings zu sehen? Aus meiner Sicht bestehen sie in der Befreiung der Gedanken und der Suche nach der Wahrheit in den Tatsachen, wie sie Deng Xiaoping vertreten hat. Als Mensch war Deng Xiaoping keinesfalls ein Theoretiker im allgemeinen Sinne, der sich in der Studierstube speziell mit abstraktem theoretischem Denken befasste. Seine Methode zu denken hatte ihre eigenen klaren Besonderheiten. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die gegebene praktische Situation und die praktischen Erfordernisse. ... Er besaß eine hohe politische Sensibilität und einen hochgradigen Realismus. Seine erste Forderung an die Theorie war, dass sie „etwas bringen muss“. Für ihn hatte die verfügbare Theorie der Praxis zu dienen, sonst hielt er sie für völlig nutzlos. Seine bekannten und weit verbreiteten Aussprüche wie „gleich, ob schwarze oder weiße Katze, nur die Katze, die Mäuse fängt, ist eine gute Katze“ und „sich von Stein zu Stein tastend den Fluss überqueren“ sind sehr gute Beispiele, die deutlich die Besonderheiten seines Denkens widerspiegeln. ...
Insgesamt haben Reform und Öffnung bewirkt, dass unser Land in eine völlig neue Zeit eingetreten ist. Die chinesische Reform und Öffnung bilden eine Bewegung der allmählichen Selbsterneuerung, die von der Regierungspartei und der politischen Führung initiiert wurde und von oben nach unten geht. Die entscheidende anfängliche Schubkraft kam von oben. …
Diese Selbstumgestaltung von oben nach unten wurde anfänglich auch in der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern durchgeführt. China hat hier nicht den Anfang gemacht. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass dieser Umgestaltungsprozess in unserem Lande viel weiter und tiefer geht als damals in der Sowjetunion und in Osteuropa. Die Einführung der Marktwirtschaft in China ist viel radikaler, und der Sturm auf die Planwirtschaft geht tiefer. So konnte eine Tendenz des objektiven Fortschritts geschaffen werden. Marktwirtschaft hat ihre feste innere Logik. Gleich, was die Menschen subjektiv denken, sobald sie auf den Weg gebracht ist, will sich die von Natur aus universelle und globale Marktwirtschaft unvermeidlich und unaufhaltsam selbst verwirklichen und in jeden Winkel des gesellschaftlichen Lebens allseitig und tief eindringen, bis sie mit dem Weltmarkt direkt und gründlich zu einer Einheit verschmolzen ist. Das ist die tiefere Ursache, weshalb mit der immer weiter gehenden Reform und Öffnung unsers Landes die „Planwirtschaft“ schließlich durch die „sozialistische Marktwirtschaft“ ersetzt werden wird, obwohl dieser Prozess ständig auf die verschiedenen Hemmnisse stößt. ...
Grenzen des Systems zentraler Machtkonzentration
Der Fortschritt in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft Chinas ist nicht zu bezweifeln. Die theoretische Frage, der wir uns jetzt gegenübersehen, ist: Wie sieht es denn aus, wenn wir das alles auf die Waage des Sozialismus legen? Welche Bewertung können wir denn vornehmen? Es ist bekannt, dass Chinas Reform und Öffnung innerhalb und außerhalb Chinas die unterschiedlichsten Bewertungen erfahren. ... Den Veröffentlichungen der Ideologieabteilungen unseres Landes mangelt es häufig an theoretischer Gründlichkeit und an offener Sicht auf die Realitäten. Daher entfalten sie in der Bevölkerung wenig Einfluss und Überzeugungskraft. ... Ein wissenschaftliches Vorgehen erfordert nach wie vor, die Methode des historischen Materialismus auf die Analyse der gesellschaftlichen Probleme und Prozesse anzuwenden. Das verlangt zu allererst, die Fakten mutig anzuerkennen, um auf dieser Grundlage die Reform Chinas in den Gesamtprozess der Entwicklung der Geschichte des Weltsozialismus einzuordnen und sie zu begreifen. ...
Geschichtlich sind Reform und Öffnung Chinas das Ergebnis einer langen Evolution des Weltsozialismus. ... Die sozialistische Revolution in den rückständigen Ländern des Ostens hat ihren historischen Hintergrund, ihre historische Zwangsläufigkeit und ihre historische Berechtigung. Von der reinen Theorie her gesehen übertrifft sie jedoch bei weitem das im klassischen Marxismus Vorgegebene. Die Ursachen, Voraussetzungen und die Kräftekonstellationen dieser Revolution entsprachen bei weitem nicht den Gedanken von Marx und Engels, und ihre Ergebnisse unterschieden sich außerordentlich von den Vorhersagen in der Lehre von Marx. Der Sozialismus von der Sowjetunion über Osteuropa bis zum China vor der Reform und Öffnung hatte den Weg eines Sozialismus mit zentraler Machtkonzentration beschritten. Dieser Sozialismus erreichte natürlich in einer bestimmten Zeit gewichtige Erfolge. Die grundlegenden Forderungen der Lehre von Marx vermochte er jedoch nicht zu verkörpern und auch nicht sehr lange der historischen Fortschrittsentwicklung zu entsprechen. Wenn er sich nicht selbst erfolgreich umgestalten kann und seine engen Grenzen verlässt, dann wird er am Ende zu einem Sozialismus, der - wie Engels vorhersagte - „den Kopf verliert“’ und „reaktionär“ wird. Die Selbstauflösung der Sowjetunion und sozialistischen Systeme Osteuropas ist dafür ein klares historisches Beispiel. ...
Wenn der politische Machtapparat innerhalb eines Systems der zentralen Machtkonzentration kluge Reformbeschlüsse fasst, so können diese allein letztlich nichts ausrichten. Nur wenn eine objektive Kraft geschaffen wird, die bewirkt, dass der gesellschaftliche Fortschritt nicht erneut von der Politik einer Minderheit abhängt, sondern von dem inneren Mechanismus der gesellschaftlichen Gruppen bestimmt wird, kann man davon sprechen, dass die Reform die Grenze des traditionellen Systems des „realen Sozialismus“ sowjetischer Art überschreiten kann. Dann erst ist es möglich, dass ein selbstständiger und vom Volk selbst vorangebrachter Sozialismus die materiellen Bedingungen dafür schafft und den Weg öffnet. Erst dann kann der Sozialismus wirklich zur Sache der breiten Masse des Volkes werden. Die Marktwirtschaft, die durch Reform und Öffnung in China seit 20 Jahren errichtet wird, hat begonnen, die Voraussetzungen für diese Entwicklung zu schaffen. ...
Warenwirtschaft als historisch übergreifende Kategorie
Es ist richtig, nach der Analyse von Marx und Engels führt die Marktwirtschaft unvermeidlich zu einer sozialen Differenzierung. Wenn sich die einfache Form der Warenwirtschaft zur höheren Form entwickelt, dann bewirkt das natürlich ein Aufkommen des Kapitalismus. Marx und Engels meinten, dies sei ein allgemeines Gesetz der Warenproduktion. Diese Analyse hat ihre Gültigkeit nicht eingebüßt. Obwohl unsere Marktwirtschaft eine „sozialistische Marktwirtschaft“ ist, hat sie in den vergangenen über 20 Jahren im entsprechenden Grade und Rahmen auch zu einer sozialen Differenzierung[3] geführt, hat neue ökonomische Kräfte und neue soziale Schichten geschaffen und die relative Gleichheit aus der Zeit der früheren Planwirtschaft auf der Grundlage der Armut beseitigt. Das hat die „alten Linken“[4] gerade auf diesem Gebiet heftig aufgebracht. Sie halten sich selbst für die reinsten Marxisten. Das Verschwinden ihres „Sozialismus“ schmerzt sie sehr. Sie haben jedoch vergessen, dass die Analyse der Warenwirtschaft durch Marx und Engels auf der Methode des historischen Materialismus beruht. Nach dieser Methode ist die Warenwirtschaft eine historische Kategorie, die mit dem Fortschritt der Menschheit eine große Rolle zu spielen begann. Sie förderte die gesellschaftliche Arbeitsteilung, brachte die Entwicklung der Produktivkräfte voran, löste den Feudalismus und die autokratische Herrschaft auf und schuf die materiellen Bedingungen für die allgemeine Befreiung. Es heißt, dass es im künftigen Sozialismus nach Marx und Engels keinen Platz für die Warenwirtschaft geben wird. Marx und Engels meinten, der Kapitalismus hätte sich bereits zu einer solchen Höhe entwickelt, dass die historische Aufgabe der Warenwirtschaft bereits erfüllt und die bewusste Regulierung der Produktion durch die Mitglieder der gesellschaftlichen Arbeit für die Produktivkräfte nun günstiger wäre. Wenn es aber heißt, dass wir uns im heutigen Wirtschaftsleben keineswegs auf einer solchen historischen Höhe befinden, welchen freundschaftlichen Rat würden uns Marx und Engels dann geben? Definitiv und ohne Zweifel würden sie antworten: Wendet keine Moralprinzipien an, betrachtet die Warenwirtschaft vielmehr unter dem Gesichtspunkt des historischen Materialismus, dort verbirgt sich der Weg zum Ideal der Menschheit.
Was konkret unsere Realität betrifft, so hat die Warenwirtschaft das frühere System der zentralen Machtkonzentration und der Planwirtschaft nebst ihrer Ideologie in allen Bereichen der Gesellschaft bereits zersetzt. ... Ist das nicht ein begrüßenswerter Fortschritt? Der Sozialismus ist nicht etwas, das irgendjemand projektiert hat, sondern das Ergebnis einer objektiven historischen Tendenz in der Entwicklung der Bürgergesellschaft und der Warenwirtschaft der Neuzeit. Entspricht diese Vorstellung nicht mehr dem Vorausdenken von Marx? Ist das nicht günstiger für die Gesellschaft und das Volk? Wir sollten die historische Berechtigung für das Entstehen des „realen Sozialismus“ in der Vergangenheit nicht negieren, aber auch nicht seine riesigen Mängel. ...
Natürlich ist China derzeit noch weit davon entfernt, eine vollkommene Marktwirtschaft aufgebaut zu haben. ... Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Waren sind natürliche politische Gleichmacher. Die Entwicklung der Warenwirtschaft muss in Einheit mit einer demokratischen Politik erfolgen. Das Wesen des traditionellen Systems der zentralen Machtkonzentration steht dem jedoch genau entgegen. Das ist ein großes Problem. Wenn es nicht entsprechend gelöst wird, dann wird sich die Marktwirtschaft in eine neue Missgestalt verwandeln.
Gefahr kapitalistischer Machtkonzentration
Die Konzentration von Macht und die Verbindung von Macht und Geld sind in nicht wenigen Regionen des Landes sehr ausgeprägt. In starkem Maße bildet sich eine Tendenz des „Kapitalismus der Mächtigen“ heraus. Dieses Problem zieht wachsende Aufmerksamkeit auf sich. Das ist eine außerordentlich ernste Bedrohung für die Grundrechte des Volkes, für eine gesunde Entwicklung der Marktwirtschaft und zugleich für die künftige gesellschaftliche Entwicklung. ... Die Ursache dafür liegt nicht in der Marktwirtschaft selbst, sondern darin, dass die Umgestaltung des politischen Systems, das ursprünglich vom Machtmonopol geprägt war, nicht weitreichend genug war. Das hat dazu geführt, dass die unkontrollierte absolute Macht in die Marktwirtschaft eingedrungen ist, sie kontrolliert und das Marktwirtschaftsprinzip der Freiheit und Fairness untergräbt. Deshalb ist der grundlegende Weg zur Lösung dieses Problems nicht die Rückkehr zum traditionellen Gesellschaftssystem, sondern wie weitere Errichtung eines politischen Systems, das den Erfordernissen der Marktwirtschaft entspricht. ...
Da die Entwicklung der Marktwirtschaft unzureichend ist, kann die chinesische Gesellschaft derzeit noch keine entfaltete Demokratie hervorbringen. In unserer Wirklichkeit existieren noch verschiedenste Hindernisse gegen die politische Demokratisierung. Dazu gehören beispielsweise bestimmte Personen, die Nutznießer der Macht sind, sich vor der Demokratie fürchten und sich gegen sie wenden. Ferner eine allgemeine Gleichgültigkeit, Antipathie und Entfremdung in der Psyche der breiten Massen gegenüber der Politik nach den wiederholten politischen Turbulenzen der letzten Jahrzehnte, eine Distanz zur Demokratie, ein Schwärmen für „die Politik des Weisen“ und für die „Kultur des sauberen Beamten“, wie sie in der chinesischen Tradition zu finden sind. ...
Künftig müssen wir das System der autokratischen Macht, das in Stalinscher Art unter der Fahne des Sozialismus die Demokratie ausschaltet, gründlich zerschlagen. Wir dürfen uns aber auch nicht nur mit einer „formalen Demokratie“ westlicher Art zufrieden geben. ... Was wir brauchen, ist eine Macht, die nach Marx wirklich von der breiten Masse des Volkes ausgeübt wird und die garantiert, dass die Masse des Volkes nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich und sozial über das vollständige Recht der eigenen Entscheidung verfügen kann. Ich meine, erst das entspricht den Interessen der großen Masse des Volkes und der zu wählenden Richtung für die historische Entwicklung. ...
Natürlich kommen wird nicht um die Einsicht herum, dass die Verwirklichung eines Sozialismus der hoch entwickelten Demokratie, wie ihn Marx vertreten hat, für uns hier noch eine außerordentlich schwierige Aufgabe ist. Nach Ansicht von Marx ist dieser Sozialismus eine ideale Gesellschaft, in der die Mitglieder der gesellschaftliche Arbeit kollektiv über die Produktionsmittel verfügen und eine hohe Stufe der demokratischen Autonomie verwirklichen, um die Freiheit des Einzelnen umfassend entwickeln zu können. Nach Marx ist dieser Sozialismus zugleich die künftige Realität, die sich aus der inneren Logik der kapitalistischen Entwicklung ergibt. Um dieses Ideal zu verwirklichen, müssen wir die realen Verhältnisse und die ihnen innewohnenden Tendenzen ernsthaft und objektiv untersuchen und daraus ein eigenes fundiertes und realistisches Entwicklungskonzept ableiten.
Marktwirtschaft und Demokratisierung
Welche Aufgaben sollten es denn sein, mit denen sich die Sozialisten bei der Verwirklichung des Ideals zu befassen hätten? Zuerst sollten sie das Wesen der Demokratie im Sozialismus bei Marx tiefgehend untersuchen und es wirklich begreifen, um dann alle Möglichkeiten zu nutzen, es zu propagieren, damit unser Volk über das Wesen dieser Lehre Bescheid weiß. Der Marxismus ist zwar die offizielle Ideologie in unserem Lande, durch den Einfluss des politischen Pragmatismus nimmt er jedoch im allgemeinen Bewusstsein eine entstellte Form an. Uns fehlen bis heute selbstständige Forschungen und Überlegungen zum Marxismus und Sozialismus. Marxismus, Leninismus und Stalinismus werden von vielen Menschen seit jeher in einen Topf geworfen. Die Art, wie die theoretischen Ressourcen des Marxismus zur Entwicklung der Demokratisierung genutzt werden, kann bei weitem nicht zufrieden stellen. ...
Angesichts des Wachstums der Marktwirtschaft, die sich in unserem Lande in einem ursprünglichen und ungestümen Aufschwung befindet, dürfen wir nicht wie manche Menschen in Jubel ausbrechen. Wir können aber als Anhänger des historischen Materialismus darauf vertrauen, dass die Marktwirtschaft objektiv die notwendigen und unverzichtbaren materiellen und kulturellen Bedingungen für den künftigen Sozialismus schaffen wird; denn grundsätzlich gesehen mangelt es in unserem Lande durch die schwere Deformierung des traditionellen Sozialismus an jenen materiellen und kulturellen Bedingungen, die Marx vorgegeben hat.
Viele Wissenschaftler verneinen, dass es zwischen Marktwirtschaft und Demokratisierung eine Beziehung von Ursache und Wirkung gibt. Auch ich vertrete nicht die Meinung, dass die Marktwirtschaft auf „natürliche Weise“ eine politische Demokratie mit hervorbringen kann. Ich denke jedoch, dass die Marktwirtschaft durch die Verteilung der Ressourcen über den Markt die absolute Kontrolle seitens eines Systems der zentralen Machtkonzentration schwächt und den Einzelnen als Marktsubjekt stärkt. So wird allmählich das freie Bewusstsein des Einzelnen entwickelt und wird die Forderung nach politischer Demokratie lauter. Das ist nicht nur eine Vermutung, sondern ist auch bereits durch unsere wirtschaftliche Entwicklung bewiesen. ...
Insgesamt kann die Pluralisierung der Marktsubjekte und ihrer Interessen in einer sich entwickelnden Marktwirtschaft bewirken, dass die Gesellschaft gegenüber der politischen Macht selbstständig wird und Forderungen nach Demokratisierung aufkommen, denen nicht zu widerstehen ist. So wird sich allmählich von unten nach oben ein Prozess entwickeln, in dem sich politische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entfalten. In diesem Prozess werden die Bürger demokratische politische Praxis einüben, und ihre politische Allgemeinbildung wird sich entwickeln. Natürlich wird die Demokratie, die wir so erwarten können, noch nicht jene Demokratie nach dem Verständnis von Marx sein. Sie kann nur eine prozesshafte Demokratie sein. Das aber ist der notwendige Weg zu einer wirklichen sozialistischen Demokratie, die Marx vorausgesagt hat.
(Übersetzung: Helmut Peters)
[1] Wie so oft in der chinesischen Literatur bezieht sich der Begriff „Staat“ auch hier ausschließlich seine zentrale Ebene.
[2] Der Begriff „shehui“ kann sowohl mit „gesellschaftlich“ wie mit „sozial“ übersetzt werden.
[3] In der VR China ist es nicht nur zu einer sozialen Differenzierung, sondern innerhalb weniger Jahre sogar zu einer überaus ernsten sozialen Polarisierung gekommen (Anm. d. Übers.).
[4] Gemeint sind: Konservative maoistische Kräfte (Anm. d. Übers.).