Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) ist eine der zahlreichen so genannten Reforminitiativen, die seit Ende der 1990er Jahren gegründet worden sind. Die Gemeinsamkeit dieser Initiativen besteht im Werben für eine neoliberale Umgestaltung der bundesrepublikanischen Gesellschaftsordnung. Durch ihre üppige finanzielle Ausstattung, gewährleistetet durch den Arbeitgeberverband Gesamtmetall, die Langfristigkeit ihrer Strategie, die Prominenz der Unterstützer und ihr professionelles Marketing ragt die INSM aus der Zahl der anderen Initiativen heraus. Aufgrund manch Aufsehen erregender Plakat- und Anzeigenaktion von der Zeit als „Lautsprecher des Kapitals“ (Hamann 2005) bezeichnet, vollzieht sich das eigentliche Wirken der INSM jedoch auf leisen Sohlen. Die Nutzung verschiedener Kommunikationskanäle, der Einsatz von „Botschaftern“ und „Kuratoren“ als Multiplikatoren und Schleichwerbung dienen dazu, die INSM als Sender ihrer Botschaften verschwinden zu lassen. Die INSM bedient sich zudem in ihren Botschaften positiv besetzter Begriffe und ist bemüht, den Eindruck von Überparteilichkeit und Ideologiefreiheit zu vermitteln. Auf diesen Schleichwegen versucht die INSM, neoliberales Gedankengut zum unhinterfragten Bestandteil der Wahrnehmung der Gesellschaft zu machen.
Die Aktivitäten der INSM werden im Folgenden vor dem Hintergrund der Theorie der symbolischen Gewalt von Pierre Bourdieu und dessen Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus analysiert.[1] Bourdieu geht davon aus, dass alle Formen der Herrschaft der symbolischen Legitimation bedürfen. Letztere äußert sich in einer scheinbar freiwilligen Annerkennung der Herrschenden durch die Beherrschten. In symbolischen Kämpfen versuchen verschiedene gesellschaftliche Gruppen ihre Definition der gesellschaftlichen Ordnung durchzusetzen und zu generalisieren, so dass sie in die geteilten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata der Mitglieder einer Gesellschaft, die doxa, eingehen. Indem Grundsätze der Herrschaft zum Bestandteil der doxa werden, entfaltet sich die symbolische Gewalt in Form der scheinbar freiwilligen Anerkennung der Herrschaftsverhältnisse, da der Beherrschte, „um jenen [den Herrschenden] und sich selber zu denken, nur über die Erkenntnismittel verfügt, die er mit ihm teilt und die nichts anderes als die inkorporierte Form der Herrschaftsverhältnisse sind“ (Bourdieu 1997: 164). Die im Grunde erzwungene Anerkennung wird demnach dadurch hergestellt, dass die Beherrschten in den symbolischen Kämpfen der kritischen Erkenntnismittel beraubt werden. Bourdieu benutzt das Konzept der symbolischen Gewalt, um die Transformation der Macht- und Herrschaftsverhältnisse zwischen den Feldern der Ökonomie, der Politik und der Kultur sichtbar zu machen und diese zu kritisieren. Das Bourdieusche Konzept weist dabei starke Ähnlichkeiten zum Hegemonie-Konzept Antonio Gramscis[2] auf und stellt thematisch wie konzeptionell einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt für marxistische Herrschafts- und Ideologiekritik dar, auch wenn sich kritisieren ließe, dass Bourdieu keine eingehende Kritik der politischen Ökonomie vorlegt (vgl. Herkommer 2004: 25).
In Bezug auf den Neoliberalismus geht es um die Transformation ökonomischer Macht in symbolische Macht bzw. kulturelle Hegemonie. Die symbolische Gewalt vollzieht sich in der Jahrzehnte langen symbolischen Berieselung mit neoliberalen Ideen. Der angestrebte Übergang dieser Ideen in die gesellschaftliche doxa hat die Funktion, die „Reformbereitschaft der Bevölkerung“ als eine Voraussetzung für die politische Umgestaltung der Gesellschaft zu stärken. In westeuropäischen Ländern und den USA haben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Reihe von Think Tanks, Intellektuellen, Journalist/innen und sonstige Medienvertreter/innen als Propheten des Neoliberalismus daran gearbeitet, neoliberale Theoreme in der Zeit des keynesianischen Konsenses zunächst salonfähig zu machen, um den Neoliberalismus dann als neue Orthodoxie zu etablieren (vgl. Dixon 2000). Die Krise der keynesianisch orientierten Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in den 1970er Jahren bereitete dabei den Nährboden dieses Umsturzes. Der Anschein der Modernität und Vernunft, welcher in den Wirtschaftswissenschaften durch die Mathematisierung und in der medialen Kommunikation durch positiv wirkende Begriffe wie „Flexibilität“, „Mobilität“ oder „Verschlankung“ verbürgt wird, lässt den Neoliberalismus als pensée unique, als einheitliche, alternativlose Denkweise erscheinen. Das neoliberale Denken stellt daher nach Bourdieu in seiner scheinbaren Ausweglosigkeit eine Art rationale Religion dar (Bourdieu 1997a: 15).
Die Produktion des neoliberalen Diskurses in den Think Tanks und dessen Zirkulation in den Medien ist die Voraussetzung dafür, dass sich diese neue „Religion“ in den Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata der Individuen festsetzen konnte. Im Folgenden wird es daher um die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft als einen Think Tank gehen, dessen Strategie explizit darauf zielt, die Zustimmung in der Bevölkerung zu neoliberalen Konzepten zu steigern.
Die INSM als neoliberaler Think Tank
Think Tanks sind im Allgemeinen Organisationen, die sich an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlichem, politischem, wirtschaftlichem und medialem Feld befinden. Nach Gellner lassen sich dabei zwei grundlegende Typen unterscheiden: „wahre“ und „politische“ Think Tanks (vgl. Gellner 1994: 18). Erstere werden auch als „Universitäten ohne Studenten“ bezeichnet. Wie der Name schon sagt, steht hier die wissenschaftliche Forschung von Expertengruppen im Vordergrund. Die INSM ist dem Typus des „politischen“ Think Tanks zuzuordnen; dieser Typ wird von Dixon auch als „advocacy tank“ bezeichnet (Dixon 2000: 8). Das Wesen dieses Organisationstyps besteht darin, „Ideen als Produkte zu entwickeln, sie in der Öffentlichkeit zu verbreiten und im Sinne einer strategischen Kommunikation einer bestimmten Klientel zur Verfügung zu stellen“ (Gellner 1994: 18). Im politischen Prozess sind sie vor allem in den Phasen der Themenidentifikation (issue identification) und Thematisierung (agenda-setting) von Bedeutung (vgl. Gellner 1994: 27). Die Adressaten sind politische Entscheidungsträger/innen, Verwaltungen und vor allem – und darauf liegt der Fokus der INSM – die Öffentlichkeit. Eine der Thesen Gellners besagt, dass von Nicht-Fachleuten der Wahrheitsgehalt einer angebotenen Information nicht eingeschätzt werden kann und es dadurch die nichtwissenschaftlichen Faktoren wie Rhetorik, Stilistik und Telegenität sind, die den Ausschlag für ihre Überzeugungskraft geben (vgl. Gellner 1994: 19).
Die INSM gehört zu den seit Ende der 1990er Jahre zuhauf gegründeten „Reforminitiativen“, die mit Namen wie „Deutschland packt’s an“, „Marke Deutschland“, „BürgerKonvent“, „Initiative D 21“ u. ä. mehr oder weniger von sich Reden machen. Zwar möchten die Namen nahe legen, es handle sich bei den Initiativen um einen „zivilgesellschaftlichen“ Aufbruch engagierter Bürgerinnen und Bürger. Doch treffen die Bezeichnungen „Krawatt-Attack“ oder „APO für Reiche“ eher zu (Baetz 2005). Zumal es sich bei den Gründer/innen durchgängig um illustre Personen aus Spitzenpositionen in Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft handelt (vgl. Speth 2004: 10). Gemeinsam ist diesen Initiativen, die seit 2004 unter dem Dach der „Aktionsgemeinschaft Deutschland“ lose zusammengeschlossen sind, das politische Ziel, das Image von Unternehmern und einer in ihrem Verständnis freien und dadurch angeblich sozialen Markwirtschaft im öffentlichen Bewusstsein aufzupolieren, um damit den Nährboden für neoliberale Reformen zu bereiten.[3]
Die INSM wurde im Oktober 2000 gegründet, nachdem eine Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie ergeben hatte, dass nur 44 Prozent der Befragten im Westen und 22 Prozent im Osten eine gute Meinung von der Marktwirtschaft hatten und dass 42 Prozent der deutschen Bevölkerung einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus für wichtig hielten. Aufgerüttelt von diesem Ergebnis hielt Martin Kannegießer, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, die Gründung einer Initiative für geboten, um einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung herbeizuführen, da der Wert von Freiheit und persönlicher Verantwortung für die meisten verloren gegangen sei (vgl. Hamann 2005). Es wurde ein Ideenwettbewerb veranstaltet, bei dem sich die Werbeagentur Scholz & Friends (Kunden sind u. a. DaimlerChrysler, Coca-Cola, die Berliner Zeitung und die FAZ) durchsetzte. Das eigentliche Konzept der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft stammt also von Scholz & Friends, deren geschäftsführender Gesellschafter Thomas Heilmann auch gleichzeitig Internet-Sprecher der CDU ist. Insgesamt arbeiten bei Scholz & Friends und deren für den Internetauftritt zuständigen Tochterunternehmen Aperto rund 40 Mitarbeiter/innen an dem Projekt INSM (vgl. Speth 2004: 8f.).
„Sozial ist...“
Mit der Namensgebung Neue Soziale Marktwirtschaft wird Bezug genommen auf den bundesrepublikanischen Gründungsmythos von der sozialen Marktwirtschaft als Erfolgsmodell des Wirtschaftswunders. Eng verknüpft wird dieser Begriff bekanntlich mit der Person Ludwig Erhards. Im Gegensatz zu einem Verständnis von sozialer Marktwirtschaft als „ausgewogenes“ Verhältnis zwischen sozialen und marktwirtschaftlichen Elementen durch Tarifpartnerschaft und ein breites Netz sozialer Sicherung, legte das Verständnis Erhards und seines Stichwortgebers und Erfinders des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft Alfred Müller-Armack[4] einen deutlichen Schwerpunkt auf den Markt.[5]
Mit der Namensgebung wird einerseits durch Bezug auf einen positiv besetzten und harmlos wirkenden Begriff auf breite „Anerkennungsprofite“ (Bourdieu) spekuliert. Andererseits soll das Verständnis des Begriffs im Sinne eines Zurück zum Erhardschen Verständnis gewandelt werden.[6] Der Coup liegt darin, dass das Soziale begrifflich mit abgedeckt wird, so dass der Eindruck von Ausgewogenheit entsteht und damit ein möglicher begrifflich pointierter Gegenentwurf vereitelt wird.
Der explizite Versuch einer Neudefinition des Begriffs „sozial“ wird in der INSM-Kampagne „Sozial ist...“ vorgenommen. In der Erläuterung dieser Kampagne, in welcher Prominente ihr Verständnis des Begriffs „sozial“ offenbaren,[7] führt die INSM aus, dass fast kein Begriff so eindeutig positiv besetzt sei wie der Begriff „sozial“. Das Problem liege darin, dass sich der Begriff des Sozialen von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt habe: „Statt gesellschaftlich vorteilhaftem Verhalten wurde staatlich organisierte Umverteilung zum Prinzip des Sozialen erhoben. Diese Entwicklung hat jedoch nicht nur die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme über die Grenzen des Erträglichen hinaus belastet. Auch Leistungsbereitschaft, Innovationsfähigkeit, Flexibilität und wirksame Unterstützung für die wirklich Schwachen der Gesellschaft sind zu kurz gekommen. Damit ist Vieles, was sozial genannt wird, in Wahrheit unsozial und unsolidarisch.“[8] In diesem Sinne definiert die INSM, dass das sozial sei, was der Allgemeinheit nütze und echte Hilfe für die wirklich Schwachen biete. „Wahrhaft“ sozial sei daher, wer Eigeninitiative und Eigenverantwortung zeige, da dies die Voraussetzung für echte Solidarität sei. Sozial sei außerdem, was Arbeit schaffe, da diese die Voraussetzung für ein sinnerfülltes Leben sei. Weiterhin sei sozial, wer Wettbewerb zulasse, da Wettbewerb im Bildungssystem und Sozialstaat die einzige Möglichkeit sei, um mehr Effizienz und internationale Erstklassigkeit in diesen Bereichen zu erlangen. Schließlich sei sozial, wer fordere und fördere und wenn Leistung sich lohne. Anreize sollen demnach zum einen dahingehend geschaffen werden, dass sich Arbeitslose engagiert um einen Arbeitsplatz bemühen, und zum anderen sollen ein vereinfachtes Steuersystem und eine geringe Abgabenlast die Leistungsbereitschaft des einzelnen stärken.[9]
Es wird deutlich, dass diesen Aussagen das harmonistische Modell der invisible hand des klassischen Liberalismus Smithscher Prägung zugrunde liegt: Wenn den Unternehmern bzw. dem Wettbewerb nur uneingeschränkte Freiheit eingeräumt wird, profitiert auch die Allgemeinheit davon; daher sind die Unternehmer die eigentlich Sozialen. Dadurch wird auch gleichzeitig die Problemsicht bzw. Krisendiagnose der INSM deutlich. Aus Aussagen wie „Sozial ist, wer sich nicht nur auf andere verlässt“[10] lässt sich die implizite Annahme, dass die Menschen in Deutschland sich zu sehr auf den Sozialstaat verlassen und sich nicht selber anstrengen wollen, unschwer herauslesen. Unsozial und damit wesentliches Element der Krise im Sinne der INSM sind also einerseits diejenigen Bevölkerungsteile, die sich angeblich auf ihrem Status als Arbeitslose ausruhen, und andererseits der Staat, der auf Umverteilung und Regulierung setzt und dadurch verhindert, dass die Unternehmer ihre soziale Wirkkraft entfalten können. Diese Umkehrung des Begriffs des Sozialen zielt also nicht nur darauf ab, unternehmerische Aktivitäten auch als „sozial“ zu qualifizieren, sondern diese in erster Linie als „sozial“ darzustellen und, noch weitergehend, alle sozialstaatlichen Maßnahmen, die auf sozialen Ausgleich abzielen, als „unsozial“ abzuqualifizieren.
Vision D
Die inhaltlichen Ziele der INSM, die sich in der Verwendung des Begriffs „sozial“ schon andeuten, werden in der Broschüre „Vision D – Der Wohlstand hat Zukunft“ umfassend dargestellt (Institut der Deutschen Wirtschaft/Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft 2005). Die Broschüre beruht auf einer gleichnamigen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und wird vom IW und von der INSM herausgegeben.[11] Es wird in der Broschüre eine „Reformagenda“ für die nächsten 20 Jahre entworfen, deren Endergebnis mehr Wohlstand für alle verheißt.
Als Ausgangspunkt wird dabei konstatiert, dass die Agenda 2010 der rot-grünen Regierung zwar ein Schritt in die richtige Richtung gewesen sei, doch dass diese Agenda noch längst nicht weit genug gehe. Bevor das im Erhardschen Sinne gezeichnete Bild vom „Wohlstand für alle“ erreicht werden könne, müssten erst gravierende Einschnitte vollzogen werden. Schlüssel zum Erfolg stelle dabei das Wirtschaftswachstum dar. Dieses sei zwar kein Allheilmittel, wie konzediert wird, dennoch wird es als zentrale Größe für die Lösung der wirtschaftlichen Probleme angesehen. Es werden drei Szenarien gegenübergestellt: Im Szenario „Stagnation“ wird davon ausgegangen, dass der Abwärtstrend der letzten Jahre sich fortsetzt. Im Szenario „Gestoppter Abwärtstrend“ wird angenommen, dass die aktuellen Werte konstant bleiben. Schließlich wird im Szenario „Deutsche Angebotspolitik“ angenommen, dass durch den Einsatz von Wachstumskatalysatoren die Werte von vor 1990 wiedererreicht werden (ebenda: 19). Die Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre der Kohl-Regierung ist dabei das Modell für diese „Deutsche Angebotspolitik“. Als weitere Erfolgsvorbilder der 1980er Jahre werden der „Thatcherismus“ in Großbritannien und die „Reagonomics“ in den USA angeführt (ebenda: 22). Im Laufe der Broschüre werden die Szenarien immer wieder effektvoll einander gegenüber gestellt und es zeigt sich – als simpler Ausfluss der eben erwähnten Definitionsweise – in allen Fällen, dass das Szenario „Deutsche Angebotspolitik“ weitaus besser abschneidet als die anderen Szenarien. Die „Deutsche Angebotspolitik“ erscheint also als einziger gangbarer Weg.
Im Weiteren wird unter den Stichworten „Beschäftigung mobilisieren“, „Humankapital bilden“, „Investitionen stimulieren“ und „Staatsausgaben konsolidieren“ ein Katalog von Maßnahmen vorgestellt, die zu dem im Szenario „Deutsche Angebotspolitik“ dargestellten Ergebnis führen sollen. Die genannten Maßnahmen sind größtenteils typisch für eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Es werden beispielsweise unbezahlte Mehrarbeit, Zurückhaltung bei den Lohnforderungen, die Abschaffung von Mindestlohnregelungen in der Bauwirtschaft und die Aufweichung von Tarifverträgen gefordert. Um die Sozialabgaben zu verringern, wird vorgeschlagen, das Rentenalter zu erhöhen, das Rentenniveau zu senken und eine notfalls obligatorische private Altersvorsorge einzurichten, die mindestens auf Sozialhilfeniveau liegen soll. Weiterhin soll zur Finanzierung der Krankenversicherung eine einkommensunabhängige Prämie eingerichtet werden und der Leistungskatalog der Krankenkassen auf das medizinisch Notwendige gekürzt werden. Außerdem soll ein Niedriglohnsektor für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose eingerichtet werden. Diese sollen dabei durch einen Kombilohn oder durch eine negative Einkommenssteuer unterstützt werden. Nicht ganz so bruchlos lassen sich Vorschläge in die neoliberale Agenda einordnen wie die verstärkte Einrichtung von staatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen und von Ganztagsschulen zur Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben. Getragen werden diese Vorschläge jedoch nicht von einer geschlechteremanzipatorischen Absicht, vielmehr wird hier die oben genannte Mobilisierung der Beschäftigungspotentiale und eine verbesserte Bildung von „Humankapital“ anvisiert. Dies gilt auch in puncto Zuwanderung. Diese sei so zu regulieren, dass sie den Erfordernissen des Arbeitsmarktes gerecht werde. Um Investitionen zu stimulieren und die Staatsausgaben zu konsolidieren, wird vorgeschlagen, die direkten Steuern zu senken, die Vermögenssteuer endgültig abzuschaffen, die Vereinfachung des Steuersystems auf ein zwei- bis dreistufiges System, Bürokratie und Subventionen sollen ganz allgemein abgebaut werden und der Staat soll alle Aufgaben privatisieren, die er nicht zwangsläufig übernehmen muss.
Diese Vorschläge sollen immer wieder durch Beispiele aus so unterschiedlichen Ländern wie einerseits den USA und Großbritannien und andererseits Schweden untermauert werden. In ähnlich „postmoderner“ Weise und humanistisch anheimelnd wird am Ende sogar Erich Fromm mit einem Zitat herangezogen. Scheinbar pragmatisch und ohne ideologisch auf einen Weg festgelegt zu sein, sollen die erfolgreichen Aspekte aus den unterschiedlichen Vorbildern übernommen werden. Zum einen besteht jedoch ein erhebliches Übergewicht an Vorschlägen, die aus den marktliberalen Ländern übernommen werden. Zum anderen wirken die schwedischen Einsprengsel wie mehr staatliche Kinderbetreuungseinrichtungen und ein verbessertes Bildungssystem wenig glaubhaft, da für die Finanzierung eben die Steuereinnahmen benötig würden, die nach den Vorschlägen der INSM wegfallen sollen. Mit der einseitigen Heraushebung der nach der Meinung INSM erfolgreichen ökonomischen Konzepte, verstellt sich der Blick auf die gesellschaftlichen Kosten, die in den angelsächsischen Ländern gezahlt werden müssen. Wenn die geringe Arbeitslosigkeit und die geringe Arbeitslosenunterstützung in den USA gerühmt wird, darf gleichzeitig nicht übersehen werden, dass nach Schätzungen von Freeman der Anteil der männlichen Inhaftierten in den USA dem Anteil der männlichen Langzeitarbeitslosen entspricht (vgl. Freeman 1996: 26). Betrachtet man den Gini-Koeffizienten als Maß für die gesellschaftlich Ungleichheit, zeigt sich, dass dieser sich in der von der INSM gerühmten Reagan-Ära von 0,365 im Jahr 1980 auf 0,445 im Jahr 1992 erhöht hat (vgl. Kerbo 1996: 24). Dies bedeutet, dass die Ungleichverteilung des Reichtums in diesem Zeitraum erheblich zugenommen hat. Wenn die INSM mit volkswirtschaftlichen Wachstumszahlen lockt und „Wohlstand für alle“ verspricht, unterschlägt sie, dass die Verteilung des neuen Reichtums recht einseitig verläuft und dass es langfristige Verlierer geben wird, wenn man sich am amerikanischen Vorbild orientiert.
Mit ihren Vorschlägen befindet sich die INSM jedoch auf der Höhe des Diskurses. Viele der Schlagworte, Konzepte und Gedankengänge finden sich in der Antrittsrede der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel wieder (vgl. Hebel 2005). Unter dem Slogan „Mehr Freiheit wagen“ fordert Merkel auf, die Wachstumsbremse zu lösen, Bürokratie abzubauen, den „Steuerstandort Deutschland“ wettbewerbsfähiger zu machen und das Rentenalter anzuheben. Ähnlich wie bei der INSM wird der Staat als Hindernis der Freiheit angesehen und der Begriff der Freiheit mit Unternehmertum assoziiert. In diesem Sinne formuliert Merkel: „Mehr Freiheit möglich machen, das heißt: Wir können den Schwachen etwas abgeben, wenn wir mehr Starke haben, die alle anderen mitziehen“ (ebenda). Dies entspricht der oben erläuterten Verwendung des Begriffs „sozial“ der INSM sehr genau. Ebenso emphatisch wie die INSM setzt sich auch Merkel für die „wirklich Schwachen“ ein. Zu den Schwachen zählen nach Merkel die Kranken, Kinder und Alten. Dies klingt, wie Hebel anmerkt, fast so als sei der Begriff Schwäche eher physisch als gesellschaftlich zu verstehen (vgl. ebenda). Über die vom Gesellschaftssystem Benachteiligten äußert sich Merkel lediglich im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Sozialleistungen. Hinter dem richtungslosen Pragmatismus scheint, so Hebel, die Idee eines moralisch aufgewärmten Wirtschaftsliberalismus durch (ebenda). Bei Merkel wie bei der INSM verbirgt sich die neoliberale Grundhaltung hinter dem Anstrich der Ideologiefreiheit und des Pragmatismus.
Die Ressourcenausstattung der INSM
Nach Bourdieu ist einer der wichtigen Faktoren für die Durchsetzung in symbolischen Kämpfen die Ausstattung mit Ressourcen in Form von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital, das als symbolisches Kapital eingesetzt werden kann. Die reichliche Ressourcenausstattung ist einer der Aspekte, welche die INSM aus der Vielzahl der Reforminitiativen herausragen lässt. Die INSM verfügt über ein Jahresbudget von 8,8 Mio. €, bereitgestellt vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Die Finanzierungszusage läuft vorerst bis zum Jahr 2010. Aus diesem Budget werden Anzeigen geschaltet, Studien und Expertisen erstellt oder in Auftrag gegeben, Publikationen veröffentlicht, Kongresse, Events, Diskussionsveranstaltungen (z. B. die „Ludwig Erhard Lectures“) veranstaltet u. ä.
Als noch wichtiger in den symbolischen Kämpfen erweist sich das „soziale Kapital“ der INSM, welches durch einen weiten Kreis von meist ehrenamtlich tätigen „Kuratoren“ und „Botschaftern“ bereitgestellt wird. Zu diesen zählen z. B. Lord Ralf Dahrendorf (Mitglied des Britischen Oberhauses); Prof. Dr. Hans Tietmeyer (ehemaliger Bundesbankpräsident, „Hohepriester der D-Mark“ (Bourdieu 2004: 64) und Vorsitzender des Kuratoriums); Randolf Rodenstock (Vorsitzender des Aufsichtsrates der Rodenstock AG, Präsident der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft und Mitglied der berüchtigten Société du Mont-Pèlerin)[12]; Roland Berger (internationaler Unternehmensberater); Dr. Arend Oetker, Unternehmer (Präsident des Stifterverbandes der Deutschen Wissenschaft und Vizepräsident des BDI) und noch viele andere mehr.[13] Diese Personen fungieren als Multiplikatoren, indem sie die von der INSM vertretenen Ideen und Konzepte unter Nutzung ihres gesellschaftlichen Ansehens und Einflusses weiterverbreiten und als Identifikationsfiguren für diese Ideen auftreten. Um die Verbreitung der Ideen in unterschiedlichen sozialen Kreisen zu bewerkstelligen und um den Eindruck zu erwecken, es handle sich bei den Konzepten nicht um die Desiderate einer partikularen Wirtschaftslobby, sondern einer breiten, dem Allgemeinwohl verpflichteten „Bürgerbewegung“, setzt die INSM darauf, Botschafter und Kuratoren aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu gewinnen. Mit Michael Hampe und Erwin Straudt befinden sich z. B. ein Theaterintendant und der Präsident eines Fußballvereins unter den Botschaftern.
In dem Bestreben neutral und ideologiefrei zu wirken, wird der Anspruch der INSM auf Überparteilichkeit dadurch untermauert, dass abgesehen von der PDS bzw. Linkspartei Mitglieder aller Bundestagsparteien zu den Unterstützern der INSM gehören oder gehörten. Von der CDU sind Friedrich Merz, Prof. Dr. Dagmar Schipanski und Marie-Luise Dött involviert. Ehemals gehörten auch Edmund Stoiber und Michael Glos von der CSU zu den Botschaftern. Doch wegen allzu harscher Kritik der INSM an den Agrarsubventionen traten beide zurück. Von der SPD waren der kürzlich verstorbene Peter Glotz, Rainer Wend und eine lange Zeit auch Wolfgang Clement beteiligt. Silvana Koch-Mehrin und Carl-Ludwig Thiele von der FDP sind dabei sowie Oswald Metzger und ehemals Christine Scheel von den Grünen. Das Engagement einzelner Parteimitglieder für die INSM bedeutet zwar nicht, dass sich die allgemeine Parteiausrichtung mit den Zielen der INSM deckt, doch ist der symbolische Effekt beträchtlich, wenn Mitglieder der Grünen oder der SPD, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung dem linken Parteienspektrum zugeordnet werden,[14] für neoliberale Gesellschaftskonzepte eintreten. Der symbolische Effekt besteht darin, dass die klare Zuordnung des Neoliberalismus im Rechts-Links-Schema der Parteienlandschaft und damit auch die politische Konfliktlinie zu schwinden scheint. Die breite Streuung neoliberaler Konzepte und deren Unterstützer im politischen Feld verstärkt den Eindruck der Allgegenwärtigkeit und Unhinterfragbarkeit.
Einen weiteren Block bilden die Unterstützer der INSM aus dem wissenschaftlichen Feld. Es handelt sich dabei vor allem um Hochschulprofessoren der Wirtschaftswissenschaften. Der Prominenteste unter diesen wissenschaftlichen Botschaftern ist der für den Wahlkampf ins Merkel-Kompetenzteam berufene Paul Kirchhof, Professor für öffentliches Recht an der Uni Heidelberg und ehemaliger Bundesverfassungsrichter. Diese Unterstützer liefern wie im Fall Kirchhof ausgearbeitete Konzepte und Gutachten und verbürgen die wissenschaftliche Reputierlichkeit der Initiative. In ihrer Funktion als Multiplikatoren können diese Botschafter neben der persönlichen Prominenz auch ihre wissenschaftliche Autorität einsetzen, um „Anerkennungsprofite“ für ihre Äußerungen zu finden. Über die Botschafter bietet sich für die INSM zudem die Möglichkeit, Kontakte zu anderen Instituten herzustellen, z. B. durch Thomas Straubhaar zum Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv und durch Prof. Dr. Ulrich van Suntum zum Centrum für angewandte Wirtschaftsforschung Münster.
Eine besonders enge Zusammenarbeit besteht zwischen der INSM und dem IW. Das IW begleitet die INSM wissenschaftlich, indem es Daten liefert, beim Erstellen von Studien hilft und den hauseigenen Institutsverlag zum Publizieren nutzt (vgl. Speth 2004: 31). Zusammen mit dem IW hat die INSM ein „Reformbarometer“ erstellt, welches monatlich in der Zeitschrift Wirtschaftswoche veröffentlicht wird. Die Aktivitäten der Regierung werden dabei an wirtschaftspolitischen Zielen, wie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Senkung der Sozialabgaben, Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, gemessen, die wiederum auf Vorschlägen der Herzog-Kommission und Friedrich Merz“ Steuerreformkonzept basieren (vgl. Speth 2004: 32). Weitere Medienpartnerschaften bestehen zu den Magazinen impulse und Prinz. Zusammen mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung werden die „Reformer“ und „Blockierer des Jahres“ gekürt.[15] Außerdem ergeben sich noch indirekte Verbindungen zu anderen Medien über die Kuratoren und Botschaftern, z. B. über Kolumnen von Tietmeyer und Metzger im Handelsblatt.
Daneben liefert das Allensbacher Institut für Demoskopie der INSM kontinuierlich Daten zu politischen Stimmungen und Themenkonjunkturen. Mittels dieser Umfragedaten soll abgeschätzt werden, wann es sinnvoll ist eine Kampagne zu starten. Professionelles Timing soll die Effektivität der Aktionen sicherstellen. Gleichzeitig dienen die Umfragedaten als Auswertung der bisherigen Aktivitäten. Es muss sich schließlich zeigen, ob es tatsächlich zu einem Bewusstseinswandel kommt oder nicht.
Die Strategie
Die wesentlichen Charakteristika der Strategie der INSM bestehen im professionellen Marketing, welches sich auch nicht vor negative campaigning scheut, dem Einsatz von Multiplikatoren, dem Anschein der Überparteilichkeit und der Langfristigkeit der Zielverwirklichung.
Die Führung der INSM durch eine Werbeagentur (Scholz & Friends) garantiert ein professionelles Marketing. Speth nennt hier das Konzept der „Integrierten Kommunikation“, welches in den letzten Jahren in der Kommunikationsbranche für Aufsehen gesorgt hat (vgl. Speth 2004: 24). Darunter ist zu verstehen, dass bei der Analyse, Planung, Organisation, Durchführung und Kontrolle von Kommunikation auf eine einheitliche Linie geachtet wird und die verschiedenen Instrumente inhaltlich und zeitlich auf einander abgestimmt werden (ebenda). Bevor eine Aktion gestartet wird, werden demoskopische Daten eingeholt und an diesen der Erfolg der Maßnahmen überprüft. Die verschiedenen Kommunikationskanäle (Anzeigen, Studien, Veranstaltungen, Beiträge von Kuratoren oder Botschaftern) werden aufeinander abgestimmt und zeitlich koordiniert. So beschreibt Oswald Metzger: „Die fragen mich, ob ich Interesse hätte, bei einer Kampagne gegen Kohlesubventionen oder beim Agrarthema etwas zu machen. [...] Dann sage ich o.k., das Thema liegt mir besonders, da kenne ich mich aus, da will ich mich positionieren. Und dann kommt es zu einer Abstimmung“ (Metzger, zitiert nach Speth 2004: 29).
Die INSM setzt in ihren Aktionen gezielt negative campaigning ein: durch bewusste Verstöße gegen den „guten Ton“ versuchen sie, auf sich aufmerksam zu machen. Bei der aus dem amerikanischen Wahlkampf stammenden Methode des negative campaigning geht es darum, den politischen Gegner in möglichst drastischer und medial sehr eingängiger Weise als Versager und auch sonst in jeder Hinsicht als völlig inakzeptabel darzustellen. Da sich die Aussagen oder Darstellungen an der Grenze des Tabubruchs bewegen oder diese überschreiten, provozieren sie Resonanzen, auch wenn diese nicht positiv sein müssen. Die INSM setzt diese Methode ein, wenn sie z. B. den „Blockierer des Jahres“ kürt. Die negative Resonanz hat jedoch dazu geführt, dass die INSM mittlerweile weniger Gebrauch von negative campaigning macht. So wurde in diesem Jahr bei der Wahl des „Reformers des Jahres“ darauf verzichtet, auch den „Blockierer des Jahres“ zu wählen.[16] Ein weiteres Beispiel für das negative campaigning der INSM ist eine Anzeige zur Pflegeversicherung, auf der ein strahlender Norbert Blüm zu sehen ist, wie er einen Bumerang namens Pflegeversicherung loswirft, der ihn am Ende fast selber trifft. Daneben werden die finanziellen Defizite der Pflegeversicherung aufgelistet, während der Bumerang weiter fliegt und Blüm weiter grinst, so dass jeder sofort weiß, dass Blüm ein, sit venia verbo, Depp ist.[17] Zu einem Konflikt führte eine andere Anzeige mit dem Titel „Agrarsubventionen kosten uns ein Schweinegeld“.[18] Daraufhin traten Glos und Stoiber (CSU) von ihren Botschaftertätigkeiten zurück (vgl. Speth 2004: 39). Diese Konflikte und zunehmend negative Presse haben dazu geführt, dass der INSM-Geschäftsführer Tasso Enzweiler, der für diese aggressive PR-Methode verantwortlich zeichnet, Anfang 2006 seinen Platz räumen wird.[19]
Nach Einschätzung des Vorsitzenden des „Netzwerk Recherche“ Thomas Leif hat die INSM jedoch auf der gesamten Klaviatur der medialen Instrumente Erfolge vorzuweisen und liegt mit ihrer Strategie voll auf der Höhe der Zeit, die durch die Durchsetzung eines PR-Journalismus gekennzeichnet ist (vgl. Baetz 2005). Nach Angaben Michael Hallers, Professor für Journalismus, sind in Deutschland ungefähr 30.000 Informationsjournalisten beschäftigt. Dem stehen 15.000 bis 18.000 PR-Journalisten gegenüber, wobei die Tendenz steigend ist. Während die Aufgabe der Informationsjournalisten die Recherche ist, ist die Aufgabe der PR-Journalisten die medien- und auftragsgerechte Aufbereitung der Informationen (ebenda). Die Personaleinsparungen bei den „Qualitätszeitungen“ in den letzten Jahren haben, so Leif, dazu geführt, dass viele der Themen, die die INSM lanciert, von den Redaktionen bruchlos übernommen werden, ohne dass die INSM als Quelle der Informationen ausgewiesen wird. Die INSM hat dadurch eine relative Freiheit bei der Wahl der thematischen Ausgestaltung und der Akzentsetzung der Studien, die wissenschaftliche Qualität für sich reklamieren. Bei den verschiedenen von der INSM durchgeführten Rankings (Bundesländer-Ranking, Städte-Ranking) wird „Wirtschaftsfreundlichkeit“ ganz selbstverständlich als Maßstab herangezogen. Die bereits medial aufbereiteten Ergebnisse bedürfen keiner weiteren Überarbeitung. Der Effekt ist, dass die Grenzen zwischen Information, Werbung und PR verschwimmen.
In der Anfangszeit war die Strategie der Initiative zunächst darauf ausgerichtet, durch spektakuläre Aktionen wie Anzeigen und Plakataktionen auf sich aufmerksam zu machen. Doch weist die langfristige Strategie der Initiative der Rolle der Kuratoren und Botschafter eine wesentlich wichtigere Bedeutung zu. Zumal die finanziellen Ressourcen der INSM zwar üppig sind, aber gewiss nicht ausreichen, um einen Bewusstseinswandel in der gesamten Gesellschaft herbeizuführen. Durch die Aktivitäten der Kuratoren und Botschafter multiplizieren sich die Bemühungen der Initiative jedoch. Dass die INSM bei Stellungnahmen ihrer Unterstützer selbst ungenannt bleibt, ist durchaus beabsichtigt. Dies ist eine Strategie zur Lösung des Problems der Glaubwürdigkeit, die sich nach Angaben des Publizisten Albrecht Müllers vor allem dann einstellt, wenn verschiedene Absender dieselbe Botschaft formulieren (vgl. Baetz 2005). Die INSM setzt dabei auf die Breite ihres Angebots. Sie veranstaltet, der Sendung Monitor zufolge, Kinder-Uni-Vorlesungen zum Thema „Wozu brauchen wir Geld?“, in denen sie ihre Botschaft „Mehr Markt, weniger Staat“ platziert, sie stellt Unterrichtsmaterialien im Internet zur Verfügung[20] und sie finanziert Workshops an der Kölner RTL-Journalistenschule zum Thema „Welche Reformen braucht Deutschland?“ (Müller u.a. 2005). Im September 2005 wurde zudem bekannt, dass die INSM im Jahr 2002 für 58 670 Euro in sieben Folgen der ARD-Serie „Marienhof“ ihre Botschaften zu den Themen „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“, „Wirtschaft in der Schule“ und „Steuern runter“ platzieren ließ (vgl. LobbyControl 2005). In einer Stellungnahme gegenüber der NGO LobbyControl verteidigte sich die INSM gegen den Vorwurf der Schleichwerbung mit dem Verweis, es sei lediglich um die Vermittlung wirtschaftlicher Grundkenntnisse gegangen, die sich auch bei kritischer Betrachtung als ideologiefrei erweisen würden. Die Botschaften hätten also dem öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag entsprochen. Es wurde jedoch eingeräumt, dass die „Kooperation“ mit „Marienhof“ ein Fehler gewesen sei (ebenda). Die Analysen der Szenen aus „Marienhof“ durch LobbyControl zeigen dagegen recht deutlich, dass es sich bei Sätzen wie z. B. „Das ist ja Wucher“ in Bezug auf das Abgabensystem keineswegs um neutrale Aussagen handelt (ebenda). Die INSM hat dementsprechend den Anspruch auf Ideologiefreiheit und Verwirklichung des Bildungsauftrages in ihrer Online-Stellungsnahme nicht wiederholt.[21]
Die INSM wahrt den Eindruck der Neutralität auch dadurch, dass sie sich nicht zu konkret mit Vorschlägen in das politische Geschäft einmischt, da so Konflikte (siehe den Fall Kirchhof) mit einzelnen Parteien vorprogrammiert wären. Der von der Mutterorganisation Gesamtmetall gegenüber der INSM praktizierte Eindruck der Unabhängigkeit wird ebenfalls verstärkt durch die „Politik der langen Leine“ (vgl. Speth 2004: 38). Gesamtmetall macht der INSM im Einzelnen wenig inhaltliche Vorgaben. Diese Strategie geht konform mit der Annahme Bourdieus, dass Legitimation nur dann wirksam wird, wenn sie nicht als Selbst-Legitimation bzw. Selbstbeweihräucherung vor- und wahrgenommen wird, sondern als scheinbar unabhängige und freiwillige Bestätigung von anderen gewährt wird. Insofern ist die Transformation der Macht im ökonomischen Feld in symbolische Macht beispielsweise im Feld der Wissenschaft notwendig, um wirksame Legitimation zu erlangen (Bourdieu 2001: 132).
Herauszuheben ist schließlich die Langfristigkeit der Strategie der INSM. Die vorläufige Festlegung der Förderung auf zehn Jahre ist für eine solche Initiative eine lange Zeit. Sie ist der Erkenntnis geschuldet, dass ein kollektiver Bewusstseinswandel Zeit braucht (vgl. Speth 2004: 39). Diese Einsicht der Förderer geht wiederum konform mit Bourdieus Annahme, dass die doxa tief in den Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata sowie der Praxis verankert ist und diese nicht spontan durch mentale Einsicht, befördert durch Aufklärung oder Propaganda, umgekehrt werden kann.
Fazit
Die Frage, die noch zu beantworten bleibt, ist, ob und wie erfolgreich die INSM bisher tatsächlich war. Dies ist schwierig zu sagen, da kaum herausgefiltert werden kann, welche Einstellungen und Einstellungsveränderungen direkt auf die Aktivitäten der INSM zurückzuführen sind, zumal es zur Strategie der INSM gehört, als Organisation im Hintergrund zu bleiben. Umfrageergebnisse des Berufsverbandes der deutschen Banken scheinen jedoch zu bestätigen, dass es so etwas wie einen Bewusstseinswandel gibt: Auf die Frage, ob die soziale Marktwirtschaft mehr Markt oder Sozialstaat brauche, antworteten der Umfrage zufolge im Jahr 2004 43 Prozent mit „mehr Markt“, während dies vor elf Jahren noch ca. 25 Prozent waren (vgl. Hamann 2005). Dieses Ergebnis ist sicherlich nicht allein auf die Aktionen der INSM zurückzuführen. Nach Meinung von Thomas Leif vom „Netzwerk Recherche“ hat es in den letzten Jahren in den Medien eine Diskursverschiebung gegeben, in der der wirtschaftspolitischen Kehrtwende des Spiegels eine besondere Bedeutung zukommt. Dieser habe früher zusammen mit dem Stern in Fragen der Wirtschaft den Widerpart gegenüber den Mainstream-Medien eingenommen. Seitdem sich auch der Spiegel für neoliberale Ideen begeistere, gebe es in Deutschland kein einflussreiches Medium mehr, welches den neoliberalen Konsens infrage stellen würde (vgl. Baetz 2005).
Durchsetzung und Stabilität eines neoliberalen Konsenses in der Gesellschaft hängt freilich nicht nur von der medialen Durchdringung mit neoliberaler Ideologie ab. Denn die neoliberalen Konzepte müssen auch in der gesellschaftlichen Alltagspraxis als „wahr“, „richtig“ und „gerecht“ empfunden werden, um als „rationale Religion“ Anerkennung zu finden. Sichtbar werdende Systemwidersprüche wie massenhafte Entlassungen trotz steigender Gewinne bedürfen schon einer ausgeklügelten Theologie, um dem Entlassenen als gerechtfertigt zu erscheinen. Die Debatten um Managergehälter oder Franz Münteferings „Kapitalismuskritik“ und auch der erfolgreiche Einzug der Linkspartei in den Bundestag zeigen, dass der neoliberale Konsens keineswegs umfassend ist.
Die Sichtbarmachung von Widersprüchen liegt zudem keineswegs allein in medialer Hand. Eine bedeutende Rolle spielen auch die Ressourcen der von den Widersprüchen Betroffenen hinsichtlich der Fähigkeit, in den Medien Resonanz zu erzeugen. Dazu gehört die Organisation der Interessen durch Gewerkschaften, die durch Streiks wie z. B. im Fall des Opel-Werkes in Bochum auf sich aufmerksam machen können. Fehlen allerdings diese Organisationen und sonstige Handlungsressourcen, wird es für die Betroffenen schwer, sich in den symbolischen Kämpfen Anerkennung zu verschaffen.
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[1] Bourdieu hat an keiner Stelle eine ausführliche und abgeschlossene Theorie der symbolischen Gewalt präsentiert, greift das Thema jedoch insbesondere in seinen späten Publikationen immer wieder auf, vor allem in seiner letzten größeren Monographie Meditationen (Bourdieu 2001). Seine Stellungnahmen zum Neoliberalismus sind in dem Band Gegenfeuer zusammengefasst (Bourdieu 2004). Interpretationen sowohl des Konzepts der symbolischen Gewalt als auch der Stellungsnahmen zum Neoliberalismus bieten Herkommer (2004) und Peter (2004).
[2] Insbesondere in Bezug auf die Idee des „spontanen Konsensus“ bei Gramsci, was bei Bourdieu als scheinbar freiwillige Anerkennung der Herrschenden durch die Beherrschten erfasst wird.
[3] Auf den hier beabsichtigten Bedeutungswandel des Begriffs Reform ist oft genug hingewiesen worden. War in den siebziger Jahren damit noch der Ausbau sozialer Leistungen gemeint, steht Reform mittlerweile für dessen Gegenteil, den Abbau sozialer Leistungen (vgl. Baetz 2005).
[4] Dieser spielt im Werbeprogramm der Initiative keine Rolle, weil zu theoretisch und zu unbekannt (vgl. Speth 2004: 18).
[5] Erhard war z. B. ein großer Gegner der Rentenreform von 1957 und äußerte sich zu verschiedenen Gelegenheiten warnend bis apokalyptisch über die „Maß- und Zuchtlosigkeit“, die gewerkschaftlichen Lohnforderungen und dem Ausbau des damals noch recht dürftigen Sozialstaats innewohnten (vgl. Schmidt 1998: 80, 84; Gemper 2005 und Rapp/Welter 2005).
[6] Eine interessante historische Parallele zum Projekt der INSM stellt die WAAGE dar, eine Initiative , welche von Anfang der 1950er bis Mitte der 1960er Werbung für das Erhardsche Konzept der Sozialen Marktwirtschaft machte. Vergleiche hierzu Schindelbeck/Ilgen (1999).
[7] Z. B.: „Sozial ist, wer durch eigene Leistung zum Wohlstand für alle beiträgt.“ (Hans Tietmeyer, Bundesbankpräsident a.D.); „Sozial ist, wer sich nicht nur auf andere verläßt.“ (Wolfgang Schäuble, Bundesminister a.D.); „Sozial ist, wenn man durch Leistung Solidarität möglich macht.“ (Siegmar Mosdorf, Parlamentarischer Staatssekretär a.D.); „Sozial ist, wer den Schwachen wirklich hilft.“ (Fritz Kuhn, Bundesvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen); „Sozial ist, wer Bildungseliten fördert.“ (Prof. Peter Glotz, Universität St. Gallen) vgl. www.chancenfueralle.de/Datenpool/Sozial_ist.../Sozial_ist/Sozialist_-_Statements.html [20.12.05]
[8] Vgl. www.chancenfueralle.de/Datenpool/Sozial_ist.../Sozial_ist.html [20.12.05; Meine Hervorhebungen].
[9] Ebenda.
[10] Zitat Wolfgang Schäuble, meine Hervorhebung; vgl. Fußnote 7.
[11] Die INSM wirkte an dieser Studie in erster Linie durch finanzielle Förderung und nicht durch inhaltliche Arbeit mit (vgl. Institut der Deutschen Wirtschaft/Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft 2005: 57). Es kann als Teil der Strategie der INSM angesehen werden, dass diese sich eher auf die finanzielle Unterstützung von Studien und deren mediengerechte Aufbereitung beschränkt.
[12] Die Société du Mont-Pèlerin wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von neoliberalen Intellektuellen der ersten Stunde gegründet wie Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und Milton Friedman (vgl. Dixon 2000: 24; Walpen 2004).
[13] Vgl. www.chancenfueralle.de/Die_Initiative/Botschafter.html#937 [20.12.05].
[14] Auch wenn die rot-grüne Regierungszeit erheblich dazu beigetragen hat, diese Vorstellung zu revidieren.
[15] Es wird nicht weiter verwundern, dass zu den Gewinnern Paul Kirchhof und Friedrich Merz und zu den Verlierern Jürgen Peters, Vorsitzender der IG Metall, und Andrea Nahles vom linken Flügel der SPD zählen.
[16] Vgl. www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21460/1.html.
[17] Vgl. www.insm.de/Downloads/PDF_-_Dateien/Anzeigen/Anzeigenmotiv_Pflegeversicherung.pdf
[18] Vgl. www.insm.de/Downloads/PDF_-_Dateien/Anzeigen/210x287_Schweinskopf_Cicero.pdf
[19] Vgl. www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21460/1.html.
[20] Vgl. www.wirtschaftundschule.de/index.html. Die INSM weist auf dieser Homepage noch einmal explizit darauf hin, dass sie sich als branchen- und parteiübergreifende Organisation versteht.
[21] Vgl. www.chancenfueralle.de/Downloads/Word-Dokumente/Statement-Marienhof.doc