Marx– Luxemburg – Keynes

Geld, Zins und Akkumulation

Rosa Luxemburgs Marx-Kritik und die Möglichkeit der Gewinnung von Einsichten aus ihren Denkfehlern

März 2006

Will man dem Stellenwert Rosa Luxemburgs in der marxistischen Diskussion gerecht werden, muss man sich mit dem ökonomischen Kern ihrer Auffassungen, der in ihrem theoretischen Hauptwerk „Die Akkumulation des Kapitals“ dargelegt ist, auseinandersetzen. Eine Beschäftigung mit den Auffassungen Rosa Luxemburgs wurde in Z bereits angerissen.[1] Sie soll hier durch die Einbeziehung des ökonomischen Aspekts ergänzt werden. Wir werden sehen, dass die von Rosa Luxemburg aufgeworfenen Fragen bezüglich der Marxschen Theorie durchaus weiter gefasst sind und über ihre Imperialismusanalyse hinaus grundsätzliche Aspekte der Kapitalverwertung betreffen.

Luxemburgs Kritik

Rosa Luxemburg versucht, den Mechanismus der Akkumulation nachzuvollziehen, wie er bei Marx in Band II des „Kapital“ dargestellt ist. „Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive geschichtliche Schranke mit genügender Klarheit darzustellen. Bei näherem Zusehen kam ich zu der Ansicht, daß hier nicht bloß eine Frage der Darstellung, sondern auch ein Problem vorliegt, das theoretisch mit dem Inhalt des II. Bandes des Marxschen ‚Kapital’ im Zusammenhang steht und zugleich in die Praxis der heutigen imperialistischen Politik wie deren ökonomische Wurzeln eingreift.“[2]

Sie kommt zu dem Schluss, dass Marx eine befriedigende Darstellung der Akkumulation nicht geleistet hat. Sie wertet das als Bestätigung ihrer Auffassung von Akkumulation, die ich folgendermaßen zusammenfasse:

Nach einem Zyklus der erweiterten Reproduktion liegt der geschaffene Mehrwert für die einzelnen Kapitalisten zunächst in Form des Mehrprodukts vor. Eine Realisierung – was die Gesamtheit dieses Mehrwerts betrifft – ist damit zunächst nicht möglich, da alle verkaufen und nicht kaufen wollen. Die Abnehmer müssen daher außerhalb der kapitalistisch produzierenden Bereiche der Gesellschaft gefunden werden, was natürlich nur möglich ist, wenn diese überhaupt noch vorhanden sind. Der Prozess der erweiterten kapitalistischen Akkumulation ist aus dem Kapitalverhältnis allein heraus logisch nicht zu erklären. Erweiterte Akkumulation ist für das Kapital nur solange möglich, wie das Kapitalverhältnis noch nicht alle gesellschaftlichen Sphären durchdrungen hat, der Kapitalismus sich also noch in einem Stadium befindet, in dem noch Bereiche existieren, in denen nicht kapitalistisch produziert wird und in die das Kapital vordringen kann. Erst mit der sukzessiven Einverleibung der in diesen Bereichen vorhandenen Wertmasse durch das Kapital ist nach Rosa Luxemburgs Auffassung die notwendige Bedingung für die erweiterte Akkumulation erfüllt, so dass diese auch real stattfinden kann. Vor diesem ökonomischen Hintergrund muss das Stadium des Imperialismus betrachtet werden, der damit im Kampf der verschiedenen konkurrierenden nationalen Kapitale um die Aufteilung dieser noch vorhandenen Wertmasse besteht. Der Akkumulationsprozess entzieht sich damit sukzessive seine notwendige Voraussetzung und muss von der Tendenz her seinen Stillstand herbeiführen.

Die Darstellung bei Marx

Die Darstellung von Marx, auf die sich Rosa Luxemburg bezieht, findet sich im letzten, 21. Kapitel von Band II des „Kapital“, der nach dem Marxschen Manuskript von Engels herausgegeben wurde.[3] In dem Kapitel „Akkumulation und erweiterte Reproduktion“ benennt Marx zunächst, wie der Akkumulationsprozess nicht gefasst werden darf: „Stellte man sich den Zirkulationsprozeß zwischen den verschiednen Teilen der jährlichen Reproduktion als in gerader Linie verlaufend vor [...], so müßte man mit dem Gold- (resp. Silber-)Produzenten beginnen, der kauft, ohne zu verkaufen, und voraussetzen, daß alle andren an ihn verkaufen. Dann ginge das gesamte jährliche gesellschaftliche Mehrprodukt (der Träger des gesamten Mehrwerts) an ihn über, und sämtliche andre Kapitalisten verteilen pro rata unter sich sein von Natur in Geld existierendes Mehrprodukt, die Naturvergoldung seines Mehrwerts; denn der Teil des Produkts des Goldproduzenten, der sein fungierendes Kapital zu ersetzen hat, ist schon gebunden und darüber verfügt.“ Der Mehrwert des Goldproduzenten müsste damit der Wertgröße nach dem gesamten anderen gesellschaftlichen Mehrwert gleich sein, eine „abschmackt(e)“ Voraussetzung[4].

Zur Lösung dieser Schwierigkeit, die er als „scheinbare“ bezeichnet, nimmt Marx folgende Unterteilung vor: Abteilung I – Produktion von Produktionsmitteln, Abteilung II – Produktion von Konsumtionsmitteln. Geht man von einfacher Reproduktion aus, so muss Abteilung I neben ihrem eigenen im Produktionsprozess verbrauchten Kapital Ic auch noch das von Abteilung II verbrauchte Kapital IIc ersetzen. Umgekehrt muss Abteilung II neben ihrem eigenen variablen Kapital IIv auch noch das verbrauchte variable Kapital Iv von Abteilung I ersetzen, sowie die Revenue für die Kapitalisten bereitstellen. Es liegt einfache Reproduktion vor.

Geht man nun davon aus, dass in den beiden Abteilungen zusätzlich zu dem Mehrprodukt, das als Revenue von den Kapitalisten selbst konsumiert wird, noch ein weiteres Mehrprodukt Im und IIm anfällt, so könnte man sich Akkumulation auf zwei verschiedene Weisen denken:

1. Kapitalisten A, A', A'', ... in Abteilung I verkaufen ihr in Form von Produktionsmitteln vorliegendes Mehrprodukt an Kapitalisten B, B', B'', ... aus derselben Abteilung. Sie entziehen damit dem Zirkulationsprozess Geld und schatzen es auf. Das von den Kapitalisten B stammende Geld ist an die Kapitalisten A übergegangen, die nun zu Kapitalisten B geworden sind. Damit kann die gesamte Abteilung sukzessive immer mehr Produktionsmittel akkumulieren. Es läge somit jedoch eine reine Anhäufung materieller Güter vor, für die keine Verwertungsmöglichkeit besteht, die somit nicht als Kapital fungieren könnten. Wir haben es also gar nicht mit kapitalistischer Akkumulation zu tun, es sei denn, einige Kapitalisten B hätten eine zusätzliche Geldmenge zur Verfügung, die vorher in der Zirkulation nicht vorhanden war, und die, in den Austauschprozess hineingeworfen und sukzessive zwischen A und B wandernd, Produktion auf höherer Stufe ermöglichen könnte.

2. Abeilung II kauft einen Teil des Mehrprodukts von I. Hier wird also dem Zirkulationsprozess von Abteilung I als ganzer Geld entzogen. Dieses nun in I zusätzlich vorhandene Geld könnte dann nach dem oben dargestellten Mechanismus in der gesamten Abteilung eine Akkumulation ermöglichen. Von der Abteilung als ganzer gesehen findet damit auch hier eine Aufschatzung statt, vorausgesetzt, das an I übergegangene Geld fließt nicht wieder an II zurück (durch Erhöhung des variablen Kapitals von I), denn sonst hätten wir es wieder nur mit einfacher Reproduktion zu tun. Das Geld muss also dem Zirkulationsprozess dauerhaft zur Schatzbildung entzogen werden. Damit kann sich aber das von II zusätzlich von I erworbene konstante Kapital bei II nicht mehr verwerten, und es herrscht Überproduktion in II. Auch hier muss also eine über die bestehende Zirkulation zusätzlich vohandene Geldmenge vorausgesetzt werden.

Wir sehen hier, dass der von der Ausgangssituation der einfachen Reproduktion ausgehende Versuch der Akkumulation nicht nur nicht erfolgreich ist, sondern diese einfache Reproduktion selbst hemmt. Es muss also erweiterte Reproduktion stattfinden, die nicht einfach darin besteht, dass Geld bzw. Waren irgendwo aufgehäuft werden. Es muss tatsächlich eine Reproduktion auf höherer Stufe stattfinden, wozu nach Marx erforderlich ist:

1. Es müssen eine gewisse Geldmenge und eine gewisse Menge an Produktionsmitteln aufgeschatzt werden. Marx nennt dies virtuelles Geld- bzw. virtuelles produktives Kapital.

2. Im nächsten Zyklus müssen diese Mengen Tauschpartner finden, wobei das Geld innerhalb des Zyklus’ mehrfach den Besitzer wechseln muss, damit insgesamt mehr produktives als Geldkapital sich verwerten kann. Damit ist die eingangs von Marx als „scheinbare“ bezeichnete Schwierigkeit gelöst. Dies wird allerdings in den in Band II veröffentlichten Ausführungen von Marx nicht mehr erwähnt, worauf – wie wir noch sehen werden – schon einmal ein wesentlicher Teil der Missverständnisse von Rosa Luxemburg beruht.

Marx geht dem unter 2. genannten Prozess anhand von zwei Beispielen sehr detailliert und viele Nebenaspekte berücksichtigend nach. Der Nachvollzug ist für den Leser ermüdend – vielleicht mit ein Grund, warum dieser Teil gern umgangen wird. Rosa Luxemburg hat sich die Mühe gemacht und bemerkt entnervt: „Man sieht, die Lösung, nicht die Schwierigkeit war hier eine scheinbare und Marx kehrt selbst im nächsten Augenblick zu der Frage zurück, wo denn die B, B', B'' das Geld hernehmen, um den A, A', A'' ihr Mehrprodukt abzukaufen.“ (S. 100)

Die Schwierigkeit, innerhalb der Abteilung I eine erweiterte Reproduktion zu ermöglichen und dafür die genannte Voraussetzung 1. zu erfüllen, wird von Marx selbst formuliert: „ ... fragt sich, wo kommt das zu dem Zirkulationsprozess nötige Geld her?“[5] Und zu der Möglichkeit, dass I über II akkumuliert, führt er aus: „II muss [...] mit barem Geld kaufen, ohne dass dies Geld zu ihm zurückflösse durch nachfolgenden Verkauf seiner Ware an I. Und zwar ist dies ein beständig, bei jeder jährlichen Neuproduktion, soweit sie Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter, sich wiederholender Prozess. Wo springt dafür die Geldquelle in II?“[6]

Rosa Luxemburgs Schlussfolgerungen

Rosa Luxemburg benennt in aller Schärfe, dass Marx die Frage nach der Herkunft der zusätzlichen Geldmenge nicht beantwortet. Erst ganz am Ende unter der Überschrift „Nachträgliches“ findet sich bei Marx völlig unvermittelt die Bemerkung „Die ursprüngliche Geldquelle für II ist v m der Goldproduktion I ...“[7]. Luxemburg: „So sind wir, nachdem alle möglichen Versuche zur Erklärung der Akkumulation fehlgeschlagen sind, nachdem wir von Pontius zu Pilatus, von A I zu B I, von B I zu B II herumgeschickt worden sind, schließlich bei demselben Goldproduzenten angelangt, dessen Heranziehung Marx gleich zu Beginn seiner Analyse als 'abgeschmackt' bezeichnet hatte.“ (S. 107)

Ausgangspunkt von Rosa Luxemburgs Begründung der logischen Unmöglichkeit der Akkumulation von Kapital aus der kapitalistischen Produktion selbst heraus ist der Idealzustand einer Gesellschaft, die nur aus Kapitalisten und Arbeitern besteht. Nach Abschluss eines Produktionszyklus’ hat sich die gesamtgesellschaftlich vorhandene Wertmasse um den Mehrwert vergrößert, der auf der Seite des Kapitals in Form des materiellen Mehrprodukts vorliegt. Um jedoch als Profit realisiert werden zu können[8], muss dieses Mehrprodukt einen Wertausdruck in Geld finden, sprich: Es muss verkauft werden. „Der Mehrwert muß also unbedingt die Geldform passieren, er muß die Form des Mehrprodukts erst abstoßen, ehe er sie wieder zum Zwecke der Akkumulation annimmt.“ (S. 93) Woher sollen die Käufer kommen? Die Arbeiter können das Mehrprodukt nicht kaufen, da sie nur den Lohn zur Reproduktion ihrer eigenen Arbeitskraft erhalten. Könnten sie es kaufen, gäbe es gar keine Ausbeutung und folglich auch keinen Mehrwert. Die Kapitalisten können das Mehrprodukt aber ebensowenig kaufen, da sie alle auf ihrem jeweils individuellen Mehrprodukt sitzen und alle verkaufen, aber nicht kaufen wollen. Da sich Marx das Ziel gesetzt hatte, die Akkumulation innerhalb des Kapitalverwertungsprozesses selbst zu fassen, lehnt er die Flucht zu irgendwelchen „dritten Personen“ außerhalb der Kapitalisten- und Arbeiterklasse ab.

Nach Rosa Luxemburgs Auffassung litt die Marxsche Analyse darunter „. ... daß Marx das Problem unter der schiefen Form der Frage nach 'Geldquellen' zu beantworten suchte.“ (S. 107) „Es hat keinen ersichtlichen Zweck zu fragen: wo kommt das Geld her, um den Mehrwert zu realisieren? Sondern die Frage muß lauten: wo kommt die Nachfrage her, wo ist das zahlungsfähige Bedürfnis für den Mehrwert?“ (S. 115 f.) Rosa Luxemburg kommt damit zu dem Schluss – und damit ist der Kern ihrer ökonomischen Auffassungen benannt: „Der Kapitalismus bedarf zu seiner Existenz und Fortentwicklung nichtkapitalistischer Produktionsformen als seiner Umgebung.[...] Er braucht nichtkapitalistische soziale Schichten als Absatzmarkt für seinen Mehrwert.“ (S. 289) Damit erscheint der Militarismus „auch rein ökonomisch für das Kapital als ein Mittel ersten Ranges zur Realisierung des Mehrwerts, d. h. als ein Gebiet der Akkumulation.“ (S. 368)

In der Differenz zwischen Rosa Luxemburgs Darstellung der Akkumulation und dem Versuch von Marx wird die Differenz in der Auffassung des Reproduktionsprozesses selbst deutlich. Rosa Luxemburg: „So unterliegt es keinem Zweifel, daß Marx den Prozeß der Akkumulation in einer ausschließlich aus Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Gesellschaft darstellen wollte, unter allgemeiner und ausschließlicher Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise. Unter diesen Voraussetzungen läßt aber sein Schema keine andere Deutung zu, als die Produktion um der Produktion willen.“ (S. 257) Gerade diese „Produktion um der Produktion willen“ ist aber der Kern der Marxschen Sichtweise des Kapitals als „sich selbst verwertender Wert“, als naturgeschichtlicher Prozess, in dem die Menschheit immer noch mit einem Bein im Tierreich steckt, da sie den Prozess vollzieht, ohne dass sie selbst eine bewusste Kontrolle über ihn hat.

Der Versuch einer Lösung

Stimmen wir der Kritik Rosa Luxemburgs an der Marxschen Darstellung des Akkumulationsprozesses zu, ohne uns von der Marxschen Sichtweise des Kapitals als sich selbst verwertender Wert zu verabschieden, dann müssen wir diese Darstellung der Akkumulation vervollständigen.

Zunächst muss genannt werden, dass die Marxschen Aufzeichnungen, die Friedrich Engels von Marx’ Tochter Eleanor nach Marx’ Tode erhielt, ein unvollständiges Werk darstellten und mitten im Satz abbrachen. Engels sah sich der Aufgabe gegenübergestellt, aus diesen „etwas zu machen“.[9] In Marx’ Argumentation ist ein Bruch deutlich, auf den Rosa Luxemburg zu Recht hinweist. Die Einbeziehung des Goldproduzenten wird eingangs abgelehnt, am Ende wird sie völlig unvermittelt und im Rahmen einer eher nebensächlichen Betrachtung von Teilaspekten der Akkumulation als selbstverständlich vorausgesetzt. Es müssen hier Überlegungen von Marx stattgefunden haben, die in dem vorangegangenen Teil des Manuskripts nicht enthalten sind, zumal sich dieser Schlussabschnitt auch nicht auf die Analyse, die von Rosa Luxemburg betrachtet wurde, bezieht. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass die Einbeziehung des Goldproduzenten vor einem veränderten Hintergrund geschieht, zu dem der dafür notwendige Vermittlungsschritt bei der Darstellung fehlt. Das, was nämlich von Marx eingangs als „abgeschmackt“ bezeichnet wurde, ist nicht die Einbeziehung des Goldproduzenten an sich, wie Rosa Luxemburg meint, sondern die Vorstellung, das gesamte gesellschaftliche Mehrprodukt müsse mit dem Mehrprodukt an Gold übereinstimmen. Das würde nämlich tatsächlich bedeuten, dass im Rahmen des Austauschs des in Gold vorliegenden Mehrprodukts gegen das gesamte übrige Mehrprodukt einfach nur in den Abteilungen I und II überall Gold aufgeschatzt würde und gar keine erweiterte Reproduktion stattfände, außer beim Goldproduzenten selbst. Aber davon ist bei der Formulierung ganz am Ende des Kapitels überhaupt nicht die Rede. Hier wird die gesamte Goldproduktion angeführt.

Die Bedeutung der Goldproduktion für den Verwertungsprozess

Um die Logik des Verwertungsprozesses bei der erweiterten Reproduktion deutlicher darstellen zu können, setze ich der Einfachheit halber zunächst Geld mit Gold gleich. Worin besteht die Funktion des Goldproduzenten? So wie der Teil von I, der in Austausch mit Abteilung II tritt, stellt er dieser das notwendige Geldkapital zur Verfügung, mit der sie bei I Produktionsmittel erwerben kann. Tritt er Abteilung I gegenüber, kann diese anschließend bei II kaufen. Der Goldproduzent tritt also II wie ein Teil von I und I wie ein Teil von II gegenüber. Den jeweiligen Abteilungen ist es egal, an wen sie ihr Produkt verkaufen, genauso, wie nicht bezifferbar ist, welcher Teil ihres Produktes das Mehrprodukt darstellt. Betrachtet man den Prozess aber von der Sicht des Gesamtsystems aus, wird deutlich, dass die beiden Abteilungen sich wechselseitig immer nur das im jeweiligen Zyklus verbrauchte konstante bzw. variable Kapital ersetzen könnten. Erst das Einbringen von zusätzlichem Geldkapital in den Zirkulationsprozess bringt den Prozess der Verwertung des Mehrprodukts in Gang. Dazu ist es nicht einmal erforderlich, dass auf Seiten des Goldproduzenten selbst überhaupt ein Mehrprodukt vorliegt.

Die Abkoppelung der Geldausgabe vom Gold

Die vereinfachende Gleichsetzung von Geld und Gold war nicht nur zur deutlicheren Darstellung des Kerns des Akkumulationsprozesses hilfreich. Sie illustriert, wie der Verwertungsprozess selbst aus sich heraus die Notwendigkeit und Möglichkeit der Abkoppelung der Geldzirkulation von der unmittelbaren Goldproduktion hervorbringt. Wie wir im vorangegangenen Abschnitt sahen, ist es für den Prozess der Akkumulation gar nicht erforderlich, dass auf Seiten der Goldproduktion selbst ein Mehrprodukt vorliegt. Der entscheidende Impuls geht davon aus, dass überhaupt eine zusätzliche Goldmenge in die Zirkulation geworfen wird. Diese kann sich nur verwerten, wenn sie einem gesamtgesellschaftlich erzeugten Mehrprodukt gegenübertritt. Da der Tauschvorgang aber in kürzerer Zeit vonstatten geht als der gesamtgesellschaftliche Reproduktionszyklus, setzt diese nun mehrfach (von Pontius zu Pilatus) getauschte Goldmenge auch ein Mehrfaches ihres eigenen Wertes an Mehrprodukt in Bewegung, das nun als verwerteter Mehrwert akkumuliert werden kann.[10] Ginge man nur von der Erscheinungsebene aus, könnte man meinen, dass diese Goldmenge selbst der Motor des Verwertungsprozesses ist, da sie die Erzeugung von Mehrprodukt in den Abteilungen regelrecht provoziert. Diese Vorstellung wird von Marx zurückgewiesen: „Produktion auf großer Stufenleiter von zuschüssigem virtuellem Geldkapital [...] ist also nichts als Resultat und Ausdruck vielseitiger Produktion von virtuell zusätzlichem produktivem Kapital. [...] Bildung von zusätzlichem Geldkapital und Masse des in einem Lande befindlichen edlen Metalls stehn also in keiner ursächlichen Verbindung miteinander.“[11]

Ich interpretiere diese Formulierung so, dass nicht etwa jegliche Beziehung zwischen zusätzlichem Geldkapital und Goldmenge geleugnet wird, sondern dass ein Kausalzusammenhang ausgeschlossen wird. Damit sind wir einen Schritt weiter, denn wir können die Schwierigkeit einer Analyse der Akkumulation präziser formulieren. Marx legte besonderen Wert auf die Feststellung, dass reale Akkumulation nicht als Geldvermehrung gefasst werden darf: Das Mehrprodukt ist „in seiner Geldverpuppung – als Schatz und bloß sich nach und nach bildendes virtuelles Geldkapital – absolut unproduktiv, läuft dem Produktionsprozeß in dieser Form parallel, liegt aber außerhalb desselben. Es ist ein Bleigewicht (dead weight) der kapitalistischen Produktion.“[12] Bleigewicht hin oder her, das Einbringen von zusätzlichem Gold ist – wie wir oben sahen – nicht einfach die Ursache, aber doch eine unabdingbare Voraussetzung für den Akkumulationsvorgang in seiner Gesamtheit. Soll der eigentliche Akkumulationsvorgang ungestört verlaufen, muss die zuschüssige Goldmenge in einem bestimmten Verhältnis zu dem pro Zyklus erzeugten Mehrprodukt stehen. Verschiebt sich dieses Verhältnis unkontrolliert, bewirkt dies eine Verwerfung in den Wertverhältnissen. Marx hatte die besondere Rolle des Goldes begründet: „Wertmaß ist das Gold, weil sein Wert veränderlich ist, Maßstab der Preise, weil es als unveränderliche Gewichtseinheit fixiert wird.“[13] Diese „Veränderlichkeit des Wertes“ ist in der Tatsache begründet, dass zur Bereitstellung einer zusätzlichen Goldmenge Arbeitszeit verausgabt werden muss. Die Wertgröße einer bestimmten Goldmenge unterliegt damit wie bei jeder anderen Ware der historisch jeweils gegebenen (und damit sich ändernden) Produktivität der Arbeit, erscheint uns aber als Natureigenschaft des Goldes selbst.

Das Gold ist damit auf der einen Seite die Voraussetzung für das Ablaufen des Prozesses, auf der anderen Seite kann aber gerade die Tatsache, dass seine Bereitstellung durch einen Naturvorgang bedingt ist, zum Hemmnis der Akkumulation werden. Das Resultat tritt in Widerspruch zu seiner eigenen Voraussetzung und somit erzwingt das Bedürfnis nach ungehinderter Akkumulation selbst die Entlassung des Goldes aus seiner Funktion als Zahlungsmittel und seine Ablösung. Die Einführung von Zeichengeld (Münzen, Papiergeld) allein ist noch nicht der entscheidende Schritt. „Ein spezifisches Gesetz der Papierzirkulation kann nur aus ihrem Repräsentationsverhältnis zum Gold entspringen.“[14] Erst die Bereitstellung der zusätzlich erforderlichen Geldmenge durch das Kreditsystem stellt den entscheidenden Ablösungsschritt dar, der das Verhältnis zum Gold qualitativ gerade so neu bestimmt, dass es quantitativ erhalten bleibt. Die oben als notwendig für die Ingangsetzung des Akkumulationsprozesses nachgewiesene Goldmenge wird ersetzt durch den Kredit, den ich in dieser Funktion als exogenen Kredit bezeichne. Die Zentralbank erhält das Monopol über die Geldausgabe. Aber so wie die Notwendigkeit dieser Monopolstellung bleibt die Notwendigkeit der Funktion des Goldes als Wertmaß und Maßstab der Preise. Marx betont, dass die Metallzirkulation die Basis des Kreditsystems bleibt, auch wenn „der ganze Kreditmechanismus beständig damit beschäftigt (ist), die wirkliche Metallzirkulation durch allerhand Operationen, Methoden, technische Einrichtungen, auf ein relativ stets abnehmendes Minimum zu beschränken – womit auch die Künstlichkeit der ganzen Maschinerie und die Chancen für Störungen ihres normalen Ganges im selben Verhältnis zunehmen.“[15] Aus der Möglichkeit der Abkoppelung der Kreditvergabe durch die Zentralbank von der vorhandenen Goldmenge zieht die gängige Volkswirtschaftslehre den Schluss, dass das Gold für den inneren Mechanismus der Verwertung überflüssig geworden ist. Der gegenteilige Schuss wäre aber genauso möglich, nämlich dass das Gold von den Schwankungen der übrigen materiellen Produktion unabhängig wird und dass damit gerade für seine Wertstabilität Sorge getragen wird. Der ganze Streit ist nichts als die Fortsetzung des alten Streits zwischen Metallisten und Nominalisten, der vor dem Hintergrund geschieht, dass es logisch unmöglich ist, das Wesen und die Funktion des Geldes aus den Natureigenschaften des Goldes herzuleiten.

Die Lokomotive des Akkumulationsprozesses

Die Zentralbank steuert über den Leitzins die durch sie in Umlauf gebrachte Geldmenge (genauer: versucht zu steuern). Über die Festsetzung der Mindestreserve, die die Privatbanken bei jedem Akt der Weitergabe eines Kredits hinterlegen müssen, kann Einfluss darauf genommen werden, welche Wertmenge insgesamt durch den exogenen Kredit in Bewegung gesetzt wird. In gewisser Weise wird also der oben anhand des Goldes beschriebene Vorgang künstlich imitiert. Die Zentralbank ist gezwungen, die Ausgabe von Geld und dessen Effekt für die Gesamtverwertung an das Wachstum der materiellen Produktion anzupassen. Stünde die vorhandene Geldmenge in keinem Verhältnis mehr zu dem vorhandenen Wert der real produzierten Waren, wäre das Geld wertindifferent. Die Konsequenz lautet: Erst durch den Zins erhält das Geld überhaupt seine Wertstabilität. Wert „an sich“ hat das von der Zentralbank herausgegebene Geld genau so wenig wie das Gold, aber während letzteres seinen Wert durch die Arbeit und das Handeln der Menschen im Verwertungsprozess erhält, muss der Wert des ersteren erst durch das bewusste Handeln einer gesellschaftlichen Institution hergestellt werden. Das ist die von Marx so bezeichnete „Künstlichkeit“, in der herrschenden Volkswirtschaftslehre als „Globalsteuerung“ bezeichnet.[16] Dies wiederum erzwingt eine erweiterte Reproduktion auf immer höherer Stufenleiter, das, was man allgemein als Wirtschaftswachstum bezeichnet. Wir sehen hier wieder, wie der „Verwertungsprozess des Werts“ die Expansion auf neuer Stufe aus sich selbst heraus hervorbringt, seine eigene Lokomotive ist, was bedeutet, dass die Zentralbank nicht über den Dingen schwebt, sondern dem Verwertungsprozess selbst als sein Bestandteil unterworfen ist. Auf der Ebene der Erscheinungen des Auf und Ab der Konjunktur sieht man diese innere Triebkraft nicht, so, wie man die Lokomotive nicht sieht, wenn man im Zug sitzt und nur die Landschaft an sich vorbeiziehen sieht.

Reaktionen auf Rosa Luxemburgs Schlussfolgerungen

Bei aller Vielfalt des Meinungsstreits, den Rosa Luxemburgs Überlegungen ausgelöst haben, ist mir keine Veröffentlichung bekannt, die trotz der irrigen Schlussfolgerung präzise den Erkenntnisgewinn zusammenfasst und nutzbar macht. In einer neueren, von Klaus Kinner und Helmut Seidel herausgegebenen zusammengefassten Würdigung des Werkes von Rosa Luxemburg untersucht Eva Müller ihre Interpretation der Marxschen Reproduktionsschemata.[17] Danach entsteht die Situation des Fehlens des zuschüssigen Geldkapitals für den jeweils folgenden Zyklus der erweiterten Reproduktion allein durch die Darstellung des Prozesses in Form diskreter Reproduktionszyklen. In der von Eva Müller geforderten kontinuierlichen Darstellung verschwindet das für ein immer kleiner werdendes Zeitintervall erforderliche zuschüssige Geldkapital gegen null. Sie übersieht dabei aber, dass das Verhältnis von zuschüssigem Geldkapital und neugeschaffenem Mehrwert auch für ein beliebig kleines Zeitintervall gleich bleibt, womit auch der Grenzwert bleibt und das Problem in keiner Weise gelöst ist. Im daran anschließenden Beitrag beschäftigt sich Wladislaw Hedeler mit den Erwiderungen von Nikolaj Bucharin, auf die ich hier selbst eingehen möchte, weil sie zeigen, dass die aufgeworfenen Fragen noch nicht befriedigend beantwortet werden können, wenn man sich nur auf die Denkfehler Rosa Luxemburgs konzentriert.[18]

Bucharin versucht, den oben benannten Mechanismus darzustellen, der durch das Einbringen einer entsprechenden zusätzlichen Goldmenge in Bewegung gesetzt wird, und weist auf den Effekt hin, wenn die eingebrachte zusätzliche Goldmenge mehrfach umgeschlagen wird. „Was hielt nun Marx für ‚abgeschmackt’ ...? Antwort: die Hypothese, dass der Goldproduzent unmittelbar den ganzen akkumulierten Mehrwert der II. Abteilung abkauft ... Das Abgeschmackte besteht folglich darin, dass die Umsatzgeschwindigkeit unberücksichtigt bleibt, die Existenz des Kredits ignoriert wird usw., mit anderen Worten, abgeschmackt ist die Vorstellung von einem Goldhaufen, der einem Warenhaufen äquivalent sein soll.“ (S. 51) Damit schlussfolgert Bucharin: „Der grundlegende Irrtum Rosa Luxemburgs besteht darin, dass sie den Gesamtkapitalisten als Einzelkapitalisten nimmt. Sie hypostasiert diesen Gesamtkapitalisten. Daher begreift sie nicht, dass der Vorgang der Realisierung stufenweise erfolgt“. (S. 61) Als Momente, die Rosa Luxemburgs Theorie anziehend machen, erwähnt Bucharin „ihr ökonomischer Determinismus, ihre ‚objektiven Schranken’ des Kapitalismus, ihre (angebliche) Bestätigung durch die Tatsachen (Katastrophenperiode usw.) und der ‚revolutionäre’ Charakter ihres ganzen Aufbaues.“ (S. 283)

Man mag der Einschätzung Bucharins in wesentlichen Teilen zustimmen. Trotzdem ist er aus diesen heraus nicht in der Lage, die Ziele, die sich Rosa Luxemburg mit ihrer Analyse gesetzt hatte, auf seine Weise zu erreichen. Seine eigene Zusammenbruchstheorie erfüllt nicht die theoretischen Ansprüche Rosa Luxemburgs, deren Vorgehen er wie folgt kritisiert: „Sie nimmt sich einen Widerspruch vor, und zwar den zwischen den Bedingungen der Produktion des Mehrwerts und den Bedingungen seiner Realisierung, den Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion unter den Bedingungen des Kapitalismus. Dieser Widerspruch wird nicht als ein dialektischer, sondern oberflächlicher Widerspruch genommen, woraus dann eine Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs deduziert wird. Nun gilt es aber nicht von einem Widerspruch auszugehen, sondern von einer Reihe solcher Widersprüche ... Der Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion, der Widerspruch zwischen den verschiedenen Produktionszweigen, der Widerspruch zwischen der Industrie und der durch die Grundrente eingeengten Landwirtschaft, die Anarchie des Marktes und die Konkurrenz, der Krieg als ein Mittel dieser Konkurrenz usw. – all das wird im Laufe der Kapitalistischen Entwicklung auf erweiterter Stufenleiter reproduziert.“ (S. 286 f.) Der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems ist nun aus seiner Sicht darin begründet, „dass die erweiterte Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse gleichzeitig auch eine erweiterte Reproduktion aller kapitalistischen Widersprüche ist.“ (S. 288) Damit ist er aber durch diese Akzentverschiebung der Ausgangsfrage ausgewichen und die Konkretisierung seiner allgemein gehaltenen Feststellung für die aktuell bestehenden Verhältnisse wird durch den Hinweis auf die Fakten ersetzt: „Heute sind wir bereits in der Lage, uns über den Prozess des kapitalistischen Zusammenbruchs nicht mehr bloß auf Grund abstrakter Konstruktionen und theoretischer Perspektiven ein Urteil zu erlauben. Der Zusammenbruch des Kapitalismus hat begonnen. Die Oktoberrevolution ist der lebendige und überzeugendste Ausdruck dafür.“ (S. 287)

Wladislaw Hedeler untersucht in dem bereits erwähnten Beitrag ausführlich den politischen Hintergrund, vor dem die Auseinandersetzung über Rosa Luxemburgs Thesen geführt wurde. Dieser besteht zum einen in dem sich andeutenden Scheitern des Versuchs der sozialistischen Umwälzung über Russland hinaus und der dabei entscheidenden Rolle der deutschen Sozialdemokratie, zum anderen in den Schwierigkeiten der planmäßigen Gestaltung der sozialistischen Wirtschaft in Russland selbst. Dies erklärt die Heftigkeit und Polemik, mit der die Auseinandersetzung und Abrechnung mit der deutschen Sozialdemokratie z.B. in der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus“ geführt wurde, in der Bucharin auch seine Stellung zu Rosa Luxemburgs Thesen veröffentlichte. „Doch diese ideologische Nichtigkeit (des sozialdemokratischen Verrats am Marxismus, H.-J. S), um die sich die Stickluft der Dünste eines verwesenden Kadavers lagert, stützt sich einstweilen noch auf die Krücken fortlebender Illusionen der Vergangenheit. Diese Krücken müssen zerschlagen werden, dem kläglichen eklektischen Mischmasch eines ‚konstruktiven Sozialismus’ [...] muss der wahre, revolutionäre Marxismus entgegengesetzt werden.“[19]

So wurde in letzter Konsequenz die theoretische Klarheit der politischen Notwendigkeit untergeordnet, und durch diese Akzentverschiebung ist Bucharin nicht mehr in der Lage, einen qualitativen Bruch in der Entwicklung des Verwertungsprozesses aus diesem Verwertungsprozess selbst heraus adäquat zu charakterisieren. Die Erfüllung des von Rosa Luxemburg gesetzten theoretischen Anspruchs muss also durch eine konkrete Analyse der Beziehung zwischen Produktivtät, Goldmenge, der sich verändernden organischen Zusammensetzung des Kapitals und des Grades der im Rahmen des Akkumulationsprozesses fortschreitenden Konzentration des Kapitals geleistet werden. Nur so kann die reale Brisanz der Fragestellung erfasst werden.

Der tendenzielle Fall der Profitrate

Nehmen wir noch einmal das oben angeführte Beispiel, dass eine neu eingebrachte Geldeinheit das Zwanzigfache ihres eigenen Werts an Mehrwert in Bewegung setzt und seine Akkumulation ermöglicht. Der Wert der pro Zyklus geförderten Goldmenge müsste also 1/20 des gesamten Mehrwerts betragen. Bleibt aber die pro Zyklus geförderte Goldmenge konstant, muss auch der pro Zyklus geschöpfte Mehrwert konstant bleiben, soll das Gold seinen Wert pro Gewichtseinheit behalten. Das gesamte akkumulierte Kapital wächst damit linear an und das Verhältnis von Mehrwert zu akkumuliertem Kapital sinkt. Die sinkende Profitrate erzeugt somit einen Druck auf die gesamte materielle Produktion, auch auf die Goldproduktion selbst, womit wir auch über diesen Weg wieder damit konfrontiert sind, dass dies auf Dauer (exponentiell anwachsende Goldproduktion) mit Gold allein nicht mehr zu machen ist. Was dies betrifft, sind also evtl. noch vorhandene „dritte Personen“ zumindest zeitweise ein willkommener Rettungsanker. Mit der Einführung eines zweistufigen Bankensystems, in dem die Zentralbank das Monopol über die Geldausgabe erhält, ist das Geld nicht mehr unmittelbar von den naturbedingten Eigenschaften des Goldes abhängig. Die Zentralbank übernimmt die Schlüsselrolle und ihre über den Leitzins erbrachten Gewinne treten nun an die Stelle des Profits des Goldproduzenten.

Damit sind wir an dem Punkt angelangt, an dem auch Rosa Luxemburg mit dem Recht der Fakten argumentieren kann: „Die Bedingungen der Kapitalisierung des Mehrwerts und die Bedingungen der Erneuerungen des Gesamtkapitals treten miteinander immer mehr in Widerspruch, der übrigens nur ein Reflex des widerspruchsvollen Gesetzes der fallenden Profitrate ist.“ (S. 288) Da Rosa Luxemburg aber an keiner anderen Stelle ihres Buches auf dieses Gesetz eingeht und ihm mit der Wendung „übrigens“ einen Platz am Rande zuweist, entgeht ihr, dass sie mit der ausschließlichen Konzentration auf das Schwinden der nichtkapitalistischen Bereiche der Gesellschaft die vollständige Charakterisierung des Prozesses verfehlt hat. Richtig ist, dass der Akkumulationsprozess eines zuschüssigen Geldkapitals bedarf (daher der Begriff „exogener Kredit“) und dass sich mit Hilfe „dritter Personen“ der Profitratenfall aufschieben lässt. Die Schwierigkeiten der Kapitalisierung des Mehrwerts auf gleichbleibend hohem Niveau müssen aber wegen der durch die Akkumulation bewirkten Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals als ureigenstes Produkt des Akkumulationsprozesses selbst aufgefasst werden und können nicht diesen „dritten Personen“ zugeschrieben werden.

Fazit

Der entscheidende Hebel zum Aufhalten des Profitratenfalls ist für das Einzelkapital die Erhöhung der Mehrwertmasse durch Erhöhung der Produktivität. Marx hatte zu Recht dieses Gesetz als „zwieschlächtig“ bezeichnet. Der Logik des oben dargestellten Zirkulationsprozesses nach ist die Erhöhung der Mehrwertmasse mit der Tendenz zur Erhöhung der pro Zyklus neu eingebrachten Geldmenge oder mit einer Verkürzung des Umschlagszyklus des Geldes im Verhältnis zum materiellen Reproduktionszyklus des Kapitals verknüpft. Der Druck der Erhöhung der Menge an neu eingebrachtem Geldkapital führt zur Verschuldung der gesamten Gesellschaft auf immer höherem Niveau. Der Profitratenfall wird in den zukünftigen Zyklus hineinverlagert, in dem er sich noch unerbittlicher stellt. „Der Widerspruch, ganz allgemein ausgedrückt, besteht darin, daß die kapitalistische Produktionsweise eine Tendenz einschließt nach absoluter Entwicklung der Produktivkräfte [...]. Die Methoden, wodurch sie dies erreicht, schließen ein: Abnahme der Profitrate, Entwertung des vorhandenen Kapitals und Entwicklung der Produktivkräfte auf Kosten der schon produzierten Produktivkräfte. [...] Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen.“[20]

Die Betrachtung dieser Schranken wurde hier ergänzt durch die Betrachtung der Geldentwicklung, die sich in der oben dargestellten „Künstlichkeit“ der Tendenz nach von dem materiellen Verwertungsprozess immer weiter entfernt. Die „objektive geschichtliche Schranke mit genügender Klarheit darzustellen“, wie es sich Rosa Luxemburg zum Ziel gesetzt hatte, ist damit bezüglich der Logik des Verwertungsprozesses sehr wohl möglich, aber zeitlich nicht eindeutig bezifferbar. Die enorme Aggressivität, die das Kapital mit dem Eintreten in das Stadium des Imperialismus entwickelte, ist also nur untergeordnet dem Schwinden von „dritten Personen“ für die Realisierung des Mehrwerts verschuldet. Da das Kapital die Tendenz zum Profitratenfall aber aus seinem eigenen Verwertungsprozess heraus hervorbringt, ist sein Kampf dagegen der Kampf gegen ein quasi Naturgesetz und seine Formen tragen von Anbeginn den Charakter der Verzweiflung.

[1] Die beiden in Z 46 (Juni 2001) veröffentlichten Artikel zur Marx-Rezeption Rosa Luxemburgs von Helmut Seidel und Frigga Haug beschäftigen mit ihrer weltanschaulich-erkenntnistheoretischen Stellung gegenüber Marx bzw. mit ihrer politischen Konzeption.

[2] Vorwort zu Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Frankfurt 1912. Alle weiteren, nur mit Seitenzahlen wiedergegebenen Zitate von Rosa Luxemburg beziehen sich auf diese Veröffentlichung.

[3] Mit Engels’ Herausgabe der von Marx hinterlassenen Manuskripte hat sich Rolf Hecker in Z 61, S. 125 ff., auseinandergesetzt.

[4] Karl Marx, Das Kapital, Bd. II, S. 487.

[5] Ebd., S. 495.

[6] Ebd., S. 503.

[7] Ebd., S. 517.

[8] Rosa Luxemburg benutzt häufig die Formulierung „Realisierung des Profits“. Es muss natürlich „Realisierung des Mehrwerts“ heißen, die außer in der Form des Unternehmerprofits auch noch in den Formen Grundrente und Kapitalzins stattfindet. Für uns ist dies hier zunächst von untergeordneter Bedeutung.

[9] Rolf Hecker weist in dem bereits oben erwähnten Beitrag in Z 61 darauf hin, dass Engels bei der Herausgabe des zweiten Bandes durchaus seine eigene Sichtweise der Dinge mit hat einfließen lassen und auch einzelne Umformulierungen vorgenommen hat. Er hat aber nicht etwa ganze Abschnitte umgeschrieben oder sogar weggelassen, so dass man davon ausgehen kann, dass die von Rosa Luxemburg aufgezeigte Lücke in Marx’ Argumentation tatsächlich existiert.

[10] Geht man z.B. von einer Sparquote von r = 5% aus, d.h. mit jedem Besitzerwechsel werden im Schnitt 5% der erhaltenen Goldmenge zur Schatzbildung zurückgelegt, so setzt eine Goldmenge von 100 Werteinheiten insgesamt eine Summe von 100 95 90,25 85,7 81,5 77,4 ... = 2000 Werteinheiten in Bewegung.

[11] Das Kapital, Bd. II, S. 493.

[12] Ebd., S. 494.

[13] MEW Bd. 13, S. 55.

[14] Ebd. S. 141.

[15] Das Kapital, Bd. II, S. 496.

[16] Es wäre das Thema eines eigenständigen Beitrags, die damit verbundenen neuen Möglichkeiten und die zugrundeliegenden Zwänge näher zu diskutieren. Hier mag der Hinweis genügen, dass die Frage, inwieweit die Maßnahmen der Zentralbank ursächlichen Charakter tragen oder lediglich Reaktion und Anpassung sind, in der gängigen Volkswirtschaftslehre umstritten ist: „Die Diskussion zwischen Vertretern beider Argumente ist auch im wissenschaftlichen Bereich keinesfalls abgeschlossen und nimmt in der Auseinandersetzung teilweise den Charakter eines ‚Glaubenskrieges’ an.“ Zitat aus: Dr. Rainer Ertel, Volkswirtschaftslehre, München, 1996, S. 123.

[17] Rosa Luxemburg – historische und aktuelle Dimensionen ihres theoretischen Werkes. Hrsg. Klaus Kinner und Helmut Seidel, Berlin 2002.

[18] Nikolaj Bucharin in: Unter dem Banner des Marxismus, 1. Jahrgang 1925/1926, S. 21-63 und S. 231-290, Wien, Berlin, Moskau, Leningrad. Alle mit Seitenzahlen versehenen Zitate von N. Bucharin beziehen sich auf diese Veröffentlichung.

[19] Zitat nach Hedeler, ebd., S. 107.

[20] MEW, Bd. 25, S. 259 f.