Editorial

Juni 2006

Das vorliegende Heft ist B. Brecht aus Anlass seines 50. Todestages im August dieses Jahres gewidmet. Sein Diktum „Nur was ich verändere, begreife ich...“ könnte auch von dem großen Experimentator Galilei stammen. Es bezeichnet eine Voraussetzung nicht nur der Naturerkenntnis, sondern auch der auf Veränderung angelegten Erkenntnis des „gesellschaftlichen Naturprozesses“. Verändern und Begreifen sind insofern Momente der praktisch verstandenen Aufklärung, des eingreifenden Denkens. Manfred Wekwerth berichtet in seinem Interview über den Zusammenhang von Theorie und Praxis im Theater Brechts. Er tut dies aus eigenem Erleben als Schüler Brechts seit den frühen fünfziger Jahren. Es geht um Theaterpraxis, um Brecht als Philosophen, um heutige Möglichkeiten, an Brecht anzuknüpfen. David Salomon konfrontiert Brecht und Bourdieu. Verfremdung hat bei beiden eine vergleichbare Funktion des Bruchs und der Kenntlichmachung. Auch hier geht es um Begreifen und Verändern. Brecht aus der Sicht von Ernst Bloch in den 20er und 30er Jahren ist Thema des Beitrags von Christina Ujma. Bloch schätzte über alles die Seeräuberjenny und war skeptisch gegenüber den Lehrstücken. Dass „die Revolution ... die tänzerischen, die träumerischen, die schönen Propheten“ verachte, beklagte er auf dem Pariser Kongress zur Verteidigung der Kultur 1935. Brecht beharrte dagegen auf der kalten Notwendigkeit, von Eigentumsverhältnissen und Kapitalismus zu sprechen. Aber die Lektüre der Wekwerth’schenErinnerungen lehrt, dass für Brecht gerade hierbei Unterhaltung und Erkenntnis, Veränderung der Welt und Veränderung des Lebens, zusammengehören.

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In Frankreich hat eine soziale Protestbewegung, wie wir sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen haben, das CPE-Gesetz zu Fall gebracht, das den Auftakt zur Destruktion bestehender sozialer Sicherungssysteme geben sollte. Lothar Peter untersucht, was diese Bewegung in Gang gebracht, was zu ihrer Breite und Durchschlagskraft geführt hat. Entscheidend war offenbar die „Mischung“: Drohende Prekarisierung für noch kaum in den Arbeitsprozess einbezogene Absolventen von Massen-Universitäten und Schulen, politische Reaktivierung der Gewerkschaften nach einer langen Phase der Spaltung und des partiellen Eingehens auf die kapitalistische Modernisierung, Dissonanzen und Rivalitäten im herrschenden Block. Peter schlussfolgert, „dass der Druck der gesellschaftlichen Krise nicht zwangsläufig zu einer ideologischen und politischen Zersplitterung der beteiligten Akteure führen muss, sondern dass aus gesellschaftlichen Widersprüchen trotz der enormen symbolischen, sich vor allem der Medien bedienenden Verfügungsgewalt der herrschenden Klasse auch Chancen erwachsen können, um den scheinbar alternativlosen Lauf der Dinge ins Stocken zu bringen.“ (S. 69)

Auf die Verhältnisse der Bundesrepublik bezogen sind die Beiträge von Thomas Lühr, Fabian Rehm und Volker Stork. Lühr stellt Überlegungen zum Konzept der „underclass“ und den sozialen Spaltungs- und Prekarisierungsprozessen vor. Rehm untersucht den Ökonomisierungs- und Privatisierungsdruck im Gesundheitswesen und die Schwierigkeiten der sozialen Gegenwehr, wie sie in der Streikbewegung an den Krankenhäusern zum Ausdruck kommen. Volker Stork gibt einen Überblick zur Ausweitung des Niedriglohnsektors in der Bundesrepublik, der derzeit schon über 20 Prozent der abhängig Beschäftigten umfasst. Er skizziert die gewerkschaftliche Diskussion um Mindestlöhne und sieht im Kampf um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes einen wichtigen Ansatzpunkt, um die Gewerkschaften aus der Defensive heraus kommen zu lassen.

Die in Z 65 begonnene Diskussion um Grundlagen alternativer Wirtschaftspolitik und die Möglichkeiten und Grenzen einer sich auf Keynes stützenden Argumentation setzen wir in diesem Heft mit zwei Beiträgen fort. Gretchen Binus und Irene Gallinge geben mit einem Tagungsbericht eine instruktive Übersicht zu den Konsens- und Dissenspositionen unter linken Ökonomen, wieweit Keynes von links aufgenommen werden kann und soll („Keynes plus“). Jörg Goldberg stellt die Frage, ob keynessche Nachfragesteuerung angesichts von Globalisierung und „strukturpolitischer Blindheit“ von Keynes heute noch der richtige Fokus alternativer Wirtschaftspolitik sein könne oder ob andere Elemente (Arbeitszeitverkürzung, Ökologisierung) im Vordergrund stehen müssten.

Kultureller Rassismus (Wulf D. Hund), der Begriff der „Negativität“ bei Hegel (Thomas Collmer, Fortsetzung zu Z 65) und eine Kritik Derridas als Repräsentant postmoderner Ideologie (Werner Seppmann) sind weitere Themen dieses Heftes. Die Tagungsberichte geben Einblick in die Diskussionen beim Weltsozialforum in Caracas, bei der Oppositionsveranstaltung zum Treffen des Rats der europäischen Wirtschafts- und Finanzminister in Wien, bei einer Tagung über gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten gegen Arbeitsplatzvernichtung unter Bedingungen der Internationalisierung und bei dem gesellschaftspolitischen Forum der Linken „100 Tage Rot-Schwarz“.

Aus Anlass der Wiederkehr des 100. Geburtstages von Wolfgang Abendroth, dem Mentor der intellektuellen marxistischen Linken in der alten Bundesrepublik, waren für Anfang Mai mehrere Veranstaltungen, u.a. in Marburg/L. und in Frankfurt/M., geplant, zu spät für diese Z-Ausgabe. Wir werden über sie im nächsten Heft berichten, doch sei auf die Besprechung der soeben erschienenen Biographie über Abendroths Leben und Werk in den Jahren 1906-1948 verwiesen. Der Besprechungsteil konzentriert sich diesmal hauptsächlich auf ökonomische und gesellschaftstheoretische Kapitalismusanalysen sowie auf historische und aktuelle Sozialismusvorstellungen.

Z 67 (September-Heft) wird als Schwerpunkt die Entwicklung in zentralen Ländern des „peripheren Kapitalismus“ (BRICS-Länder: Brasilien, Südafrika, Indien, China, Russland) zum Gegenstand haben: „Kapitalismus-Typ“, innere Widersprüche und soziale Konflikte, Stellung zu den kapitalistischen Zentren werden Aspekte der Analyse sein.