Anläßlich des fünfzigsten Todestages von Bertolt Brecht am 14. August sprach Z mit dem Regisseur Manfred Wekwerth. Das Gespräch fand am 23.11.2005 in Berlin-Grünau statt. Die Fragen stellten David Salomon und Guido Speckmann.
„Wer Philosophie treibt, der soll nicht
überreden,
sondern zeigen und zu denken geben.“ (Brecht)
Z: Im August 1956 starb Bertolt Brecht. In Ihren Memoiren beschreiben Sie, wie Sie Anfang der 50er Jahre zu Brecht gekommen sind. Wie empfanden Sie persönlich diese Zeit Und welchen Eindruck machte das Berliner Ensemble damals auf Sie?
W: Wie ich zum Berliner Ensemble gekommen bin, klingt heute abenteuerlich. Damals fand ich es zeitgemäß. Amerika, sagte man, sei das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, aber der Osten war es zu Zeiten nicht minder. Hier waren die Verhältnisse in wunderbarer Unordnung, denn hier war ein großer Umbruch im Gang. Die „ostelbischen Junker“, berühmt für ihre Lust zu Kriegen, waren enteignet, ihr Großgrundbesitz unter landlosen Landarbeitern aufgeteilt; es gab in Sachsen eine Volksabstimmung über die Enteignung der nicht weniger kriegerischen Großindustrie; es wurden „Arbeiter- und Bauernfakultäten“ eingerichtet, wo die studierten, die bisher nie hatten studieren können. Vor allem neue Lehrer wurden gebraucht, nachdem die „Machtverehrer, Hirnverheerer“ (Brecht) radikal aus den Schulen geflogen waren. Es war eine „Umwälzung von Grund auf“, wie Volker Braun gern Engels zitiert. In jeder Stadt, in jedem Dorf gab es Leute, die aus Konzentrationslagern kamen oder aus der Emigration, Kommunisten und Sozialdemokraten, bei uns in Köthen auch Liberale, bereit „die Sache in die Hand zu nehmen“. Die „Russen“, sonst nicht zimperlich, hielten sich da sehr zurück, ja, sie untersagten „Radikalen“ die Übernahme des Sowjet-Systems und bestanden auf einer „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“. In unserer Stadt Köthen wurde 1945 eine Vereinigung von KPD und SPD, die spontan erfolgt war, von den „Russen“ rückgängig gemacht. Es wurde allerorts leidenschaftlich gestritten über das, was geschehen soll und wie es geschehen soll. Einig war man sich in einem Punkt: Alles muß anders werden, wie wird sich finden. Da die Alt-Nazis auch aus Verwaltung, Justiz, usw. entfernt waren, mußten diese Leute oft über Nacht „Ämter“ übernehmen. In Köthen wurde der „Lumpenhändler“ Elstermann, ein alter Sozialdemokrat, Oberbürgermeister. Diese Leute mußten das Leiten lernten, indem sie es taten. Es gab damals die berühmten Funktionärs-Witze: „Ein Polizist fährt mit seinem Fahrrad in eine Einbahnstraße und sagt, von einem Bewohner aufmerksam gemacht: ‚Wozu soll ich wissen, was eine Einbahnstraße ist, Hauptsache ich weiß, was ein Nazi ist‘“. Nur eines war für alle sicher: der Krieg war aus, die Zukunft unbekannt, das heißt, nach vorn offen.
Ich war noch im April 1945, als der „Volkssturm“ sich nicht mehr vermeiden ließ, drei Tage „im Kriegseinsatz“, aber hauptsächlich damit beschäftigt, zu vermeiden, eine der knappen Waffen abzubekommen. Ich habe eine von Gott verliehene Gabe: Ich bin vorsichtig. Militärisch heißt das, glaube ich, feige. Als mir doch eine Panzerfaust in die Hand gedrückt wurde und man mich zusammen mit meinem Fahrrad zum „Panzerjagdkommando“ ernannte und mir den Befehl gab, mich in Richtung Magdeburg in Bewegung zu setzen, um Panzer zu jagen, ging ich auf kürzestem Weg nach Hause. Ich schwor mir bei der Gelegenheit, in diesem Leben nicht mehr militärisch tätig zu werden. Das habe ich eingehalten. Fanatische Nazis gab es in meiner Oberschul-Klasse kaum, dafür bereitwillige „Mitmacher“. Die Nazis hatten mit demagogischem Gespür die Hitlerjugend nicht vor allem politisch gedrillt, sondern sich das für Jugend Verlockende von überall zusammengeklaut. Von den Pfadfindern, den Wandervögeln, den Worpswedern, selbst von den englischen Boyscouts. Von der Arbeitbewegung klauten sie sogar die Lieder, die sie mit neuem Text versahen. Wo man einst sang: „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“, sangen wir: „Brüder in Zechen und Gruben“. Es war eine geschickte Mischung von Rübezahl-Romantik und Abenteuerlustigkeit, hinter der sich der Opfergang verbarg. Drei aus meiner Klasse, die mit einem fröhlichen „Ich bin ein freier Wildbretschütz und hab ein weit’s Revier “ auf den Lippen wirklich auf Panzerjagd gingen, mußten feststellen, daß Panzer wesentlich mehr Überlebenschancen haben.
Unsere Generation war am Ende des Krieges in jedem Sinn von absoluter Kopflosigkeit befallen. Selbst wenn man nicht begeisterter Nazis war, hatten die Nazis doch die Gehirne geleert und mit leicht entzündbarem Stroh aufgefüllt: Das „Faustische“, so hörten wir, sei eine deutsche Eigenschaft, die jeden, der nach „Wahrheit“ strebt, berechtige, über Leichen zu gehen. Von Einstein wußten wir, daß er ein „Relativitäts-Jude“ sei, der mit gefälschten Naturgesetzen dem deutschen Volk schaden wolle. Und von Marx, daß er die Arbeit zur Ware erniedrigt habe und Syphilis hatte.
Nach dem Krieg fiel man in ein Nichts. Man konnte sich an nichts mehr halten. Also blieb einem gar nichts anderes übrig, als selbst nachzudenken. Wir hatten in Köthen einen Pfarrer Karl Hüllweck, offiziell Prediger in Sankt Jacob, insgeheim Existentialist. Zu ihm konnte man Donnerstag nachmittags kommen, bekam heißen Tee und gute Worte und hatte für zwei Stunden einen „Platz in der Herberge“. Bei ihm lasen wir Sören Kirkegaard, Meister Eckart und den „Ackermann aus Böhmen“, aber auch Sartres „Die Fliegen“. Hier entdeckte ich die riesigen weißen Flecken in meinem Gehirn: die Unwissenheit, die uns die Nazis hinterlassen hatten.
In dieses Vakuum fiel mir wie aus heiterem Himmel ein Stück in die Hand. Ziemlich zerlesen, auf dünnem Papier hektographiert. „Die Gewehre der Frau Carrar“, ein Stück über den Spanischen Bürgerkrieg, geschrieben von einem Bert Brecht. Und da wir – um nicht der Lethargie zu verfallen – eine Laienspielgruppe gegründet hatten und nach Stücken suchten, war uns jedes Stück recht. Aber dieses Stück hatte etwas besonderes. Die verknappte, dabei reale Sprache und die dichte Handlung übten einen mir bis dahin unbekannten Sog aus. Von Brecht hatten wir 1945 noch kaum etwas gehört. Das erste war im Radio das „Solidaritätslied“, gesungen von Ernst Busch. Dieses Lied, mehr noch diese Stimme, bewirkten bei mir mehr als politische Aufklärung: ein endliches Erwachen aus dem Idiotentiefschlaf. Dieses Stück nun „haute mich um“, ja, ich schämte mich plötzlich, wie erbärmlich unwissend wir eigentlich bisher gelebt hatten. (Als ich später Brecht davon erzählte, war er erschrocken: Er wolle eigentlich niemanden umhauen, sondern aufrichten. Ich beruhigte ihn, ohne mich damals „umzuhauen“, hätte es für mich auch kein Aufrichten gegeben.) Wir beschlossen, das Stück zu machen. Ich kannte einen Arbeiter, der vor 1933 in proletarischen Chören gesungen hatte. Er kam öfter zu uns in die Laienspielgruppe, mochte aber Theater eigentlich überhaupt nicht, für ihn war es „Verstellerei“. Ständig mäkelte er an uns herum wegen „zu lascher Haltung bei der Kunstausübung“ und wollte uns die „proletarische Grundstellung“ beibringen, mit der er in Arbeiterchören gesungen hätte: Beine gespreizt, herunterhängende gekreuzte Arme, geballte Fäuste. Wir haben ihn eigentlich nicht ganz ernst genommen und er uns nicht. Aber es war eine Aura um ihn: Ein richtiger Arbeiter von der Drehbank! Den fragte ich also, ob er Lust habe, die Rolle des Arbeiters und Milizionärs Pedro in dem Stück zu spielen. Er erklärte mich für verrückt. Und, um die Unsinnigkeit zu beweisen, las er den Text „ohne Kunst“ herunter. Zu seiner Verblüffung waren wir begeistert. Mit seiner Stimme und dieser Haltung mußte er „gar nichts machen“. Da stand eine reale Figur vor uns. Er hat sich zähneknirschend bereit erklärt, sagte aber noch: „Ihr werdet euch wundern, wie das ausgeht.“ Damit sollte er Recht behalten.
Wir haben Brecht zur Premiere eingeladen. Wir waren der Meinung, wenn wir schon ein Stück von ihm machen, ist es recht und billig, dass er kommt und sich das anschaut. Bescheidenheit war unsere Sache nicht, sie wäre in diesem Fall auch nur hinderlich gewesen. Doch sagten wir uns, eine einfache Einladung reicht für so einen berühmten Mann nicht aus, hier ist ein wenig Nachdruck nötig. Wir kannten Horst Sindermann, damals in Köthen Chefredakteur der Tageszeitung „Freiheit“, später war er übrigens Politbüromitglied. Damals aber einer, „mit dem man Pferde stehlen konnte“. Und so etwas hatten wir ja vor. Ihn baten wir, in der „Freiheit“ zu drucken: „Zur Premiere ist der Autor Bert Brecht anwesend.“ Und der druckte das. Wir schnitten es aus und schickten das Ganze nach Berlin. Adresse: Bert Brecht, Berliner Ensemble. Dann haben wir gewartet. Entweder ist er der große Mann, wie es heißt, dann hat er Humor und kommt. Kommt er nicht, ist das mit der Größe ein Gerücht. Er kam zwar nicht, schickte aber die zwei Autobusse des Berliner Ensembles mit der Bitte, einzusteigen und unsere Inszenierung in Berlin zu zeigen. Da wir von der „großen Theaterwelt“ keine Ahnung hatten, fuhren wir dahin wie in jede Dorfkneipe, in der wir gespielt hatten. Hätten wir gewusst, wen Helene Weigel auf die Probebühne des Berliner Ensemble eingeladen hatte, wir hätten kein Wort herausgebracht: Ernst Busch, Therese Giehse, Erwin Geschonneck, Paul Dessau, Hanns Eisler, Elisabeth Hauptmann, Ruth Berlau, Wolfgang Harich, Jakob Walcher, Paul Wandel (immerhin Kulturminister!), die Ost-Berliner Intendanten, alle Schauspieler des Berliner Ensemble. Und sie alle waren sehr gerührt, daß „junge Menschen aus der Provinz ein halbes Jahr daran gearbeitet haben“ und klatschten enorm. Brecht war der einzige, der uns ernst nahm. Er war nicht gerührt, er kritisierte uns. Da seien ziemliche Fehler. Und er inszenierte sie um. Vor allem die Figur der Carrar, die Brecht zu „dampfig“ fand. Denn für uns war die Carrar vor allem Spanierin (jedenfalls was wir uns unter Spanien vorstellten) und nicht eine Fischersfrau. Und Brecht strich die „Hitze“, und stellte die Fischersfrau her. Das dauerte zwei Stunden bis gegen Mitternacht. Mitternacht war mein Hauptdarsteller, der nichts vom Theater wissen wollte, Schauspieler am Berliner Ensemble. Von Brecht engagiert, weil er ihm „gern zugeschaut“ habe. Ich war sauer, denn ich war schließlich der Regisseur. Am nächsten Morgen – wir wollten gerade abfahren – traf ich Brecht an der Tür. Brecht muß meinen Frust gemerkt haben, denn er sagte unvermittelt, er hätte gesehen, dass da noch viel gelernt werden müsse. Ich dachte, nun kommt das übliche: Sie können ja wiederkommen, wenn Sie etwas gelernt haben. Aber Brecht sagte: „Wenn Sie Lust haben, können Sie das am Berliner Ensemble tun.“ Das war im März 1951.
Betriebspartnerschaften
Z: Das Berliner Ensemble unterhielt auch Kontakt zu Betrieben und Belegschaften.
W: Bevor 1948 die – heute legendäre – Premiere von „Mutter Courage und ihre Kinder“ im Deutschen Theater in Berlin stattfand (Brecht hatte ja noch kein eigenes Theater), bestand er darauf, eine Vor-Aufführung vor Fabrikarbeitern zu machen. Die fand, was die wenigsten wissen, tatsächlich statt. Brecht lag an der Meinung dieser Leute. Er sprach nach der Aufführung mit ihnen. Die Arbeiter hatten bei der für sie ungewohnten Aufführung viele Fragen, Kritiken, es gab auch schroffe Ablehnung und Unverständnis. Brecht beantwortete alles mit großer Geduld. Darüber gibt es Notizen von ihm („Gespräch mit einem jungen Zuschauer 1948“). Das war ja das Publikum für das Brecht mit Vorliebe schrieb oder schreiben wollte. Das bestreiten „Brecht-Kenner“ heute allerdings.
Das Berliner Ensemble hatte von Anfang an Verbindungen zu Produktions-Betrieben. Bei meinem Einstellungs-Gespräch mit Helene Weigel bekamen ich und „mein“ Pedro, jener Arbeiter, der nunmehr Schauspieler war, nicht nur den Auftrag, das Theatermachen zu erlernen, sondern sie schickte uns vom ersten Tag an in Produktions-Betriebe, weil wir, wie sie sagte, im Umgang mit Arbeitern Erfahrung hätten. Und sie wollte vor allem die Arbeiter als Zuschauer gewinnen.
Es gab in Berlin einen Betrieb, der hieß Secura und stellte Registrierkassen her. Mit ihm hatte das BE einen festen Vertrag: Die kamen regelmäßig zu uns ins Theater und wir gingen zu ihnen und diskutierten über die Aufführungen. Als der Betrieb einmal „Planschulden“ hatte, schlugen Brecht und Weigel vor, ihnen auch „praktisch zu helfen“, kurz: mitzuarbeiten. Und da wir offenbar nicht allzu große Lust zeigten, ging Brecht mit gutem Beispiel voraus. An einer Werkbank „schliff“ er frisch lackierte Kassen. Nicht sehr lange, eine Stunde vielleicht, und wir mußten es etwas länger tun. Aber er hat das mit großem Ernst getan.
Wir hatten später einen ständigen Kontakt zu Buna. Buna ist die Kurzform für „Petrochemisches Kombinat Buna-Merseburg“. Ein riesiger Betrieb in der Nähe von Halle, zuständig für Plaste-Herstellung. Die Buna-Werke wurden damals von einem berühmten Generaldirektor geleitet. Er galt als großer Fachmann und zugleich als großer „Menschenfischer“, wie es in der Bibel heißt. Das heißt die Leute liefen ihm zu, was bei dem ständigen Arbeitskräfte-Mangel in der DDR sehr wichtig war. Dieser Chef wurde so verehrt oder ließ sich so verehren, dass in den Büros keine Bilder vom Staatspräsidenten Wilhelm Pieck hingen, sondern seine. Es war echter, aber eben ehrlicher Personenkult. Mit diesem Betrieb hatte das Berliner Ensemble einen Vertrag. Vier bis fünf Mal im Jahr kamen ca. 800 Leute zu uns nach Berlin ins Berliner Ensemble. Dafür mietete der Betrieb bei der Reichsbahn einen ganzen Zug, der die Leute bei Tagesanfang nach Berlin transportierte. Die Leute, es waren auf unseren Wunsch hauptsächlich Arbeiter, hatten tagsüber Gelegenheit, sich Berlin anzuschauen und kamen abends zu uns ins Theater. Nachts fuhren sie zurück. Einmal sahen die „Bunesen“ „Die Tragödie des Coriolan“ von Shakespeare in der Bearbeitung von Brecht. In dem Stück geht es um einen erfolgreichen römischen Feldherrn, der, aus dem Krieg zurückgekehrt, zum Konsul gewählt wird, da das Volk den „Sieger von Corioli“ kultisch verehrt. Als Konsul versucht er durchzusetzen, daß die Rechte des Volkes, zum Beispiel das Recht sich Tribunen zu wählen, wieder abgebaut werden, indem er es mit seinen Verdiensten erpreßt. Er hält sich für unersetzbar. Nach heftigen Auseinandersetzungen verbannt ihn das Volk aus Rom. Ist es bei Shakespeare das „wankelmütige Volk“, das zu „billig“ ist für einen so großen Mann, drehte Brecht die Geschichte um: Bei ihm ist der große Mann zu teuer für das Volk. Er muß ersetzt werden. Damals war „Coriolan“ auch ein Beitrag des Berliner Ensembles zur Diskussion um Stalin und den „Personenkult“. Wir wollten zeigen, daß für einen Personenkult nicht nur die Person verantwortlich gemacht werden kann, sondern vor allem jene, die den Kult betreiben. Also die Leute selber.
In dieser Zeit kam es in Buna zu einer Diskussion. Viele fragten plötzlich, warum der Generaldirektor Bilder von sich im Betrieb aufhängen läßt oder es duldet. Denn der Generaldirektor setzte zunehmend seinen Willen mit der Drohung durch: „Wenn das nicht akzeptiert wird, trete ich zurück“. Und offenbar neigte man dann dazu, „umzufallen“ und ihn gewähren zu lassen. Irgendwann erinnerte sich einer an „Coriolan“ im Berliner Ensemble, zog bei einer Diskussion das Programmheft hervor und las vor, was Brecht über „große Männer“ dachte, die sich für unersetzlich halten und die mit ihren Verdiensten die Gesellschaft erpressen: Sie müssen im Interesse des Weiterbestandes der Gesellschaft ersetzt werden, auch wenn das zunächst ein Verlust ist. Tatsächlich trat der Generaldirektor dann irgendwann zurück. Ich will nicht behaupten, daß es die Folge des Theaterbesuchs war, aber mitgeholfen hat das bestimmt. In diesem Fall beförderte „Coriolan“ nicht nur in Rom, sondern auch in Buna das Unbehagen mit dem Kult um den „großen Mann“, an dem die Leute nicht unschuldig waren. Im Gegenteil, sie waren es ja, die seine Bilder am Arbeitsplatz aufhängten. Bei ihnen kam wahrscheinlich so etwas wie Scham auf.
Oft wird behauptet, auch wirksames Theater könne in Wirklichkeit nichts bewirken. Tatsächlich wirkt Theater nie direkt, aber es kann indirekt viel auslösen: oft aus der Erinnerung heraus. Durch Haltungen, Figuren, Impulse, die sich eingeprägt haben, ohne daß man sich dessen in jedem Moment bewußt ist. Es wird Teil des „Erfahrungsbewußtseins“. Es geht oft „unbewußt“ in den Alltag ein. Es wird Gewohnheit.
Von Brecht heißt es immer, er wolle mit seinem Theater Gewohnheiten zerstören. Alte Gewohnheiten zu zerstören heißt aber, neue Gewohnheiten zu schaffen. Denn gewohnte Verhaltensweisen regeln als Teil des Unterbewußten die meisten unserer Lebensabläufe. Brecht zitierte gern Lenins Satz, daß in der Kultur nur das als erreicht gelten könne, was in den Alltag, was in die Gewohnheit eingedrungen ist. Erst wenn zum Beispiel Menschen, die nicht denken, beginnen, sich so darüber zu schämen, als gingen sie nackt über die Straße, könne man vom Beginn einer Kulturrevolution reden.
In Buna sprach man noch lange davon, daß den Generaldirektor das Schicksal des General Coriolan ereilt habe. Das sagte man nicht ohne ein Schmunzeln. Der Generaldirektor hatte uns nämlich kurz zuvor ziemlich unwirsch gefragt, worin denn eigentlich der Nutzen der Theaterbesuche liege. Er bezahle den Leuten ständig die teuren Theaterfahrten zum Berliner Ensemble, aber die Arbeiter würden am nächsten Morgen keinesfalls besser arbeiten, im Gegenteil, sie wären müde: „Wo ist da ein Nutzen der Kunst ?“ Er sollte es auf unerwartete Weise erfahren.
Die Beziehung zwischen dem Berliner Ensemble und dem Chemie-Kombinat Buna waren sicher einmalig. So etwas hat es meines Wissens in der Theatergeschichte noch nicht gegeben. Wir bauten dort eine regelrechte Abenduniversität auf. Es wurde über Theater gesprochen, über Ästhetik, Musik, über Philosophie, über Politik, über Schauspielkunst, über Bühnenbild, aber auch über ganz alltägliche Probleme der Buna-Leute. „Dozenten“ waren Helene Weigel, der Chefdramaturg Tenschert, der Komponist Paul Dessau, der Bühnenbildner Karl von Appen, die Schauspieler Ekkehard Schall, Ernst Busch, Hilmar Thate, sogar unser „weltberühmter“ Theaterplastiker Eddie Fischer, der die Theater in der halben Welt mit feuerspeienden Drachen für „Siegfried“, steinernen Gästen für „Don Giovanni“ und Kühen für Händel-Opern versorgte, unterrichtete den Arbeiter-Zirkel für Bildhauerei und Plastik. Neben den „Lektionen“ berieten Schauspieler die Laienspielgruppe des Betriebes und unsere Musiker kümmerten sich um das Laienorchester, ja Dessau komponierte mit ihnen gemeinsam.
Eine Münchner Filmgruppe hat vor einem Jahr das Kulturhaus in Buna entdeckt und damit alles, was damals dort an Kultur vor sich ging. Denn heute steht es leer, da Buna „abgewickelt“ wurde. Das Kulturhaus soll an jemanden verscheuert werden, der daraus eine Disko machen will. Das Filmteam hat gründlich bei „Zeitzeugen“ recherchiert und will einen Dokumentarfilm darüber drehen. Sie sind mit dem Drehbuch zu den Fernsehsendern gelaufen. Beim Mitteldeutschen Rundfunk wurde ihnen mitgeteilt, daß ihr Bericht zwar interessant sei, aber falsch. Dieser Film müsse durch die „Wahrheit“ ergänzt werden. Und die Wahrheit ist der „Unrechtsstaat“ (Mauer und Stasi) und der „Kultur-Begriff der DDR, nach dem die Kultur ausschließlich propagandistischen Zwecken untergeordnet war“. Ohne diese „Ergänzungen“ gäbe es für den Film keine Chance. Ich erinnere mich, noch 1998, anläßlich des hundertsten Geburtstags von Brecht, begründeten Fernsehsender, wenn sie ein Drehbuch politisch ablehnten, es etwas vorsichtiger, zum Beispiel mit fehlendem Geld. Heute sagen sie die Wahrheit, ihre Wahrheit: Ein Film über die DDR muß mit ihrem Bild der DDR übereinstimmen. Die Fernsehsender haben zu ihrer Ehrlichkeit zurückgefunden.
Theaterarbeit
Z: Wie war das Arbeitsklima am Berliner Ensemble und welches Verhältnis hatten die Schüler zu Brecht?
W.: Im Berliner Ensemble wurde man nach der Güte seiner Vorschläge bewertet, nicht nach der Güte seines „Namens“. Sicher, Brecht war die „zentrale“ Autorität, aber wir hatten vor Brecht weder Angst noch übermäßigen Respekt. Und er schien das auch so zu wollen. Ich war schließlich „Laienspieler“, als ich im Berliner Ensemble anfing. Und natürlich waren die bereits „Etablierten“ wie Peter Palitzsch, mit dem ich später zusammengearbeitet habe und befreundet war, von knalligem Selbstbewusstsein, man kann es auch Hochmut nennen. Bei Brecht fehlte das. Er fragte bei Mitarbeitern nie nach dem Status, den sie bereits im Theater oder in der Öffentlichkeit hatten, sondern nach Nützlichkeit. Man kann es auch Brechts Philosophie der Brauchbarkeit nennen. Brauchbarkeit nicht im Sinne von Ausnutzen, wie es heute oft blödsinniger Weise behauptet wird: Es ging Brecht dabei um „die dritte Sache“, einer Sache also, der man gemeinsam nutzte. Auch um sich über „die dritte Sache“ menschlich näher zu kommen. Beurteilt wurde man nicht, wie lange man schon beim Ensemble war oder was man an Erfolgen vorzuweisen hatte, beurteilt wurde man nach dem, was man im Moment konkret an Vorschlägen, Kritiken, Beiträgen einbrachte. Ich war ganze drei Tage am Berliner Ensemble, als ich „ins Wasser geworfen wurde und schwimmen mußte“. Ich wurde Brechts Assistent bei seiner Neu-Inszenierung der „Mutter Courage“.
Unwissenheit ist unbescheiden. Ich habe sofort meine Vorschläge gemacht und sie wurden zu meiner Überraschung angenommen. Kein Mensch kannte mich dort, aber Brecht sagte: „Wekwerth meint folgendes.“ Vorschläge konnten noch so verrückt sein, man mußte sie begründen können. Vorschläge ohne Begründung ertrug Brecht nicht. Da gab es schon mal Wutausbrüche. Und gekonnte Wutausbrüche beherrschte Brecht ebenso perfekt wie schallendes Gelächter. Beides kam aus dem Herzen. Lachen liebte er auf Proben eigentlich am meisten. Und es war – auch bei ernsten Szenen – meist ein Zeichen seiner Zustimmung. Er konnte sich auch vor Lachen „ausschütten“, wenn etwas „stimmte“, also vom Schauspieler gut beobachtet war. Es mußte nicht einmal komisch sein. In seinen theoretischen Schriften nennt Brecht so etwas anspruchsvoller „die Kunst der Beobachtung“, die er übrigens wie Denis Diderot für den Ausgangspunkt aller Schauspielkunst hält. Doch auch hier sollte man mit Legenden von „Brecht, dem Gerechten“ oder „Brecht, dem Weisen“ vorsichtig sein. Wutanfälle kamen manchmal auch wie Blitze aus heiterem Himmel. Selbst ein harmloser Scheinwerfer, ein bißchen zu früh eingeschaltet, konnte Hurrikans auslösen. Dafür gab es – vor allem unter den Bühnen-Technikern – das geflügelte Wort: „Brecht geht vor Recht“.
Z: Konnte man Brecht kritisieren?
W.: Der Legende nach ja, und er soll Kritik geliebt haben. Das ist natürlich Quatsch. Kein Mensch „liebt“ Kritik. Oder vielleicht theoretisch, also im Hegelschen oder Marxschen Sinne, wo Kritik als Voraussetzung von Veränderungen immer positiv ist. Ohne „kritische Haltung“ ist weder Brecht noch sein Theater denkbar. Aber im konkreten Fall wich die Liebe zur Kritik leicht dem Unmut. Sagte man Brecht nach einer Probe „Brecht, was Sie da gemacht haben, finde ich falsch“ (schließlich sollte man alle Einwände sagen), kam oft nur ein stummer Blick. Bestenfalls ein: „Schreiben sie es auf.“ Direkte Begeisterung konnte ich eigentlich nicht feststellen.
Brecht hatte, von mir assistiert, das DDR-Gegenwartsstück „Katzgraben“ von Erwin Strittmatter inszeniert und wir waren stolz, endlich einen positiven Schluß gefunden zu haben. Sicher etwas „romantisiert“, da die Realität an „positiven Schlüssen“ damals nicht all zu viel hergab. Palitzsch, gerade zurück aus Schweden, sah die Premiere. Am Ende ging Brecht erwartungsvoll auf ihn zu: „Palitzsch, wie fanden sie den neuen Schluß?“ Palitzsch, der als Sachse kein „sch“ sprechen konnte, sagte: „mörderich“. Fassungslos drehte sich Brecht auf dem Absatz herum und ließ Palitzsch stehen. Drei Wochen lang sprach er nicht mit ihm und wenn, dann mit der Anrede „Herr Palitzsch“, bei ihm der äußerste Grad von Verachtung. Irgendwann kam aber dann der Brecht wieder durch. Nach drei Wochen rief Brecht bei Palitzsch an, es war ziemlich spätabends. Palitzsch wußte das noch so genau, weil er zu dieser Zeit mit einer Mitarbeiterin im Bett lag, deren Bewunderung wegen ihrer „proletarischen“ Herkunft er mit Brecht teilte. Brecht sagte: „Störe ich“, so begann bei ihm jedes Telefongespräch, und ohne die Antwort darauf abzuwarten, begann er nach allem möglichen zu fragen, wonach er auch am nächsten Morgen hätte fragen können. Als Palitzsch verwundert den Hörer auflegen wollte, kam – immerhin nach drei Wochen – dann die Frage: „Und warum mörderisch?“
Z: Inwiefern kam da der Brecht durch?
W.: Brecht hatte in dieser Beziehung etwas von seinem Galilei, der auch nicht der „Verführung widerstehen kann, die von einem Beweis ausgeht“. Brecht war ein kommunikativer Mensch. Er brauchte zum Denken das Gespräch, also den anderen Menschen. Man könnte auch sagen, er lebte auch „privat“ die von ihm geschätzte Philosophie der Praxis. Denken war für ihn handeln, eben sprechen, diskutieren, kritisieren, planen, entwerfen, verwerfen usw. Ein Gedanke existierte für ihn erst, wenn er ausgesprochen, besser aufgeschrieben war. Brecht brauchte immer jemanden, mit dem er denken, also reden konnte. Seine Neigung zum kollektiven Arbeiten kam bei ihm nicht – wie es in Biografien steht – aus „sittlich-politischem Bekenntnis zum Kollektiv“, sondern aus ureigenstem Bedürfnis. Aber auch nicht – wie es auch in Biografien steht – um jemanden auszubeuten. Es war seine produktive Unfähigkeit, allein arbeiten zu können oder zu wollen. Selbst wenn er Gedichte schrieb, wurde man gerufen, weil er ein Gedicht, das er geschrieben hatte, vorlesen mußte, erst dann existierte es für ihn. „Was meinen Sie?“, war da die stete Frage. Und er erwartete wirklich eine (begründete!) Meinung. Überhaupt war das Gespräch, die Diskussion, das gemeinsame Fabulieren, Lachen, Spekulieren, „Spinnen“, Unsinn eingeschlossen, seine liebste Arbeits-, Denk- und Lebensweise, sein „Lustgewinn“ (und ohne Lust, gestand er einmal, könne er überhaupt nicht arbeiten). Da konnte es spät abends passieren, daß man angerufen wurde – immer mit dem höflichen „Störe ich?“. Und er störte ja manchmal wirklich, aber man ging natürlich hin. Gespräche bei Brecht hatten immer etwas von großartiger Unterhaltung (nicht umsonst nennt er Unterhaltung das nobelste Geschäft des Theaters). Die Gespräche weiteten sich meistens weit über den eigentlichen Gegenstand aus, man war schnell bei Gott und der Welt. Der oft als „mathematischer Logiker“ und Rationalist verdächtigte Brecht war das Gegenteil. Er genoß geradezu die Sprünge vom „Hundertsten ins Tausendste“. Auf die Weise entstanden oft die großartigsten Unternehmungen, die eigentlich gar nicht geplant waren. An einem Abend entstand so zufällig die Arbeit an Shakespeares „Coriolan“. Wir waren zusammen gekommen, eine Besetzung für Molieres „Don Juan“ zu finden. Über den Vorschlag, Ernst Busch mit dem Don Juan zu besetzen (Brecht: „Der würde, um eine Frau zu verführen, doch keine großen Reden halten, sondern sie in den Arsch kneifen!“), kam Brecht – mehr als Witz – darauf, der „Prolet“ Busch müsse einmal einen großen Adligen spielen. Nachdem Friedrich der Große als zu alt verworfen wurde, kam Brecht auf den Coriolan. Zum Schluß hatten wir keine Moliere-Besetzung, dafür den Auftrag, mit der Coriolan-Übersetzung zu beginnen. Über den produktiven „Unlogiker“ Brecht ist noch viel zu wenig geschrieben worden. Eigentlich dachte er nicht nur dialektisch, er lebte die Dialektik geradezu: „Die Überraschungen der logisch fortschreitenden oder der springenden Entwicklung, der Unstabilität aller Zustände, der Witz der Widersprüchlichkeiten usw.“, schreibt er 1954. In einem kleinen Gedicht „Vergnügungen“ nennt er neben dem Schreiben, Pflanzen, dem Hund, dem Reisen und neben neuer Musik die Dialektik an 7. Stelle der Vergnügungen. Und in einer Stalin-Kritik nennt er 1956, kurz vor seinem Tod, die Abschaffung der Dialektik durch Stalin dessen größtes Vergehen. Ich habe in meinem Buch „Erinnern ist Leben“ versucht, diese Seite Brechts zu beschreiben. Einmal fragte ich ihn, der bei einem Gespräch wieder einmal große Sprünge machte und die Sprünge als „Produktivität“ lobte, warum er eine Schrift wie „Das Kleine Organon für das Theater“ dann in derart logischer Strenge und mit fast lateinischem Satzbau geschrieben habe. Die war Antwort verblüffend: „Erstens, damit die Theaterleute, die dazu neigen, alles sofort zu verstehen, sich etwas mühen müssen; zweitens, weil ich mich selber disziplinieren muß, da ich zu spontan bin.“
Z: Sie haben eingangs erzählt, Brecht habe Sie zum Lernen engagiert. Wie genau lernte man am Berliner Ensemble?
W.: Brecht war wahrscheinlich ein guter Lehrer: Er lehrte nicht. Oder besser, er lehrte, indem er von Anfang an zur Mitarbeit einlud. Mitarbeit war für ihn die beste Form des Lernens (und die angenehmste). Es lag an einem selbst, ob man lernte oder ob man es sein ließ. So blieben von zwölf „Schülern“, die wir anfangs waren, am Ende drei. Allerdings gab es auch (vergebliche) Erziehungs-Maßnahmen. Alle Assistenten bekamen einmal einen bösen Brief, noch dazu zu Weinachten. Denn Brecht war – so konnte er nie enttäuscht werden – der festen Meinung, daß Assistenten faul sind (und hatte wohl nicht ganz Unrecht). In diesem Brief steht übrigens der berühmte Satz, der inzwischen zum Brecht-Zitatenschatz zählt: „Das Interesse, das jemand am Theater nimmt, ist der eigentliche Gradmesser des Talents“. Brecht hatte aber meistens eine sichere Hand, die Produktivität jedes einzelnen zu wecken, einfach, indem er dazu einlud. Allerdings verlangte er Wissen. Und Wissen fehlte uns damals erheblich. (Heute ist es bei jungen Theaterleuten wahrscheinlich nicht besser. Oder?) Ob es die Kenntnis der Bibel war oder des „Kapitals“ von Marx, Kenntnis von Cicero, Shakespeare, Kleist, Einstein, Hölderlin – für Brecht war es „einfach beschämend“, so etwas nicht zu wissen.
Die Proben im BE begannen um 10 Uhr. Um 7:30 Uhr aber mußten wir uns zweimal die Woche zu Philosophievorlesungen bei Wolfgang Harich einstellen. Er war damals der jüngste und eigenwilligste marxistische Philosophie-Dozent an der Humboldt-Universität. Harich wurde von Brecht sehr geschätzt, wahrscheinlich weil Harich auch ihn über alles schätzte. Harich eröffnet uns damals ein ganzes „Universum“ an unbekanntem Wissen, selbst ein Nicolai Hartmann oder ein Arnold Gehlen fehlten nicht. Für mich waren die Vorlesungen bei Harich so etwas wie „atheistische Pfingstfeste“. Uns gingen wunderbare „Lichter“ nicht nur auf dem Kopf, sondern im Kopf auf. Er vermittelte nicht nur Wissen, er versetzte einen in den Zustand unbändiger Neugier. Man entdeckte, was man alles nicht wußte, aber man entdeckte es mit Freude. Kam man aus seinen Vorlesungen, war selbst an diesen frühen Morgenstunden die Welt heiterer, das Licht heller, der Himmel höher. Schon aus Lust am Leben war man bemüht, mehr Wissen zu erlangen, aber eben selbstständig. Es war nicht „verordnet“. Außer daß man zu Harich ging. Das mußten wir uns sogar von Harich nach jeder Vorlesung quittieren lassen und Brecht kontrollierte es tatsächlich. Aber das war das einzige, was er kontrollierte. Brecht ging, glaube ich, davon aus, daß zu einem guten Schüler genügend Abneigung gegen Gehorsamkeit gehört. Das Lernen im Berliner Ensemble folgte, wenn man so will, einem alten persischen Sprichwort, daß man nur zu dem erzogen werden kann, was man letzten Endes selbst will. Oder auch einer marxistischen Überlegung, daß nur die Selbsttätigkeit wirklich Wissen verschafft, da sie Genuß an Wissen vermittelt. Es ist dann Wissen, das zu einem selbst gehört, da man es selbst erworben hat. Das ist mehr als bloße geistige Übertragung von einem Gehirn auf ein anderes. Für Brecht war Denken ohne Genuß so viel oder so wenig, wie ein Atmen ohne Luft zu holen. Wenn man eigene Vorschläge machte, lernte man auch da, wo sie abgelehnt wurden. Denn man lernte etwas Entscheidendes: Das Lernen selbst. Heute würde man von „Trial and error“ sprechen. Lernen am BE war wirklich ein praktisch-sinnlicher Vorgang. Ja, es war mühevoll, aber eine Mühe die Vergnügen machte.
Für Brecht waren alle Denkvorgänge, also auch das Lernen „Vorgänge“, wie überhaupt „Vorgang“ einer seiner Lieblingsbegriffe war. Erst als Vorgang, in der praktischen Tätigkeit, findet der Mensch seine Selbstbestätigung, also auch sich selbst, was nur ein anderer Ausdruck für Genuß ist: Im Leben wie in der Kunst. „Erst was ich verändere, begreife ich“ (Brecht). Das bezieht sich auch auf den einzelnen Menschen selbst. Der Mensch als Subjekt war für Brecht keine fertige Tatsache, sondern ständiges Tun. „‚Ich‘ bin keine Person. Ich entstehe jeden Moment, bleibe in keinem“, schreibt er 1930. Ein dunkler, schöner Satz, der vieles erhellen kann, auch Brecht und seine Arbeit. Vor allem eben Brechts Hochschätzung des Genusses, den er wie ein anderer „Genießer“ vor ihm mit dem Namen Karl Marx als die „höchste Form menschlicher Selbsttätigkeit“ sieht.
Z: Aber Brecht will doch mit seinem Theater vor allem Erkenntnisse vermitteln. Heute ergeht gegen ihn ja geradezu der Vorwurf, er wolle das Publikum belehren, als seien es Kinder. Er verzichte bewußt auf den Kunst-Genuß zu Gunsten von Erkenntnissen. Das sagt immerhin ein Großer des europäischen Theaters, wie Peter Brook.
W: Bei Brecht übersieht man (oder will übersehen), daß „Genuß“ ein elementarer Begriff seines Theaters, seines Denkens, seiner Ästhetik ist. Auch in diesem Punkt teilt er übrigens das Schicksal seines anderen „genießenden“ Vorgängers aus Trier, dem man ebenfalls nur „Rationalität“ unterstellt. Dabei findet sich gerade in dem wahrscheinlich „rationellsten“ Buch von Marx, den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie“, auch für Theater das Anregendste, was ich über Ästhetik kenne. Zum Beispiel die Analyse des Begriffes „Genuß“ als höchste Tätigkeit des Menschen, die sein Wesen konstituiert. Der Mensch findet sich als „Selbstzweck“ in seinen Werken bestätigt, und – seine Selbstverwirklichung genießend – befriedigt er nicht nur Bedürfnisse, sondern schafft neue. Und erst der „bedürftige“ Mensch – so Marxens Entdeckung – ist der wirklich „reiche“ Mensch. Genuß also nicht als Zustand „epikureischer Abgeklärtheit“ , sondern als ständiger „ Aufbruch zu neuen Ufern“. Und wenn Sie sich einmal die Mühe machen, auch die Brechtschen Texte nicht nur nach Inhalten durchzuschauen, sondern nach der Statistik, wie oft zum Beispiel bestimmte Worte vorkommen, werden Sie eine erstaunliche Feststellung machen. Wissenschaftliche Begriffe wie „Verändern“, „ Dialektik“, „Widersprüche“, „Produzieren“ usw. kommen selten allein vor. Es heißt meistens „Lust an der Veränderung“, „Spaß an der Dialektik“, „Witz der Widersprüche“, „Leidenschaft des Produzierens“ usw. Brecht äußerte in Gesprächen 1956, also kurz vor seinem Tod, Unbehagen, daß man sein Theater bisher immer „unnaiv“ betrachtete. Er entdeckte in diesem Gespräch die Naivität, eine der wichtigsten Kategorien, ohne die sein Theater überhaupt nicht zu verstehen sei. Er meinte damit nicht die simple Naivität, die Denken ausschließt, sondern jene Naivität, die dem Denken folgt. 1953 bei der Arbeit an dem Gegenwartsstück „Katzgraben“ formulierte er es einmal so: „Es ist nicht genug verlangt, wenn man vom Theater nur Erkenntnisse, aufschlußreiche Abbilder der Wirklichkeit verlangt. Unser Theater muß die Lust am Erkennen erregen, den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren. Unsere Zuschauer müssen nicht nur hören, wie man den gefesselten Prometheus befreit, sondern sich auch in der Lust schulen, in zu befreien. Alle Lüste und Späße der Erfinder und Entdecker, die Triumphgefühle der Befreier müssen von unserem Theater gelehrt werden.“
Eine richtige Erkenntnis, die eine Theateraufführung vermittelt soll, wird dann erst „richtig“, wenn sie beim Zuschauer „naive“ Haltungen auslöst: Zorn, Freude, Neugier, Haß, Lachen, Protest, Verwirrung, Bestätigung, Unruhe, Abscheu, Aufatmen, Verunsicherung, Schrecken, vor allem Verwunderung. Solche „naiven“ Reaktionen vermögen aus dem „reinen Denken“ das von Brecht so geschätzte „eingreifende Denken“ zu machen. Das ist der Schritt vom Erkennen zum Handeln.
Auch bei der Probenarbeit mochte Brecht nicht den „reinen Gedanken“. Oder die theoretische Begründung. Sie war ihm einfach zu wenig. Wenn ein Schauspieler auf der Probe eine längere Diskussion anfangen wollte (und das tun Schauspieler merkwürdigerweise leidenschaftlich gern), war Brechts Antwort fast immer: „Bitte machen Sie es vor“.
Zweifel an endgültigen Lösungen
Z: Palitzsch hat einmal darauf hingewiesen, daß Brecht niemals mit einem vorgefertigten Plan zur Probe gekommen wäre.
W: Benno Besson sagte vor kurzem in einer Fernsehsendung sogar, Brecht sei auf den Proben ein reiner Praktiker gewesen und habe seine eigene Theorie vergessen.
Z: Und er habe nur aus dem jeweiligen Stück heraus argumentiert, meint Palitzsch.
W: Das stimmt. Es ist aber die halbe Wahrheit. Und halbe Wahrheiten sind oft falscher als ganze Unwahrheit. Palitzschs Sicht auf die Arbeit Brechts hat sicher auch mit seinem Wechsel von Ost nach West zu tun. Denn als Chefdramaturg am Berliner Ensemble galt er bei uns „Jüngeren“ als strenger „Wächter über Dialektik und Epik“. Wehe, es fehlte eine theoretische Begründung! Oder es schlich sich ein undialektischer Gedanke ein! Von Werner Mittenzwei stammt das Bonmot, Palitzsch habe, als er „in den Westen“ ging, zwar Brechts Technik mitgenommen, aber die Politik vergessen.
Brecht hat auf den Proben tatsächlich nie, oder nur äußerst ungern und wenn, nur äußerst kurz, theoretisiert. Das Wort „Verfremdung“ zum Beispiel habe ich von ihm auf Proben nie gehört. Aber man soll sich da nicht täuschen. Er hat natürlich – ohne darüber zu theoretisieren – „verfremdet“. Die Theorie war sozusagen „naiv“ anwesend. Und das theoretische Gespräch nach den Proben oder abends an dem großen Tisch unter dem chinesischen Rollbild des „Zweiflers“ gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Daß er auf den Proben nicht theoretisierte, hatte einen einfachen Grund: Brecht liebte das praktische Beispiel. Ihn interessierten bei einer Szene oder bei einer Figur zunächst immer die konkreten Vorgänge, nicht deren Bedeutung.
Daß Brecht auf den Proben nicht theoretisierte, ist für mich nicht das Ignorieren seiner Theorie, im Gegenteil, es ist das beste Beispiel ihrer konsequenten Anwendung. Denn Brechts „Theorie des Theaters“ geht von einem elementaren Grundsatz aus, den er Hegel entlehnt hat: „Das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten.“ Im übrigen mochte er einen Satz Lenins aus dessen vorrevolutionärer Zeit: „Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis.“
Brecht hatte durchaus „vorgefertigte Pläne“. Sie waren so verläßlich, daß er sie auf den Proben vergessen konnte, um mit ihnen zu arbeiten. Also auch hier vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen. Dafür mußte das „Abstrakte“ aber erstmal vorhanden sein. Für Brecht gab es für eine Inszenierung nicht nur einen „vorgefertigten Plan“, sondern zwei: einen historischen und einen aktuellen. „Mutter Courage und ihre Kinder“ zum Beispiel sollte zeigen, daß, historisch gesehen, die kleinen Leute in den Kriegen der Großen nichts zu gewinnen und alles zu verlieren haben. Der aktuelle Gesichtspunkt war 1938 wie 1951 die Warnung vor einem drohenden Krieg.
Für diese abstrakten Gesichtspunkte müssen auf den Proben konkrete Vorgänge gefunden werden, nichts anderes heißt „inszenieren“. „Jeder Gedanke muß sich auf der Bühne zur Geste emanzipieren“, war eine der beliebten Faustregeln Brechts.
Die Unlust am „reinen Abstrakten“ und die Lust, Gedanken in Vorgänge umzuarbeiten, war bei Brecht ein Bedürfnis wie Essen und Trinken. Einmal sagte er mir: „Dialektik ist für mich Gefühlssache“. Er konnte also gar nicht anders, als zu „dialektisieren“. Ein Begriff übrigens, den er damals 1956 in jenen letzten Gesprächen erfand. Für ihn hieß das, Stillstand durch das ständige Aufdecken der Widersprüche immer wieder in Bewegung zu bringen. „Endgültige Lösungen“ waren ihm ein Greuel. Er hatte es geradezu zur Leidenschaft entwickelt, besonders das Gefundene, das ihm gefiel, immer wieder in Frage zu stellen, um es erneut zu finden. Das Zweifeln war für ihn ein Genuß wie das Rauchen. Dem „Lob des Zweifels“ widmete er einige seiner schönsten Gedichte.
Dafür hatte er für sich auf den Proben eine eigene Technik entwickelt. Er nannte sie – halb im Ernst, halb im Spaß – die „Kunst des Vergessens“. Hatte er eine „endgültige Lösung“ gefunden, konnte man sicher sein, daß er sie am nächsten Tag vergessen hatte. Die „Kunst des Vergessens“ war für ihn sicher sehr ertragreich, für uns Assistenten weniger. Einerseits sollten wir alles Gesagte und Erarbeitete genau fixieren (möglichst stenografisch), mußten uns aber dann am nächsten Tag anhören: „Das habe ich nie gesagt, das haben Sie falsch notiert.“ Brecht bewahrte sich allerdings so vor der Berufskrankheit berühmter Regisseure, die auf der Bühne hauptsächlich sehen, was nur in ihrem Kopf existiert.
Jene Zweifel an „endgültigen Lösungen“ kamen sicher auch aus der Furcht vor einer noch anderen merkwürdigen Eigenschaft des Theaters: der Magie. Oder weniger metaphysisch: der Kunst der Täuschung. Das ist eine große Macht, im Guten wie im Bösen. Im Theater ist man bereit, alles für „bare Münze“ zu nehmen. Man sieht wirklich etwas, was es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Das Fiktive gibt sich als Wahrheit aus und, das ist die Magie, die Leute glauben es am Ende.
Z. Wie wirkt sich denn diese merkwürdige Eigenschaft aus?
Im schlimmsten Fall als „Theater des Glaubenmachens“. So nannte Brecht zum Beispiel die Nürnberger Parteitage der Nazis. Mit ihren choreographisch einstudierten Millionen-Aufmärschen suggerierten die Nazis der Öffentlichkeit eine „verschworene Gemeinschaft eines ganzen Volkes“. Das war inszeniert mit „Pauken und Trompeten“, vor allem mit der großen Pauke gewaltiger „Führer“-Reden. Leute, die es hätten besser wissen müssen, nahmen das alles für Realität. Selbst Antifaschisten, in alle Herren Länder verschlagen, verfolgten aus der Ferne dieses „Theater“ mit Erschrecken, weil sie es für Wirklichkeit hielten. Wie schwer es ist, sich diesem „Theater des Glaubenmachens“ zu entziehen, beweisen heute noch die pervers-genial gemachten „Dokumentar“-Filme der Leni Riefenstahl. Heute findet man das „Theater des Glaubenmachens“, etwas harmloser zwar, aber nicht weniger pervers auch bei Wahlkämpfen, wenn zum Beispiel kaum zu unterscheidende Parteien den Wählern wirkliche Kämpfe zwischen wirklichen Alternativen vorgaukeln.
Aber die „Magie“ des Theaters hat auch komische Seiten. Ernst Busch, ein weiß Gott oder weiß Marx, nicht eben „metaphysischer“ Schauspieler, spielte den Galilei in der letzten Brecht-Inszenierung, die Erich Engel zu Ende führte. Etwa ab der hundertsten Vorstellung war er nicht nur der Meinung, er sei ein großer Schauspieler, sondern auch ein großer Physiker. Und jetzt kommt die komische Seite des „Theaters des Glaubenmachens“: Auch andere glaubten das. In Zeuthen bei Berlin gab es das „Institut für Hohe Energien“, das Kernforschungsinstitut der DDR. Diese Physiker sahen eine Galilei-Vorstellung und wollten anschließend mit dem Darsteller des Galilei sprechen, was im Berliner Ensemble üblich war. Sie interessierte, wie man zum Beispiel Rollen lernt, wie man so viel Text behält, wie er, Busch, zum Theater gekommen ist, und was er als Schauspieler fühlt, wenn Galilei widerruft usw. Sie wollten also Dinge wissen, die sie nicht wußten. Nach der Vorstellung trafen sie sich in der Kantine mit Busch. Busch sprach zu ihrer Verblüffung sofort über Physik. Und er tat das mit seiner überzeugenden Stimme und Leidenschaft. Mindestens eine halbe Stunde lang. Ich wollte schon im Erdboden versinken, denn ich habe einmal kurz Physik studiert, aber die Physiker hörten fasziniert zu: Die Physikerelite der DDR! Nach etwa 30 Minuten kam Busch zum Ende, und die Physiker applaudierten sehr und bedankten sich. Am nächsten morgen rief mich Prof. Karl Lanius, der Direktor des Instituts, an und stellte mir eine Frage: „Manfred“, sagte er in seiner wissenschaftlichen Bedachtsamkeit, „da ist etwas Merkwürdiges passiert. Der Busch hat doch gestern nach der Vorstellung eine halbe Stunde über Physik gesprochen und ich habe erst am nächsten Morgen gemerkt, daß das alles Quatsch war.“
Hier kommt nach meiner Meinung die archaische Herkunft des Theaters zum Vorschein. Theater wurde ursprünglich zum „Glaubenmachen“ geschaffen. Das ist seine riesige Gefahr, und es ist seine riesige Chance, die es vor anderen, nicht „lebenden“ Künsten hat.
Aber auch in diesem Punkt war Brecht Realist, denn er wußte um die „Magie“ und nutzte sie als „List der Vernunft“. Hier war er keinesfalls jener „pure Rationalist“, zu dem man ihn so gern stempelt. Oder jener „reine Aufklärer“, dessen Kunst am Ende nur „Aufkläricht“ ist oder „Gesinnungskitsch“. Im Gegenteil, es war gerade Brecht, der das Theater gegen eine „Rationalisierung der Kunst“ als Stätte verteidigte, „wo das Unbewußte, Halbbewußte, Unbeherrschte, Vieldeutige, Vielzweckige sich tummeln könnte“. (Brecht 1938)
Brecht als Philosoph
Z: Sie haben vorhin erwähnt, dass Brecht eine Art „Philosophie der Brauchbarkeit“ entwickelte. Wie war Brecht als Philosoph?
W.: Über seinem Bett hing ein Spruch: Die Wahrheit ist konkret. Der stammt von Hegel und enthält eigentlich Brechts ganze Philosophie. Oder besser, sein „Philosophieren“, denn gegenüber „Philosophie“ war er mißtrauisch. Philosophen nannte er gern mit den Worten des alten Franz Mehring die „alten Kumpane der Hirnweberei“. Auch bei Hegel mochte er mehr dessen analytische Texte, jene eben vom „Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten“. Hier billigte er Hegel sogar Humor zu und sprach vom „Witz der Widersprüchlichkeiten“. Hegels System aber war ihm zu „immerig“, zu „ewigkeitsträchtig“, eine zu „geist-volle Konstruktion“, in dem der „konkrete Mensch“ abhanden gekommen sei, der „sein heutiges Rindfleisch ißt“. Mit „ewigen Wahrheiten“ hatte Brecht überhaupt seine Probleme. Zumal damals das offizielle DDR-Denken sich mit dem ML (Marxismus-Leninismus, im Volksmund „Marximum-Leninum“) im Dauer-Besitz der Wahrheit wähnte. Und von dieser „großen historischen Wahrheit“ die vielen kleinen Wahrheiten des Alltags ableitete. Auf diese Weise hatte alles, was die Führung auch immer beschloß, den Rang, „wahr“ zu sein. Gleich, ob man eine eigene DDR-Flugzeug-Industrie aufbaute, obwohl die DDR gar keine eigenen Flugzeuge brauchte; oder ob man Ernst Barlach der „spätbürgerlichen Dekadenz“ bezichtigte und ablehnte, nur weil einige „führende Genossen“ ihn nicht verstanden; oder ob man produktive „halbstaatliche Betriebe“ dadurch unproduktiv machte, indem man sie „ganz“ verstaatlichte, nur weil die „reine Lehre“, nicht aber die Realität es so wollte. Alles war „wahr“, weil die „große Sache“, der Sozialismus, „wahr“ war. Oder wie es Manfred Lötsch, ein hervorragender, da kritischer DDR-Soziologe, einmal sagte: „Bei uns werden alle kleinen Sätze von den großen Sätzen abgeleitet“. So kam dem realen Sozialismus in der DDR allmählich die Realität der DDR abhanden. Man sah vor lauter Wald die Bäume nicht mehr und erklärte das auch noch zur Tugend.
„Die Wahrheit ist konkret“ impliziert neben der Konkretheit einer Sache oder eines Vorganges aber auch den Gesichtspunkt der Veränderbarkeit, also seine Dialektik. Ist etwas „konkret“, entsteht es zu einer bestimmten Zeit und vergeht mit ihr. Es ist, wie Brecht es nannte, nichts „Immeriges“. Alles, was auf der Bühne gezeigt wird, sollte nichts „Immeriges“ sein, also den Schein erwecken, es gelte für ewig. Es sollte seine Entstehung verraten und damit seine Vergänglichkeit. Denn nur so wird es vom Publikum als veränderbar angesehen. Brecht nannte das „historisieren“.
„Historisieren“ ist ein Schlüssel nicht nur seines Theaters, auch seines Denkens. Besonders Vorgänge der Gegenwart verlieren durch alltägliche Vertrautheit und Gewöhnung scheinbar den Charakter des „Historischen“, also der Vergänglichkeit. „Das lange nicht Geänderte scheint unveränderbar.“ (Brecht) Es wird „Immeriges“, das immer bleibt, wie es ist. Historisieren durchbricht die „feste“ Vorstellung, den Stillstand, die ewige Gegenwart. Alles wird als zugehörig zu einer bestimmten Zeit gezeigt und also als vergänglich mit dieser Zeit. Das ist nichts anderes als die konkrete Umsetzung der Forderung, die Welt als veränderbar zu zeigen. Oder wie es Erich Fried einmal sehr schön schrieb: „Wer will, daß die Welt bleibt, wie sie ist, will nicht, daß sie bleibt.“
„Historisieren“ heißt aber nicht, wie man gern unterstellt, auf dem Theater genaueste historische Details zu zeigen, sondern Details historisch zu zeigen. Das heißt, als Entstandenes und so Vergängliches. Gerade bei Kostümen ging Brecht nicht davon aus, wie sie zu einer Zeit wirklich ausgesehen haben, sondern wie sie hätten aussehen können. Hier war Phantasie gefragt, der Absicht der Verfremdung (also Entdeckung) förderliche.
Gerade in der Frage des Historisierens ist heute bei Theaterleuten ein Rückfall auch da zu beobachten, wo man sich „links“ und „system-kritisch“ gibt. Es ist fast zum Ritual geworden, historische Stücke – und nicht nur im Kostüm – aus ihrem historischen Feld zu reißen, angeblich um sie zu aktualisieren. So baute ein Regisseur in Ibsens „Nora“ einen Mord ein, weil nach seiner Meinung ein „nichtbeglichener Schuldschein“ heute nicht mehr ausreicht, eine Familientragödie auszulösen. Diese Enthistorisierung entzieht dem Zuschauer nicht nur jeden Sinn für Geschichte, sie führt zu „historischer Arroganz“. Man mißt Geschichtliches nur mit eigenen heutigen Wertvorstellungen. Fehlt aber der Sinn für Geschichtliches, dehnt sich die Gegenwart in alle Ewigkeit aus. Es kommt zum Stillstand. Das Stück – künstlich in heutige Aktualitäten gezerrt – verliert nicht nur seine Poesie, zum Beispiel, daß zu Zeiten winzige Ursachen riesige Katastrophen auslösen können, es verliert auch seine Aktualität. Der Zuschauer kann nicht die historischen, also ihm fremden Ereignisse auf die Verhältnisse seiner eigenen Zeit umlegen Es fehlt jener Anreiz dazu, weil sie von vornherein „zeitlos“ gleichgesetzt werden.
Besonders bei Stücken über die Gegenwart führt Enthistorisieren zur direkten Interesselosigkeit. Interesselosigkeit ist nur ein anderer Ausdruck für Langeweile. Selbst da, wo Ereignisse, um sie angeblich zu kritisieren, mit unerhörter Brutalität und Radikalität gezeigt werden, werden sie in Wirklichkeit verharmlost. Sie werden „Negativ-Events“, gültig für alle Zeiten. Der Zuschauer erschrickt zwar, aber es ist bloßes Zurückschrecken. Eben „shocking“. Unstimmigkeiten einer konkreten Zeit erscheinen so als Dauerkrisen. Was für bestimmte Verhältnisse gilt, wird zur Eigenschaft der menschlichen Gesellschaft, nach deren konkrete Ursachen nicht mehr gefragt wird. Man hält zwar den Atem an, aber die Welt bleibt stehen. Sie wird „alternativlos“. Fehlt aber die Veränderungsmöglichkeit, ist selbst die brutalste und radikalste Kritik letzten Endes ein sich Abfinden mit der Welt, wie sie ist. Und damit Anpassung an die Misere auch da, wo man sie beklagt. Die spießige Schicksalsergebenheit des bürgerlichen Uralt-Theaters ergreift unmerklich Besitz von der Avantgarde. Dabei behauptet man, konsequenter zu sein als Marx, „der nur die Entfremdung und Selbsttäuschung des Menschen analysierte, aber nicht den Mut hatte, sie als unüberwindliche Begleiterscheinung menschlicher Vergesellschaftung zu akzeptieren“, sagt Jacques Derrida.
„Wahrheiten“, die man hier „brutalstmöglich“ zeigt, entziehen sich letzten Endes der Kritik, sie bekommen Ewigkeitswert. „Alternativlosigkeit“ wird so auch bei „Linken“ unmerklich zur Glaubenssache. Man bedauert sie und findet sich bedauernd damit ab.
Für Brecht hingegen war nur das wahr, was sich jeden Tag als wahr oder eben unwahr erweist. Nicht nur im Denken, sondern in dem, was man täglich tut. Das meinte er, wenn er sich über sein Bett den Spruch hing: „Die Wahrheit ist konkret.“ Es ist ein radikales Konzept einer „Philosophie der Praxis“.
Brecht hat diese Philosophie ja täglich praktiziert. In der Theaterpraxis ebenso wie im täglichen Leben des Staates DDR. Dort machte er mit seinen Inszenierungen Welttheater, welches das Denken vieler Menschen in vielem veränderte – und er machte praktische Vorschläge zur Veränderung zum Beispiel der Lehrpläne an den Grundschulen der DDR. Er brachte mit seinen Barlach-Thesen eine falsche Kulturpolitik der Parteiführung zu Fall – und er half derselben Parteiführung, die Losungen für den IV. Parteitag besser zu formulieren.
Z: War Brecht unfehlbar?
Wie alle großen Philosophen konnte Brecht sich hinreißend irren. Er hat schreckliche Sachen über O’Casey gesagt. Zum Beispiel, daß dieser „ein katholischer Nihilist“ sei. Allerdings änderte er seine Meinung, als er O’Casey wirklich las. Heinrich von Kleist war für ihn „ein preußischer Junker, der im „Zerbrochenen Krug“ das Bürgertum reaktionär von rechts kritisiert“, bis er Kleist selbst inszenierte und von uns Assistenten sofort schriftliche Analysen der „gegenüber der weimarer Klassik unglaublich progressiven gestischen Verssprache Kleist’s“ verlangte. „Faust“ war für ihn „eine unerträgliche Bildungsrevue“, bis er, den „Urfaust“ inszenierend, in „Goethinger“ den Gipfel des „Sturm und Drang“ entdeckte, was zu seiner Faust-Analyse führte, die bis heute unübertroffen ist. Seine Irrtümer waren weit anregender als die Wahrheiten manch anderer Leute.
Z: Über den Philosophen Brecht gibt es, bis auf die Schrift von Haug „Philosophieren mit Brecht und Gramsci“, fast keine Literatur. Ist das Zufall? Oder nicht auch ein wenig die Schuld von Brecht selbst, der ja eben bestritt, ein „philosophisches System“ oder überhaupt ein „System“ begründet zu haben?
W: Das Erstaunliche bei Brecht ist für mich immer wieder, daß er kein philosophisches System hinterlassen hat, aber eben doch eine systematische Philosophie. Man muß sie sich allerdings – und das ist eigentlich ganz im Sinn seines „selbsttätigen Zuschauers“ – selbst zusammensuchen. Sie ist in der praktischen Theaterarbeit ebenso zu finden wie in seinen theoretischen Schriften. Sie ist an seiner Meinung zu den jeweils aktuellen Ereignissen ablesbar wie an seinem Verhalten in Situationen, an seiner Kritik wie an seinen Vorschlägen zu Politik. Sie ist in seinen Gedichten zu finden, sogar in den Anekdoten über ihn.
Es ist ein Verdienst von Wolfgang Fritz Haug, Brecht als Philosoph neben Gramsci gestellt zu haben. Den Philosophen Brecht – in seiner Philosophie der Praxis wie in seiner praktizierten Philosophie – zu entdecken, wäre zu seinem fünfzigsten Todestag ein wesentlich seriöseres Thema, als den Spekulationen über sein Liebesleben, seine Verdauung oder seine Paßangelegenheiten noch weitere hinzuzufügen.
Es ist immer gut, heute von dem „ganzen“ Brecht zu reden. Denn es scheint sein Schicksal, ständig wie die berühmte Jungfrau zersägt zu werden, und zwar mit immer neuen, noch nie dagewesenen Gründen. Zu guter Letzt aber immer aus einem Grund: Ihn anzupassen an die jeweils herrschende Meinung. Und die ist, wie ein anderer kluger Mann einmal sagte, immer die Meinung der Herrschenden.
Die Genesis von Brechts fast biblischer „Zerstücklung“ liest sich wie eine humorige Kalendergeschichte von ihm selbst.
Brecht-Zerstückelung
Z: Man „zerstückelte“ ihn nicht nur, man wollte ja auch den „ganzen“ Brecht abschaffen. Außenminister Brentano verglich ihn zum Beispiel aus diesem Grund mit Horst Wessel.
W: McCarthy war da 1945 in den USA noch so anständig, Brecht einen Kommunisten zu nennen. Und es war nur konsequent, den Kommunisten Brecht, als er bei seiner Rückkehr nach Ostberlin fahren wollte, bei Strafe zu verbieten, den Weg durch die amerikanische Besatzungszone zu nehmen, so daß er den Umweg über Wien und Prag nehmen mußte. Aber als man dann merkte, daß auch der „Westen“ nicht ganz ohne Brecht auskommen wird, sprang die Literaturwissenschaft ein. Sie zerlegte Brecht in den „frühen Lyriker“ (den man pries) und „späten Dramatiker“ (den man ablehnte). Reich-Ranicki ist bis heute dabei geblieben. Als dann auch die Stücke sich auf dem Theater nicht mehr vermeiden ließen, kam der erlösende „Ritterschlag“: man zerteilte Brecht in den „Dichter“ und den „Politiker“, und hackte den kommunistischen Politiker einfach ab. Nun konnte ein „deutscher Dichter“ gefahrenlos in die westliche Wertegemeinschaft aufgenommen werden. Aufkommenden Widerständen dagegen, wie zum Beispiel von Harry Buckwitz, Intendant der Theaters in Frankfurt am Main, der trotz des Boykotts Stücke des „unzerlegten“ Brecht spielte, begegnete man in der Presse, indem man Buckwitz jegliche künstlerischen Fähigkeiten absprach. Als Buckwitz 1960 dann auch noch das kommunistische Berliner Ensemble mit dem „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“ zum Gastspiel nach Frankfurt einlud, rettete man das Abendland, indem man an den Litfaß-Säulen Plakate klebte mit der warnenden Aufschrift „Die Kosaken kommen“. Beherzte Jung-Unionisten bildeten um das Frankfurter Schauspielhaus einen geschlossenen Kordon, um das Publikum – leider vergeblich – am Betreten zu hindern.
Brecht ist in diesem Jahr fünfzig Jahre tot. Und natürlich kommt nach so langer Zeit in der westlichen Wertegemeinschaft der Wunsch auf, nicht nur den zerstückelten halben Brecht sein eigen zu nennen, sondern den „ganzen“. Auch die Bild-Zeitung wünscht sich das, wenn sie titelt: „Unser Brecht.“
Man erklärt einfach, daß es einen „Politiker „Brecht nie gegeben habe und daß er etwas mit dem Kommunismus zu tun gehabt hätte, sei eine reine Erfindung seiner Schüler.
Diese frohe Botschaft (lat. Evangelium) erreicht uns aus Karlsruhe. Sie verkündet, „ein ganz neuer Brecht“ sei entdeckt worden. Jan Knopf, einem deutschen Professor, der dafür an der Universität ein ganzes Institut unterhält, ist es gelungen, Bertolt Brecht, den er im Internet programmatisch „den Goethe des 21. Jahrhunderts“ nennt, von dem Verdacht zu säubern, Marxist gewesen zu sein. Er – der Professor – habe in Brechts Bibliothek im Brecht-Haus zu Berlin nachgeschaut und kann nun beweisen, daß es nur seine Biografen oder ideologischen Ausdeuter waren, die behaupten, Brecht habe Marx gelesen. „Davon kann jedoch keine Rede sein, er hat Marx nie richtig gelesen. Die Lektüre des ‚Kapital’ ist lediglich als sporadische Urlaubslektüre überliefert“, er habe bei dem „Büchernarren Brecht“ nur eine „weitgehend ungebraucht wirkende Kapital-Ausgabe von 1932 gefunden, obwohl Brechts angebliche Marx-Studien jedoch um Jahre zuvor datiert sind“. Daß sich Brecht selbst als Marxismus-Kenner darstellt, ist für den Professor „eine typisch Brechtsche Selbstinszenierung, die im konkreten Fall einem speziellen Auftritt in Moskau geschuldet ist“. Seine Konklusion: „Wir wollen mit unserer Arbeit eine Hilfestellung leisten, den ‚neuen Brecht’ zu entdecken, der bisher als kommunistischer Dichter diskreditiert wurde.“
Hier liegt ein klassischer Fall eines TUIs vor. TUIs (Umdrehung des „Intellektuellen“ in „Telekt-Uell-In“) sind nach Brecht Leute, die gegen Bezahlung ihren Verstand vermieten, um Sätze zu beweisen wie „Der Regen fließt von unten nach oben“ oder „Bei Pflanzen kommt die Frucht vor der Blüte“.
Denn natürlich weiß unser Professor aus Karlsruhe, daß ein Satz „Brecht hat Marx nie gelesen“ gut zu einem Satz wie „Der Regen fließt von unten nach oben“ paßt, aber nicht zu Brecht. „Denn“, das schreibt derselbe Professor wenige Jahre zuvor (als es „schick“ war, links zu sein), „Brecht hat seine ‚Große Methode’ ganz von der marxistischen Dialektik abgeleitet, und hier vor allem von Lenin“.
Damals war der Professor auch Mitherausgeber von Büchern wie der „Großen Kommentierten Frankfurter und Berliner Brecht-Ausgabe“. Und da kennt er natürlich, was er im Band XXI. Seite 256 herausgegeben hat: „Als ich das Kapital von Marx las, verstand ich meine Stücke.“ (Brecht 1928)
Nachdem die politische Analphabetisierung Brechts durch den Karlsruher Professor eine ganze Zeit an der Brecht-Börse die höchste Notierung der Verwurstung war, wird sie nun von einer neuen Kurssteigerung überboten. In einer Rezension der Aufführung „Im Dickicht der Städte“ an der Berliner Volksbühne im „Neuen Deutschland – Sozialistische Tageszeitung“ vom 2. Februar 2006 spaltet der Kritiker Hans Dieter Schütt Brecht nicht mehr in den „Lyriker“ und den „Dramatiker“, oder den „Dichter“ und den „Politiker“, sondern in den „Benutzbaren“ und den „Unbenutzbaren“: „Auch Brecht – mit solcher Art Theater – in seiner bösesten Existenzform, aasig, heiter sein übersteigertes Selbstgefühl. Ausgeliefert noch nicht der Weisheit der Klasse und der schönen Hoffnung, Erkenntnis und Bewußtsein könnte den Menschen retten. Just dies Fehl an Geschichtslektion hält die frühen Werke so sportiv schwitzend, so genial undurchdringlich – und so wenig benutzbar.“
Bemerkenswert ist hier nicht nur der neuen Kaiserschnitt, den der Kritiker an Brecht vornimmt, sondern auch die Sprache. Sie ist wahrscheinlich seit Lessing in der Sparte der Theaterkritiker ein Novum. Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Werner Mittenzwei definiert sie als „angeheiterte Lyrik“.
Unterhaltendes Theater
Z: Was auffällt ist, dass in dieser ganzen Diskussion, die auf die politische Verfemung folgte, im wesentlichen zwei Argumente kamen: Die Trennung des Politikers vom Dichter und das Argument, dadurch, dass die Stücke so theorieüberladen wären, wären sie langweilig oder Zeigefingertheater.
W: Sie werden lachen, dem stimme ich zu. Brecht-Stücke können furchtbar langweilig sein, mehr als jedes andere Stück. In England zum Beispiel galt Brecht in den 60er Jahren als the great borer, der große Langeweiler. Auch den Grund glaubte man zu wissen: zu viel Theorie, zu wenig Theater. Und so wurde in England bei Brecht-Stücken die Theorie immer mehr von der Bühne verbannt mit dem Erfolg, daß die Aufführungen immer langweiliger wurden. Das änderte sich erst, als 1966 das Berliner Ensemble im Londoner Old Vic gastierte, und Kenneth Tynan, der legendäre Kritiker des „Observer“, schrieb: „Nicht zuviel Theorie hat das Publikum gelangweilt, sondern zu wenig.“
Denn Brecht, immer schon an die Nachwelt denkend, hat offenbar in seine Stücke eine geheime Sicherung eingebaut: Ohne die Spielweise Brechts (also Theorie) verweigern diese Stücke einfach den Dienst. Sie werden langweiliger als alle anderen Stücke, denn bei denen kann man sich wenigstens auf die äußere Spannung verlassen. „Es scheint“, so schrieb Kennth Tynan weiter, „erst Brechts Theorie läßt seine Stücke blühen, erst eine epische Spielweise macht sie dramatisch“. Zur größten Überraschung feierte gerade das bis dahin in England als langweilig verschrieene Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“ mit Helene Weigel in der Titelrolle in London Triumphe.
Man hatte nämlich übersehen, daß die Theorie Brechts nicht mehr Theorie ins Theater bringt, sondern mehr Theater. Sie wurde von Brecht einst formuliert, weil er sich im Theater so langweilte, wie er mir einmal sagte. Er wollte die mageren Ersatzbefriedigungen des heruntergekommenen bürgerlichen Theaters, emotional wie intellektuell wieder durch echte Befriedigungen ersetzen. Zu diesen Befriedigungen zählt er das Vergnügen, die Welt durchschaubar zu machen; den Genuß, seine eigene Lage zu erkennen und die Lust, sie zu verändern. Kurz: „Die Freude und Leidenschaft der befreienden Entdeckung, daß das Schicksal des Menschen der Mensch ist.“
Es ist fortschreitende Geschmacksverirrung, Brecht zu unterstellen, er wolle das Theater abschaffen und Kunst durch Wissenschaft ersetzen. Denn zu einem Mann wie Brecht paßt es doch eher (und man kann es ja schließlich bei ihm nachlesen), daß er die großen Gegenstände unserer Zeit wieder auf das Theater bringen wollte, um wieder richtiges Theater zu machen. Eigentlich tat Brecht nichts anderes als Shakespeare auch, als der die modernsten Wissenschaften seiner Zeit, zum Beispiel die erste Übersetzung des Plutarch ins Englische, sofort benutzte, ein künstlerisch und politisch universales Stück wie die „Tragödie des Coriolan“ zu schreiben, beschämend die erbärmlichen Zwerggestalten des damaligen Hofes und Hoftheaters.
Es gibt einen Text von Brecht aus dem Jahr 1948, geschrieben unmittelbar nach seiner Rückkehr in das materiell wie geistig verwüstete Deutschland. Damals erwartete man von Brecht, dem „Erfinder“ der Lehrstücke, strenges Lehrtheater zur Umerziehung der vom Faschismus verführten Menschen. Brecht aber antwortet: „Widerrufen wir also, wohl zum allgemeinen Bedauern, unsere Absicht, aus dem Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren, und bekunden wir, zu noch allgemeinerem Bedauern, nunmehr die Absicht, uns in diesem Reich niederzulassen. Behandeln wir das Theater als eine Stätte der Unterhaltung, wie es sich in einer Ästhetik gehört, und untersuchen wir, welche Art Unterhaltung uns zusagt.“
1955, damit beschäftigt, marxistisches Denken unter die Leute zu bringen, die in der DDR den Versuch unternahmen, eine Welt ohne Kapitalismus zu errichten, kam er zum Beispiel zusammen mit dem Regisseur Erich Engel sogar auf den Gedanken, das erste Kapitel des „Kapital“ von Marx „Über den Doppelcharakter der Ware“, den wohl abstraktesten Teil des ganzen Buches, „zur Unterhaltung“ auf die Bühne zu bringen. Es sollte ein Clownspiel werden über die „absurde Verdrehung“ der Formel W-G-W in G-W-G’. Der unnütze Dumme August (Tauschwert) sollte dem nützlichen Weißen Clown (Gebrauchswert) ständig auflauern, um ihn am Ende ganz zu verschlucken und sich selbst zum lieben Gott der Wirtschaft zu ernennen, der neue Gebote erläßt. Darunter das erste Gebot: Du sollst nur das produzieren, was du selbst überhaupt nicht brauchst, und zwar für den, den du überhaupt nicht kennst, und von dem du nicht einmal weißt, ob es ihn überhaupt gibt.
Brechttheater heute
Z: Gerade wenn man Brechts Theorie als „Philosophie der Praxis“ oder „praktizierte Philosophie“ begreift, stellt sich die Frage, ob es in der Bundesrepublik ein Theater gibt, daß diese Tradition aufnimmt.
W: Ein Theater sicher nicht, dafür Leute, die an verschiedenen Orten so etwas versuchen. Aber auch da wechselnd von Aufführung zu Aufführung. Ich sah an der Berliner Schaubühne Ibsens „Nora“ als ein Rückfall weit hinter Ibsen zurück in die spießige Zwanghaftigkeit bürgerlicher Schicksalsgläubigkeit; und ich sah vom gleichen Regisseur „Hedda Gabler“ als grausig-vergnügliche Gesellschafts-Obduktion, auch das heutige Bürgertum betreffend als jene Schlange, die sich vom Schwanz her selbst auffrißt.
In Cottbus inszenierte Alejandro Quintana, chilenischer Emigrant, dann Schüler bei mir am BE, die „Mutter Courage“. Vor dieser Aufführung wurde ich gewarnt, sie sei „ganz anders“. Sie war tatsächlich ganz anders, aber darum nach meiner Meinung um so näher bei Brecht. Man meinte, wenn der Vorhang aufgeht, Bilder aus dem heutigen Bagdad zu sehen: Kampfmaschinen mit umgehängten MPs beschweren sich, daß die Leute um sie herum so voll Bosheit seien, obwohl sie doch als Befreier gekommen sind. Die erste Überraschung des Abends: Quintana hat diese Inszenierung lange vor Bushs Überfall auf den Irak gemacht. Sie wurde eine Voraussage.
Die zweite Überraschung: die heutigen Kostüme verführten den Regisseur nicht zu heutiger Flachheit. Er spielt die archetypischen Kriegssituationen des Stücks mit Größe, Schärfe und Humor aus, so daß die Geschichte um die Courage und ihre Kinder nicht „cool“ daherkommt, im Gegenteil, die modernen Kostüme machen die Situationen noch archetypischer und unbegreiflicher. Die dritte Überraschung: Quintana leugnet nicht seine Herkunft. Beweglichkeit und Farbigkeit der Figuren, die mehr aus Chile kommen als aus dem Dreißigjährigen Krieg, machen das Ende um so erschütternder. Es kommen nicht Menschen um, die vom Tod gezeichnet sind, sondern Menschen von großer Lebenslust. Gegen den Krieg, inzwischen wieder „Fortführung der Politik mit anderen Mitteln“, wird hier ein erstaunliches Potential an Erkenntnis und Humor und Haß und Mut geweckt.
Z: Und das Berliner Ensemble? Das sich ja gern wieder mit dem traditionellen Kürzel „BE“ bezeichnet?
W: Ekkehard Schall nannte das kurz vor seinem Tod einen „Etikettenschwindel“. Und Peter Palitzsch wollte nach dem Besuch der Peymann-Inszenierung „Die Mutter“ dem „BE“ untersagen, den auf dem Dach des Schiffbauerdamm-Theaters sich drehenden Berliner-Ensemble-Kreis, dessen Erfinder er ist, weiter zu verwenden (was allerdings scheiterte, da er versäumt hat, ihn urheberrechtlich schützen zu lassen). Ich bin da weniger rigoros. Wenn man heute ein Publikum, das immerhin die Theaterkarten noch bezahlen kann, mit Brecht ins Theater lockt, beweist das den über Jahrzehnte erfahrenen Theater-Direktor, der weiß, wie man Quoten macht. Dazu muß man Brecht weder besonders kennen noch können. 1964 kritisierte mich Claus Peymann, damals ein werdender 68er, anläßlich einer Diskussion während der „Experimenta“ in Frankfurt am Main, daß unsere BE-Aufführung des „Messingkauf“ von Brecht, die wir dort zeigten, „nicht marxistisch“ sei, da sie zu unterhaltsam war, was bei ihm in dem Ausruf gipfelte: „Nur Marxisten sollte es erlaubt sein, Brecht zu inszenieren.“ 2001, inzwischen Direktor des Berliner Ensemble, kam Peymann einer heutigen Brecht-Auffassung schon näher, wenn er auf einer Pressekonferenz sagte: „Brecht ist heute abgenudelt wie eine alte Operette und ich denke nicht daran, Denkmalspflege zu betreiben.“ Tatsächlich war zu dieser Zeit mit Brecht noch keine Quote zu gewinnen. Das kam später, als das besserverdienende Stammpublikum des neuen BE plötzlich Brecht als Event entdeckte und sich gern anhörte, wenn man ihm in der „Mutter“ von der Bühne herab zusingt: „Du mußt die Führung übernehmen.“ Denn das haben sie ja auch im „Osten“ bereits getan. Es wäre für einen erfahrenen Theaterdirektor wie Claus Peymann geradezu sträflich, unter diesen Umständen nicht weitere Brecht-Events auf die Bühne zu bringen.
Nur, was bei der „Mutter“ noch funktionierte, nämlich Brecht ohne Brecht zu spielen, da in der „Mutter“ allein schon Reizworte wie „Lob des Kommunismus“, „Lob des Revolutionärs“ oder „Lob der Dialektik“ ausreichen, bei diesem Publikum für genügend exotische Aufregung zu sorgen, entfiel das bei der „Mutter Courage“. Hier war man auf das Spielen von Brecht angewiesen. Da führt ein Herangehen, wie es die Hauptdarstellerin treffend formulierte: „Nicht die Theorie suchen, sondern auf die dichterische Kraft setzen“, eben zu jener gefürchteten Langeweile, verschärft noch, da man so auch jeden Humor Brechts verliert. Aber auch das ist für die Quoten eines erfahrenen Theaterdirektors wie Claus Peymann kein Hinderungsgrund, da heute – zumindest in Berlin – der Endjubel nach jeder Aufführung bereits mit der Theaterkarte käuflich erworben wird. Deren inzwischen um das Zwanzigfache gestiegener Wert bestimmt auch den Wert einer Inszenierung.
Ähnlich erging es kurz zuvor dem Deutsche Theater in Berlin, als man auch dort erfahren mußte, daß Brecht ohne Brecht die Quadratur des Kreises ist. Peter Zadek, immerhin ein sonst beachtlicher Regisseur, hatte die „Courage“ von der Last der gestischen, widersprüchlichen Spielweise befreit und ließ mit der flüssigen Alltäglichkeit einer Fernseh-Vorabend-Serie spielen. Auch ihn ließ Brecht kläglich im Stich.
Es scheint sich Brechts Warnung eben doch zu bewahrheiten: „Ohne Ansichten und Absichten kann man keine Abbildungen machen. Ohne Wissen kann man nichts zeigen; wie soll man da wissen, was wissenswert ist? Will der Schauspieler nicht Papagei oder Affe sein, muß er sich das Wissen der Zeit über das menschliche Zusammenleben aneignen, indem er die Kämpfe der Klassen mitkämpft … Über den kämpfenden Klassen kann niemand stehen, da niemand über den Menschen stehen kann.“
Weniger Gespenster, mehr Trojanische Pferde
Z: Gibt es gegenwärtig ein Theater, das – um es so zu formulieren – am Anspruch festhält, die Welt zu verändern?
W: Die These, Brecht wolle mit Theater die Welt verändern, ist genau genommen eine Erfindung der 68er. Und ihre Resignation, die folgte, als das nicht gelang, ist nicht die Folge der „Wirkungslosigkeit“ des Theaters, sondern die ihrer eigenen falschen Erwartung. Brecht hat niemals behauptet, Theater allein könne die Welt verändern. Theater kann Bewegungen, die in der Gesellschaft vorhanden sind, fördern, und es kann sie bremsen, es kann sie niemals ersetzen. Es gibt allerdings Situationen, in denen Theater ganz unerwartet direkte gesellschaftliche Bewegungen auslöst, in denen es der Tropfen ist, der das Faß zum Überlaufen bringt. So geschehen mit der Uraufführung von Beaumarchais „Hochzeit des Figaro“ zur Zeit der Französischen Revolution, als eine kleine Liebesgeschichte zwischen Dienstboten einen Sturm auf die Bastille auslöste. In unseren Zeiten kann das Theater den Emanzipationsprozeß, der dringend notwendig ist, am besten befördern, wenn es seinem Publikum die Unerträglichkeit heutiger Verhältnisse zu Bewußtsein bringt. Zum Beispiel, wenn es Unzufriedenheit stiftet, wo Zufriedenheit herrscht, also Täuschung. Hier braucht es „Ent-Täuschung“. Für Brecht war es in „finsteren Zeiten“ nicht das Unrecht, das ihn entsetzte, denn es ist Teil dieser Zeiten. Brecht entsetzte, „wenn da Unrecht war und keine Empörung“.
Z: Wie kann heute und hier ein Theater progressive Bewegungen befördern?
W.: Jedenfalls nicht durch weiteres Verdüstern dessen, was schon düster ist. Schwarzes Ausmalen der eh schon schwarzen Wirklichkeit, in der wir uns befinden, schafft keine Abhilfe. Weder die Fähigkeit dazu, noch den Mut, noch die Lust. Es läßt in der Dunkelheit, die da herrscht, nicht einmal das Elend in seinem wirklichen Ausmaß erkennen. Besser scheint mir da schon respektloses „Anschwärzen“ der nicht tragbaren Verhältnisse, also ihre Überführung als unzumutbar für zivilisierte Menschen. Der düstere Sozial-Naturalismus, der öde beschreibt, was da an Verödung herrscht, bestärkt in seiner Trostlosigkeit den Glauben an hoffnungslose Alternativlosigkeit, von der die Politik heute so gern redet. Alternativlosigkeit aber ist die Zauberformel, mit der das Kapital sein Überleben zu sichern versucht. Diese Formel ist heute wahrscheinlich eine der gefährlichsten. Denn die Behauptung, das jetzige System sei alternativlos, will nur von der wirklich vorhandenen Alternative zwischen Sozialismus oder Barbarei zugunsten der letzteren ablenken.
Wenn ich Brecht richtig verstanden habe, schafft gerade bei Darstellung des Trübsinns nicht trübe Klage Erleichterung, sondern – im wahrsten Sinn – überwältigender Humor. Zum Beispiel, indem man zur Überraschung des Publikums die trübsinnige Welt von heute – wie es die Politiker in allen Medien ja fortgesetzt tun – zur „besten aller möglichen Welten“ erklärt. Und das kann die umwerfende Komödie. Brecht hielt die Komödie für die heute am meisten angemessene Form des Theaters, ernsthaft genug, um wirkungsvoll in die Geschicke der Gesellschaft einzugreifen. Man braucht heute weniger Gespenster, die in Europa umgehen, sondern mehr Trojanische Pferde. Sie verunsichern, lange unbemerkt, dann aber um so heftiger die drohenden „Wälle von Troja“, bis sie unter Gelächter einstürzen.
Bei Brecht lese ich: „Im allgemeinen gilt wohl der Satz, daß die Tragödie die Leiden der Menschen häufiger auf die leichte Schulter nimmt als die Komödie.“
Z: Wie zum Beispiel?
W: Als Chaplin 1938/39 den „Großen Diktator“ drehte, brach während der Dreharbeiten der zweite Weltkrieg aus. Heute weiß man, daß Kollegen, sogar Roosevelt persönlich, Chaplin aufforderten, das Projekt aufzugeben. Die einen waren dagegen, über eine grausige Figur wie Adolf Hitler, der im Film Alois Hinkel heißt, zu lachen, die anderen fürchteten, Hitler könnte gereizt werden, seine Grausamkeiten in Konzentrationslagern und eroberten Ländern noch zu verschärfen, wenn man sich über ihn lustig macht. Die Filmfirma sperrte Chaplin das Geld. Chaplin verwahrte sich dagegen, sich über Hitler „lustig“ zu machen, er wolle ihn „der Lächerlichkeit preisgeben“. In Zeiten, wo ganz Europa vor Hitler zitterte, weil man ihn für unbesiegbar hielt, wäre es nach Chaplins Meinung falsch, ihn auch noch als „furchtbare Größe“ darzustellen. Das würde die Furcht noch vergrößern, nicht den Mut, ihn zu bekämpfen. Chaplin drehte auf eigene Kosten weiter. In seinen Notizen findet sich diese Bemerkung: „Das Tragische ist eine Haltung des sich Abfindens, das Komische die Haltung des sich Wehrens.“
Chaplin behielt recht. Der „Grosse Diktator“ gilt heute als eine der wirksamsten Widerlegungen des Faschismus. Hitler soll sich übrigens den Film dreimal angesehen haben, weil er, heißt es, in dieser Lächerlichkeit die größte Gefährdung seiner „Unbesiegbarkeit“ sah. Eine ähnliche Wirkung hatte Brechts „Aufhaltsamer Aufstieg des Arturo Ui“ in der Inszenierung von Wekwerth/Palitzsch. Stück und Inszenierung erhielten 1961 den großen Preis des Theaters der Nationen und den Pariser Kritikerpreis, weil man befand, daß faschistische Bedrohung selten in solcher Schärfe bewußt wurde wie durch diese clowneske Travestie. Diese Inszenierung, die auf Gastspielen in fast allen europäischen Hauptstädten gezeigt wurde, erreichte in Berlin die Rekord- Zahl von 735 Aufführungen.
Brecht plante 1956 am BE „Warten auf Godot“ zu inszenieren. Er hielt das Stück von Samuel Beckett für eines der großen Stücke der Weltliteratur. Durch Brechts Tod kam es nicht mehr dazu. Brecht wollte allein durch die Spielweise den totalen Stillstand, den dieses Stück so konsequent zeigt und an dem sich das bürgerliche Theater in „flachem Tiefsinn“ so weidet, nicht als absurden Zustand der Welt an sich beklagen, sondern als „tollen Erfolg des absurden Kapitalismus“ lobpreisen. Estragon und Wladimir, die beiden Clochards, sollten bei ihm Arbeitslose sein, die nicht auf Arbeit warten, sondern auf Godot, was die Sache noch absurder, damit für das Publikum komischer macht. Und Lachen, das meint jedenfalls Dario Fo, öffnet ja nicht nur den Mund, sondern auch das Gehirn.
Eine in diesem Sinn hinreißend ernste wie hinreißend komische Inszenierung war für mich Christoph Marthalers „Die Stunde null oder Gedenktraining für Führungskräfte“ 1998 am Hamburger Schauspielhaus. Es ist das „Hohe Lied der Nieten in Nadelstreifen“. Hier üben in der Stunde Null – 1945 – die künftigen Eliten des sich wieder erholenden Kapitalismus in einem „geschlossenen Lehrgang“, was sie als kommende Führungskräfte am dringendsten benötigen: Händeschütteln, das sie unter Aufsicht einer Erzieherin an einem Turnpferd üben, an dem eine Hand aus Leder angebracht ist; Winken zum Volk mit dem dazugehörigem Spezial-Lächeln; Zerschneiden von Bändern, um Brücken einzuweihen; vor allem Freie Rede, mit der man viel redet, um nichts zu sagen. Dazwischen Erfrischungen wie Tee, den man im Stehen einnimmt und bei dem auf den kleinen Finger geachtet wird, der von der Tasse abgespreizt sein muß, weil Führungskräfte Kultur haben müssen. Und Führungskräfte müssen, um zu führen, sich als fühlende (singende) Menschen mit Herz auf dem rechten Fleck erweisen. Darum immer wieder Sprüche und Gesänge, womit man Herz und Verstand für jenen Patriotismus trainiert, den man von anderen verlangt.
Z: Und was ist das Brechtsche an Marthaler?
W: Sicher wäre Marthaler sehr überrascht, wenn man ihm sagte, er „mache Brecht“. Aber da ist seine enorme Realitäts-Kenntnis, die auch im Absurden bis ins Detail stimmt; sein Bemühen, die Realität transparent zu machen, ohne sie zu zertrümmern. Im Gegenteil, er baut die Trümmer erst so richtig auf, daß das Alberne fast wie eine Errungenschaft erscheint, und erst das Lachen des Zuschauers es der Albernheit überführt, ohne daß es auf der Bühne albern zugeht. Man erkennt das, was man bisher in Medien und Wirklichkeit für normal hielt, als potentielle Verrücktheit und jene würdigen Amtsträger, die es in aller Öffentlichkeit mit tiefer Überzeugung betreiben, um andere zu überzeugen, als absolut Verrückte. Die „Verfremdung“ verrät hier ihren Ursprung in den uralten Techniken großer Clowns.
Marthaler geht – jedenfalls in dieser Produktion – von etwas aus, was Brecht die „Kunst der Beobachtung“ nennt. Die große Ruhe, in der sich die „Übungen“ ständig wiederholen, verleiht ihnen den Gestus der „Sitten und Gebräuche“. Auch Brecht zeigte Vorgänge gern als „Sitten und Gebräuche“, um sie nicht als Zufall, sondern einem sozialen System zugehörig zu zeigen. So werden nicht nur die einzelnen Vorgänge kritisiert, sondern vor allem das System, das sie hervorbringt. Das „Gedenktraining für Führungskräfte“ ist eigentlich mehr eine Kollage (Brecht würde es „Gestarium“ – Gestensammlung – nennen) und kein Stück, aber durch die Vielfalt der Mittel, kommend aus genauer Beobachtung, wird hier das absurde Verhalten von Führungskräften, das sich im Leben durch Gewöhnung der Kritik entzieht, in seiner ganzen Absurdität preisgegeben. Hier blüht dieser Schwachsinn wie eine große Errungenschaft dieser Gesellschaft. Es ist politisch echte „immanente Kritik“. Und es erfüllt noch ein Kriterium Brechts: Es ist unglaublich unterhaltsam.
Ästhetik und Politik
Z: Kommen wir noch einmal auf Brecht zurück. Wie würden Sie Brechts Ästhetik zusammenfassen?
W: Brechts Ästhetik oder – wie er lieber sagte – seine Produktionsweisen durchliefen verschiedene Phasen. In den 20er Jahren war sein „Episches Theater“ eine Provokation, denn Epik und Dramatik schlossen sich nach Aristoteles aus. Das führte auch schnell zu enormen Mißverständnissen. Bis heute wird behauptet, Brecht wolle auf der Bühne nur noch Epik statt Dramatik, also Beschreibung statt Handlung. Er gestatte nur epische Ruhe und keine dramatischen Leidenschaften. Er wolle – das alte Lied! – Gefühl durch Verstand ersetzen, Ästhetik durch Aufklärung.
„Episch“ heißt zunächst nichts anderes als „erzählend“. Brecht wollte dem Theater, das sich zu dieser Zeit (wie heute wieder) endlos in Symbolik, Ausdeutung, Stimmungen, Schocks, Räuschen, Exessen, Expressionen, vor allem „Regie-Einfällen“ ergeht, seine ursprüngliche Funktion zurückgeben: Theater sollte wieder „Geschichten erzählen“. Aber nicht etwa, indem es Geschichten vorliest, sondern indem es sie spielt. In diesem Sinne spricht Brecht auch vom „erzählenden Arrangement“, von „erzählender Geste“, von „erzählender Musik“, von „erzählenden Requisiten“. Sie alle tragen dazu bei, mit allen Mitteln der Bühne dem Zuschauer eine konkrete Geschichte zu „erzählen“. Der Zuschauer soll nichts „Vorgekautes“ (wie Moral, Geschmäcker, Meinungen, Bedeutungen) vorgesetzt bekommen, sondern er soll selbst „essen“. Die Vorgänge auf der Bühne betrachtend, soll er „sich seinen Reim darauf machen“. Es geht also nicht um Vermeidung oder Verminderung von Gefühlen, sondern um das Erzeugen ganz neuer Gefühle, nämlich, die der eigenen „Tätigkeit“. Dabei müssen die Gefühle des Zuschauers nicht immer die Gefühle der Bühnen-Figuren sein. Eigentlich geht es auch beim „Epischen Theater“ um nichts anderes, als den Zuschauer zur Selbstständigkeit zu aktivieren.
Ausgangspunkt war auch hier die Kritik der Identifikationsästhetik, die Brecht „aristotelisches Theater“ nennt. Das „aristotelische Theater“ geht davon aus, daß das Publikum sich durch „Furcht und Mitleiden“ mit dem Helden identifiziert und völlig in dessen Schicksal „einfühlt,“ als wäre es das eigene. So – gleichsam am Gängelband – durchlebt es mit dem Helden alle Höhen und Tiefen, um am Ende mit ihm „geläutert“ zu werden. Aristoteles nennt dies „Katharsis“. Brecht übersieht da ein wenig, daß die „Reinigung durch Furcht und Mitleiden“, die Karthasis, bei Aristoteles noch hauptsächlich therapeutischen Zwecken diente.
Die Vorstellung, daß eine gute Tat auf der Bühne beim Zuschauer direkt gute Taten auslöst (nichts anderes meint Identifikationsästhetik), ist bis heute eine beliebte Forderung aller Herrschenden der Welt. Auch in der DDR erhoffte man zum Beispiel mangelnde Arbeitproduktivität zu erhöhen, indem man auf der Bühne Helden zeigt, die besser arbeiten und so den Zuschauer veranlassen, am nächsten Morgen an seinem Arbeitsplatz es den Helden gleich zu tun und auch besser zu arbeiten.
Denis Diderot schrieb 1773 sein „Paradoxon für den Schauspieler“, in dem er bereits feststellt, daß große Gefühle beim Zuschauer nicht entstehen, indem er die großen Gefühle der Schauspieler einfach nachahmt, sondern eigene Gefühle entwickelt, die ganz andere sein können als die auf der Bühne. Denn – so Diderot – wirklich große Gefühle entstehen in „kritischer Distanz“, was für ihn nichts anderes heißt, als durch den Gebrauch seines „eigenen Kopfes und Herzens“.
Auch Brechts Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“ gewinnt seine politische und ästhetische Wirkung erst durch diesen Widerspruch. Mutter Courage, die am Krieg der großen Herren mit verdienen will, verdient nicht nur nichts, sie verliert alles, aber sie lernt daraus nichts, im Gegenteil, sie zieht weiter in den Krieg. Für Brecht entsprach das nicht nur der historischen Wahrheit – die Deutschen hatten am Ende des zweiten Weltkrieges tatsächlich fast nichts gelernt – es ist für das Theater auch die viel größere Tragik: Gerade die Unbelehrbarkeit der Courage ist es, die Verstand und Gefühl der Zuschauer so schockiert, daß sie vielleicht von sich aus den dringenden Wunsch verspüren, endlich zu lernen.
Viele – darunter auch der Dramatiker-Kollege Friedrich Wolf – bezweifelten das damals und sprachen von „politischen Intellektualismus“. Nur wenn der Zuschauer gefühlsmäßig erlebe, wie die Courage sich verändere, ändere er sich auch. Wenn aber die Courage nichts lerne, lerne der Zuschauer auch nichts. Sie warfen Brecht vor, er wolle auf der Bühne große Gefühle verhindern und durch „intellektuelle Belehrung“ ersetzen. Man verwies dabei auf die „Lehrstücke“, in denen Brecht ja direkte „Belehrung“ fordere. Übersehen wurde, daß bei den Lehrstücken nicht das Publikum, sondern hauptsächlich die Spieler lernen sollen. Aber eben auch nicht durch „intellektuelle Belehrung“, spielend sollten sie die Widersprüche am „eigenen Leib verspüren“ und so lernen, auch im wirklichen Leben mit Widersprüchen umzugehen. Diese Stücke waren vor allem für Schulen gedacht, in denen die Schüler die „Künste aller Künste“, die Lebenskunst im Spiel erlernen sollten.
Brecht wünschte sich im „Epischen“ Theater aber nicht nur den Zuschauer, der der Erzählung auf der Bühne folgt, er wollte den kritischen Zuschauer, den „Miterzähler“, für den die Vorgänge auf der Bühne nicht ein für allemal „schicksalhaft“ bestimmt, oder neu-deutsch: „alternativlos“, sind. „Damit auf spielerische Weise das Besondere der vom Theater vorgebrachten Verhaltensweisen und Situationen herauskommt und kritisiert werden kann, dichtet das Publikum im Geist andere Verhaltensweisen und Situationen hinzu und hält sie, der Handlung folgend, gegen die vom Theater vorgebrachten. Somit verwandelt sich das Publikum selbst zum Erzähler“.
Hier war Brecht auch sein bester Zuschauer. Irgendwann sah er in Leipzig den „Faust“. Und bei der berühmten Religionsszene, als Gretchen von Faust wissen will, wie er es mit der Religion halte, „ergänzte“ Brecht „im Geist“ den Handlungsverlauf mit der Frage, warum dieser Faust das Mädchen eigentlich nicht heiratet. Denn für Brecht, den „gelernten“ Katholiken, war die Frage nach der Religion eindeutig die Frage nach den „Heiligen Sakramenten“, das heißt nach der Heirat. Faust beantwortet die „einfache Frage“ des Mädchens, indem er zu einem glänzenden Vortrag über den Pantheismus Spinozas ausholt. Für das bürgerliche Theater war das ein Zeichen besonderer Zuneigung des großen Gelehrten zu dem „einfachen Mädchen aus dem Volk“. Brecht, der während dieser Faust-Aufführung „im Geist“ die ketzerische Frage stellte, warum er sie dann nicht heirate, entdeckte plötzlich etwas ganz anders. Nicht Zuneigung ist es, es ist ganz einfach Ausflucht. Faust will mit dem Mädchen schlafen, nicht es heiraten. Brecht entdeckte hier einen „genialen Zug des Goethinger“. Eine Liebesszene, die gleichzeitig eine Hinrichtung ist. Das Mädchen wird daran sterben.
Z: Ich erinnere mich, daß Sie einmal im „Dreigroschenheft“, als Sie auf die ursprüngliche Galilei-Fassung, genannt die „dänische“, zurückgingen, geschrieben haben, das Ziel sei gewesen – im Unterschied zu den anderen Fassungen, die von Brecht nach dem Abwurf der Atombombe stark aktualisiert worden waren – die Geschichte des Galilei wieder mehr auch von ihrer Schönheit her zu zeigen. Ästhetik und Politik – wie geht das bei Brecht zusammen.
W: Schönheit an sich gibt es nicht. Jede Zeit fragt, was für diese Zeit schön ist. Und das ist auf dem Theater natürlich nicht – wie man Brecht oft unterstellt – nur die Nützlichkeit, die eine Sache schön macht. Es ist der Genuß, den sie bereitet. Genuß aber ist nicht eine Eigenschaft einer Sache wie die des Zuckers, süß zu sein. Genuß ist die Tätigkeit, wie der Mensch mit dieser Sache umgeht. Die menschliche Tätigkeit macht sie erst schön.
Brechts Stück „Galileo Galilei“ ist nicht ein Diskurs über die Entwicklung der Physik und ihr politisches Versagen, das letztlich zur Atombombe führte. So etwas liefert die Gesellschafts-Wissenschaft besser. „Galilei“ ist ein Stück über Physiker, nicht über Physik. Also über Menschen und ihr Verhalten. Und die Geschichte, die hier auf der Bühne erzählt wird, ist die Geschichte der Widersprüche einer großen Renaissance-Figur. Eines Menschen, der beansprucht, aus Genuß zu denken, über den es im Stück heißt: „Zu einem alten Wein und zu einem neuen Gedanken könnte er nicht nein sagen“, dessen neuer Anspruch aber an einer alten Zeit scheitert. Um die Größe dieser Figur und ihres Scheiterns geht es in diesem Stück und von hier geht für mich eine wirkliche Schönheit aus. Denn sie löst beim Zuschauer Impulse aus, die Vorgänge um Galilei auf sich und seine eigene Zeit zu beziehen – als Warnung wie auch als Ermunterung. Beides – Warnung und Ermunterung – tragen zur Stärkung der Lebensfähigkeit und der Lebenslust bei. Das hieß für Brecht letzten Endes, sie sind „schön“. Hier setzt seine Ästhetik ein und zwar in ihren durch nichts zu ersetzenden Möglichkeiten.
Z: Gerade was die Frage der Ästhetik und ihres Verhältnisses zur Politik betrifft, hat sich die Linke immer schwer getan. Die 68er lehnten Ästhetik, angeblich dem Establishment zugehörig, als bewußte Ablenkung von der Politik ab.
W: Und fielen dabei hinter den Heiligen Augustinus des Jahres 395 zurück, der von der Musik immerhin noch sagte, sie sei dafür da, daß die Gemeinde sich die Psalmen besser merkt. Also sprach er immerhin von einem Nutzen. Die „alten“ Sozialdemokraten sprachen wenigstens noch von Ästhetik als der „kulturellen Umrahmung“, mit der man politische Versammlungen belebt. Piscator, der „Erfinder“ des Politischen Theater vor 1933, nannte es einen „Regie-Fehler“, wenn jemand in seinen Inszenierungen „Ästhetik“ entdecken sollte.
Man kann sagen, daß Brecht den Linken die Ästhetik zurückgegeben hat, und zwar ohne daß sie aufhören müssen „links“ zu sein. Produktivität und Ästhetik schlossen sich auf einmal nicht mehr aus. Im Gegenteil. Für Brecht gab es auf dem Theater keine Belehrung, die nicht zugleich „nobelstes Geschäft“ der Unterhaltung war.
Z: Wie wirkte sich das in Brechts Theorie aus?
W: In den 50er Jahren, auf der Suche nach Stoffen für neue Stücke über die neue Gesellschaft, reichte Brecht der Begriff „Episches Theater“ nicht mehr aus. Er beschränke sich zu sehr auf das nur „Formale“, auf die Machart. Er sprach in dieser Zeit immer mehr von „Dialektischem Theater“: „Das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters vermag die Dialektik zum Genuß zu machen. Die Überraschungen der logisch fortschreitenden oder springenden Entwicklung, der Unstabilität aller Zustände, der Witz der Widersprüchlichkeiten usw., das sind Vergnügungen an der Lebendigkeit der Menschen, Dinge und Prozesse, und sie steigern die Lebenskunst sowie die Lebensfreudigkeit.“
In den letzten Gesprächen aber reichte ihm auch der Begriff „Dialektisches Theater“ nicht mehr. Er sei „zu philosophisch, ihm fehle das Ästhetische“.
Wir waren damals 1956 in Buckow mit der Vorbereitung der Uraufführung „Die Tage der Commune“ beschäftigt, die Benno Besson und ich in Karl-Marx-Stadt machen sollten. Das Stück „Die Tage der Commune“ gilt ja als das am meisten politische Stück Brechts, da es das große politische Thema der Entstehung und des Untergangs der ersten Arbeiterregierung, der Pariser Commune von1871, direkt zum Gegenstand hat.
Brecht verwahrte sich damals gegen einen solchen Begriff des „Politischen Theaters“, der allein das politische Thema zum Kriterium hat. Stücke mit politischen Themen könnten außerordentlich unpolitisch sein, zum Beispiel wenn sie langweilig sind, wenn der Politik die Kunst fehle. Und Stücke, in denen Politik nicht vorkommt, könnten außerordentlich politisch sein. In seinem Stück „Die Kleinbürgerhochzeit“ gibt es nicht eine einzige Erwähnung von Politik, trotzdem wäre es – bei richtiger Spielweise – eine direkte politische Kritik des Kleinbürgertums, das im eigenen Saft schmort. Man entdecke das Kleinbürgertum als gefährlichen Feind der Revolution, zumal es auch Revolutionäre befallen kann. Für ihn sei „Politisches Theater“ nicht das politische Thema, sondern die politische Haltung, die es zeigt und die es auslöst. Eine politische Haltung sei für ihn, die Fähigkeit und Lust zur Veränderung der Verhältnisse.
Auch in dem Stück „Die Tage der Commune“ sei es nicht hauptsächlich das politische Thema, was es zum Politischen Theater mache. Die Forderung des jungen Arbeiters und Communarden Jean Cabet, nach dem Sieg der Commune trotz dringender politischer Aufgaben auch Zeit für seine Liebe zur Näherin Babette zu haben, ist mindestens so politisch, wie die Eroberung des Pariser Stadthauses durch Arbeiterbataillone. „Es ist die Forderung nach Veränderung der Lebensweise der Menschen. Schließlich werden Revolutionen deswegen gemacht.“
Brecht sprach damals – sehr vorsichtig noch – von seinem Theater als „Philosophischem Volkstheater“. In diesen Gesprächen sprach er auch zum erstenmal von „Naivität“ als einer der wichtigsten ästhetischen Kategorien, und er beklagte sich, daß man bisher sein gesamtes Werk zu „unnaiv“ betrachtet habe.
Die Verbindung solcher Gegensätze wie Philosophie als eine hohe Form des Denkens mit der „niederen“ Naivität des Volkstheaters haben ihn schon immer gereizt. So beantwortete er die Frage, wer denn seine Lehrer gewesen seien, stets mit „Karl Marx und Karl Valentin“.
Eine Analyse des „Philosophischen Volkstheaters“ blieb uns Brecht schuldig. Ich notierte mir am Rande nur eine Bemerkung, mit der Brecht damals grinsend das Gespräch abschloß: „Warum soll man nicht den Weltgeist zum Entertainer machen, da muß er sich wenigstens mal sehen lassen.“
Ich glaube, wir haben damals sehr gelacht.