CPE – mehr als ein Akt der Willkür
Triumphgefühle sind nach der Rücknahme des von der französischen Regierung unter Premierminister Dominique de Villepin erlassenen Gesetzes über Arbeitsverträge bei Ersteinstellungen nicht angesagt. Dennoch ist der Vorgang bemerkenswert. Wieder einmal zwang eine breite Protestbewegung die politische Klasse an der Macht zum Nachgeben und zwar in einer Frage, die vordergründig relativ unbedeutend erscheint, in der sich aber der Kampf um den französischen Sozialstaat symbolisch verdichtete. Es geht bei dem aktuellen Konflikt nämlich nicht um ein einzelnes Gesetz, dessen inhaltlicher Zynismus allerdings auch für französische Verhältnisse nicht alltäglich ist, sondern um den Auftakt für eine neue Offensive der herrschenden Klasse mit dem Ziel, die noch vorhandenen sozialen Sicherungssysteme endgültig zu zerschlagen, die Kommodifizierung der Arbeitskraft zu vervollständigen und gleichzeitig diejenigen sozialen und politischen Akteure zu überrollen, die bisher der Demontage des Sozialstaats und der Deregulierung der Arbeitsbeziehungen Widerstand entgegengesetzt haben. Die Protestbewegung gewann jedoch eine Dynamik, die weit über den unmittelbaren Anlass hinausging und nicht nur die Arroganz neoliberaler Macht enthüllte, sondern auch die sich hinter dieser Macht verbergenden Risse des bürgerlichen Blocks offen zu Tage treten ließ. Der Versuch von de Villepin, Repräsentant der Mehrheitspartei UMP, das CPE-Gesetz durchzupeitschen, das den Kündigungsschutz noch weiter durchlöchern und den Arbeitgebern die Möglichkeit geben sollte, Berufsanfänger bis 26 Jahre in Betrieben mit mindestens 20 Beschäftigten während einer auf zwei Jahre ausgedehnten Probezeit ohne Begründung und mit einer nur vierwöchigen Kündigungsfrist wieder zu entlassen,[1] hat landesweit ein Echo ausgelöst, von dem sich der herrschende bürgerliche Block und seine intellektuellen Berater vorher offensichtlich nichts haben träumen lassen. Das CPE, das außerdem in einer rechtlich äußerst fragwürdigen kabinettspolitischen Nacht- und Nebelaktion vollendete Tatsachen schaffen sollte, provozierte so genau das Gegenteil von dem, was es eigentlich bezweckte. Anstatt die Lohnabhängigen, Arbeitslosen und insbesondere jungen Arbeitsuchenden noch mehr unter Druck zu setzen, der Willkür des Arbeitsmarktes auszuliefern und an das Prinzip des „hire and fire“ zu gewöhnen, rief das Gesetz, das nur ein einfaches Kettenglied im komplexen neoliberalen Herrschaftsmechanismus zu sein schien, eine Protestbewegung hervor, wie sie es seit den Streiks und Demonstrationen im Winter 1995 nicht mehr gegeben hat.
Versucht man die Besonderheiten der Protestbewegung 2006 zu verstehen und sie mit anderen vorangegangenen Bewegungen und Massenaktionen zu vergleichen, so kristallisieren sich unter anderem folgende Punkte heraus, die einer näheren Erläuterung bedürfen.
Der Fokus des Widerstandes
In den sozialen und politischen Kämpfen während der gesamten Periode der fordistischen „Trente Glorieuses“, also der Prosperitätsphase bis in die achtziger Jahre, dominierten Aktionen in den industriellen Zentren und regionalen Bastionen der Arbeiterbewegung. Und auch dann, wenn die Klassenauseinandersetzungen nicht unmittelbar aus Widersprüchen zwischen Kapitalinteressen und den Reproduktionserfordernissen der Arbeitskraft resultierten, sondern etwa durch politische Vorgänge und Ereignisse ausgelöst wurden (z. B. durch den Sieg des Gaullismus 1958), waren es in der Regel die Arbeiterparteien, namentlich der PCF, die Gewerkschaften und die sie stützenden Gruppen der Arbeiterschaft, die eine entscheidende Rolle spielten. Dabei kam den Arbeitern im Bergbau (Lothringen und Nordfrankreich), den Werftarbeitern der Atlantikküste und vor allem den „métallos“, den Metallarbeitern, in erster Linie den Automobilarbeitern der „Arbeiterfestung“ (forteresse ouvrière) Renault eine Schlüsselbedeutung zu.[2] Die Bewegung von 1968 und der folgenden Zeit löste diese traditionelle Kräftekonstellation der gesellschaftlichen und politischen Gegensätze insofern ab, als nun rebellierende Studenten eine Katalysatorenfunktion übernahmen. Nichtsdestoweniger waren es aber letztlich auch 1968 die gewerkschaftlich und politisch aktiven Kerngruppen der Arbeiterklasse und ihre Organisationen, die für die Bewegung die erforderliche Massenbasis schufen und ihr jene Stoßkraft verliehen, welche das gaullistische Regime und das Großkapital ungleich mehr fürchteten, als das medienwirksame Spektakel der antiautoritären Studenten unter Führung von Daniel Cohn-Bendit und anderer studentischer Heroen. In den Jahren nach 1968 verschob sich der Fokus der sozialen Konflikte und Kämpfe allmählich immer mehr von der Industrie auf den öffentlichen Sektor (secteur public). Die Bewegung von 1995, eine Reaktion auf den Versuch der damaligen bürgerlichen Regierung Juppé, den öffentlichen Dienst und die sozialen Sicherungssysteme „neu zu ordnen“, spiegelte das deutlich wider. Es waren nun nicht mehr die „métallos“, die kampferprobten Metallarbeiter, sondern die streikenden Lokführer der staatlichen Eisenbahnen (SNCF) und das Personal öffentlicher Verkehrsbetriebe, aus denen sich die Avantgarde der Protestbewegung rekrutierte.[3] Mit den aktuellen Auseinandersetzungen um das CPE-Gesetz hat sich der Fokus auf der Achse des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses noch einmal ein Stück weiter von den Zentren der materiellen Produktion zur Peripherie hin verschoben. Jetzt nämlich sind es in erster Linie weder die Industriearbeiter noch die Beschäftigten des öffentlichen Sektors, sondern soziale Gruppen, die bisher überhaupt noch nicht in den kapitalistischen Arbeitsprozess eingegliedert sind, von denen der Widerstand ausgeht. Zwar ist der Kündigungsschutz ein Kernbereich klassischer Gewerkschaftspolitik, aber bei den vom CPE-Gesetz Betroffenen handelt es sich überwiegend um Menschen, die bisher keine Beschäftigung gefunden haben bzw. sich in der schulischen, beruflichen oder universitären Ausbildung befinden, also dem Arbeitsmarkt noch gar nicht unmittelbar zur Verfügung stehen. Wie lässt sich diese Verschiebung der Ursachen sozialen und politischen Widerstands und die Verlagerung auf Schüler, Studierende und junge abhängig Erwerbstätige als Hauptakteure der sozialen Bewegung erklären?
SchülerInnen und Studierende – Avantgarde einer neuen sozialen Bewegung?
Der Erlass des CPE-Gesetzes schrieb die bisherigen Maßnahmen einer Deregulierung des Arbeitskrafteinsatzes und der Beschäftigungsverhältnisse, die sich mit Etiketten wie RMI (revenu minimum d’insertion) oder CDD (contrat à durée déterminée) und CNE (contrat nouvelle embauche) schmücken, fort und verschärft sie gleichzeitig. Das CPE-Gesetz hätte zwar im Falle seiner Anwendung absolut nicht dazu geführt, schwer vermittelbare Jugendliche in den Arbeitsprozess einzugliedern und die Jugendarbeitslosigkeit – sie liegt bei den 18 bis 25-Jährigen offiziell bei 25 Prozent - auch nur geringfügig zu verringern,[4] aber es sollte dennoch eine wichtige Funktion im hegemonialen Diskurs erfüllen. Es sollte nämlich die kommende Generation potentieller Erwerbstätiger mental darauf einstellen, die Imperative des Marktes und den Verzicht auf den Schutz der Arbeitskraft als Normalität zu verinnerlichen. Schülerinnen, Schüler und Studierende haben aber genau erkannt, dass sie es in erster Linie sind, die – im Unterschied zu den bereits jetzt vollständig marginalisierten und von Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Jugendlichen – mit Hilfe des CPE an einen von Schutzbestimmungen der Arbeitskraft möglichst weitgehend gereinigten Arbeitsprozess angepasst werden sollen. An diesem Punkt berühren sich zwei scheinbar voneinander unabhängige Prozesse, nämlich die Deregulierung des Arbeitsmarktes zum einen und eine immer massiver hervortretende Tendenz zur Deklassierung der Mittelschichten, insbesondere ihrer jüngeren, lohnabhängigen Gruppen, zum anderen. Letztere findet ihren Ausdruck zum Beispiel in der Tatsache, dass Abitur und Hochschulstudium keineswegs mehr ein Eintrittsticket für eine sichere Berufskarriere ausstellen, die gut dotierte berufliche Positionen und einen entsprechenden sozialen Status garantiert.[5] Die Umstellung des höheren Bildungssystems auf eine Quasi-Fließbandproduktion akademischer „Massenarbeiter“ hat die Zahl der Abiturientinnen und Abiturienten von 15 Prozent im Jahr 1965 auf 70 Prozent im Jahr 2005 anschwellen lassen. Während sich die überwältigende Mehrheit der Studierenden mit den miserablen Bedingungen chronisch unterfinanzierter Massenuniversitäten konfrontiert sieht, können Jugendliche aus wohlhabenden Familien zu teuren Privatschulen Zuflucht nehmen. Eine verschwindende Minderheit wiederum wird an den staatlichen Eliteuniversitäten, den „grandes écoles“, mit teilweiser Bezahlung und fester Garantie für eine spätere Berufskarriere, auf Führungspositionen getrimmt und mit einem entsprechenden Elitebewusstsein ausgestattet.[6] Die den gesamten Bildungsbereich erfassende soziale Klassenspaltung macht wesentlich erklärbar, warum gerade Schülerinnen, Schüler und Studierende gegen das CPE rebellieren. In ihrem Protest antizipieren sie die ihnen drohende Zukunft eines schlecht ausgebildeten „Humankapitals“, das sich demnächst als „akademisches Proletariat“ auf dem Arbeitsmarkt wieder finden wird. Das Zusammentreffen radikaler Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse mit bildungsvermittelter sozialer Deklassierung liefert so den Schlüssel zum Verständnis des viele Beobachter überraschenden Phänomens, dass Schülerinnen, Schüler und Studierende an vorderster Front der Protestbewegung stehen. Daran lässt sich übrigens ein signifikanter Unterschied zum Mai 1968 feststellen. Der Utopismus der antiautoritären Studenten von 1968 spiegelte eine schier endlose Distanz zu den Sorgen um die materielle Existenzsicherung wider, von denen Hunderttausende der Studierenden heute heimgesucht werden. Die Jugendlichen der gegenwärtigen Protestbewegung wollen aus Gründen, die auf der Hand liegen, eine gesicherte berufliche Zukunft und angemessene Qualifikationsmöglichkeiten. Das mag einigen Medienintellektuellen, die sich ihrerseits eines hohen, oft sogar luxuriösen Lebensstandards erfreuen, als „materialistisch“ erscheinen, ist aber nur der folgerichtige Ausdruck einer Krisenerfahrung, die auch bei den noch nicht erwerbstätigen Jugendlichen elementare Interessen des Lebensunterhalts berührt. Das Problem liegt folglich nicht in einer mangelnden Legitimität der Forderungen der Protestbewegung, sondern vielmehr darin, wie die Anliegen der Jugendlichen mit den spezifischen Interessen anderer gesellschaftlicher Gruppen und Akteure vermittelt werden können.
Jugendprotest und Vorstadt-Gewalt
Die soziale und kulturelle Fragmentierung der modernen französischen Gesellschaft reproduziert sich in einer Spaltung des Jugendprotestes, der ganz entgegengesetzte, heterogene Formen annimmt.
Im Herbst 2005 kam es bekanntlich wochenlang zu Gewaltausbrüchen von Jugendlichen in den „banlieues“, den Vorstädten von Paris, Lyon und anderen Großstädten. Die beteiligten Jugendlichen stammen ganz überwiegend aus dem Immigrantenmilieu, auch wenn sie teilweise die französische Staatsbürgerschaft besitzen. Die Prügeleien mit der Polizei, Brandstiftungen und Plünderungen in den Sozialghettos verweisen auf eine Kumulation mehrerer gleichzeitig ablaufender, sich wechselseitig verstärkender Prozesse sozialer Desintegration und moralischer Anomie, wie das folgende Beispiel illustriert.[7]
Einer der Brennpunkte im wahrsten Sinne des Wortes war der nordöstlich von Paris gelegene Citroën-Standort Aulnay-sous-Bois und dort insbesondere das Ende der sechziger Jahre als Vorzeigeprojekt aus dem Boden gestampfte Viertel mit dem poetischen Namen „Die Rose der Winde“ (La Rose-des-Vents), auch „Cité der 3000“ genannt.[8] In „La Rose-des-Vents“ liegt die offzielle Quote der Arbeitslosigkeit bei 28 Prozent, die der Frauen bei 30 Prozent und die der Jungen von 15 bis 24 Jahren sogar bei fast 40 Prozent. Der Anteil an Sozialbauwohnungen (HLM) am gesamten Wohnungsbestand beträgt 84 Prozent, während er in der gesamten Region Ile-de-France bei knapp 25 Prozent liegt. Mehr als ein Drittel aller Familien hat drei und mehr Kinder, die Zahl der allein erziehenden Frauen liegt bei über 18 Prozent aller Familien. Da als Ausländer/-in nur gilt, wer formal nicht die französische Staatsbürgerschaft hat, täuscht die offizielle Statistik über das Ausmaß der immigrationsbedingten Einflüsse auf die Lebenssituation der Einwohner von „La Rose-des-Vents“ hinweg, denn die Statistik zählt „nur“ 34 Prozent Ausländer/-innen. Würde man den faktischen Immigrationshintergrund der Herkunft als Indikator wählen, dürfte die Zahl der Betroffenen bei einem Ausländeranteil von mehr als 70 Prozent liegen. Eindeutig sind dagegen die Daten über den sozialen Status der Schülerinnen und Schüler in den Schulen des Viertels. Am Collège-Claude-Debussy kommen 90 Prozent der Schüler aus benachteiligten sozialen Schichten (catégories défavorisées). Aber die soziale Seite der Probleme in „La Rose-des-Vents“ und anderen Sozialghettos ist unlösbar mit ihrer geschlechtsspezifischen Seite verknüpft. Die marodierenden Jugendlichen stammen zu einem erheblichen Teil aus „Familien“, aus denen sich die Väter abgesetzt haben und wo die Mütter mit allein nicht mehr zu bewältigenden materiellen, kulturellen und moralischen Belastungen konfrontiert sind. Zusätzlich wird diese Situation durch das nicht eben gerade seltene Phänomen der Polygamie in Immigranten-Ghettos mit hohem Bevölkerungsanteil afrikanischer Herkunft verschärft. Die Frauen bzw. Mütter bleiben faktisch von den nicht anwesenden Männern abhängig, während die männlichen Jugendlichen – und die gewalttätigen Gangs im Herbst 2005 setzten sich nahezu vollständig aus männlichen Jugendlichen zusammen – ihre Mütter nicht als Autorität respektieren, alles Weibliche als minderwertig verachten[9] und oft in einer totalen männlichen Herrschaft über ihre soziale Umwelt, verbunden mit dem Besitz eines BMW der 5-Klasse und durch Drogenhandel locker verdientem Geld, die Erfüllung aller Träume erblicken.
So handelte es sich im Herbst 2005 bei den von brennenden Müllcontainern, Autos und Kindergärten gespenstisch illuminierten Exzessen des jugendlichen Vandalismus, der einer Reihe von Städten einen polizeilichen Ausnahmezustand aufzwang, um Reaktionen auf das vollständige Scheitern sozialer und kultureller Integration. Die Tatsache, dass den Gewaltausbrüchen jede politische Perspektive und ideologische Rechtfertigung fehlte, macht ein spezifisches Problem sichtbar: Die Krisenerfahrungen und fortschreitende soziale Fragmentierung lösen unter den gegebenen Bedingungen keine Vereinheitlichung des Widerstandes aus, sondern führen zunächst einmal zu einer politisch schwer zu bewältigenden Heterogenität der Protestursachen und des Protestverhaltens. Das zeigt sich zum Beispiel auch darin, dass sich die gewalttätigen Jugendlichen der „banlieue“ nicht nur nicht spontan als potentielle Verbündete der Schülerinnen, Schüler und Studierenden verstehen, sondern im Gegenteil spektakulär als deren potentielle Feinde in Erscheinung getreten sind, wie die Überfälle von Gangs aus den Vorstädten auf Teilnehmer/innen der Anti-CPE-Demonstrationen beweisen. Sozialromantische Projektionen auf eine fiktive Rolle der jugendlichen Gewalttäter als „revolutionär“ sind heute noch weniger angesagt als die Hoffnungen eines Herbert Marcuse auf die systemsprengende Macht der „Randgruppen“ in den USA während der sechziger Jahre.[10] Erst wenn die Jugendlichen der „banlieue“ mit einem Mindestmaß an sozialer und beruflicher Integration rechnen können und sich gleichzeitig ihr sexistischer Habitus und Männlichkeitskult spürbar verändert, werden sie sich für Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Demokratisierung empfänglich zeigen. Solange das nicht der Fall ist, werden die Ghetto-Jugendlichen für kapitalismuskritische, antipatriarchalische und demokratische Sozialbewegungen wie bisher kaum ein Adressat, sondern sogar eher ein Störfaktor und Gefahrenpotential sein.
Neue politische Rolle der Gewerkschaften?
Wie gelang es den Gewerkschaftern, den Protest gegen das CPE-Gesetz zu ihrer Sache zu machen, ohne in eine Situation der Konkurrenz mit den Schülerinnen, Schülern und Studierenden zu geraten? Diese Frage lässt sich wie folgt beantworten. Erstens ist die Verteidigung des Kündigungsschutzes eine angestammte Domäne der Gewerkschaftspolitik. Zweitens sehen die Gewerkschaften in der Protestbewegung der Jugendlichen ein Rekrutierungspotential für dringend benötigte neue Mitglieder zumal aus solchen Qualifikationsgruppen, die im Zuge der Modernisierung und Tertiarisierung der Arbeit zukünftig eine Schlüsselbedeutung erlangen werden. Drittens hat es in der zurückliegenden Dekade schon mehrmals Situationen gegeben, in denen die Gewerkschaften, im Unterschied zu den Spannungen zwischen rebellierenden Studenten und Arbeiterbewegung 1968, sich mit den Interessen der Jugendlichen als zukünftigen Lohnabhängigen solidarisieren konnten, wie es beispielsweise 1994 bei den Aktionen gegen den so genannten „Vertrag zur beruflichen Eingliederung“ (CIP = contrat d’insertion professionelle) geschah. Dagegen war 1968 das Verhältnis der antiautoritären Studenten zu den Gewerkschaften, vor allem zu deren einflussreicher linker Strömung, der CGT, durch den Anspruch beider Seiten auf politische Hegemonie bestimmt. Den teilweise abenteuerlichen studentischen Visionen einer von jedweden Zwängen erlösten Welt, denen allerdings weder sonderlich radikale noch realistische Vorstellungen einer „Übergangsregierung“ ohne die damals stärkste linke Partei, den PCF, korrespondierten,[11] standen die nüchternen Forderungen der CGT nach Lohnerhöhungen, verbesserten Arbeitsbedingungen, der betrieblichen Anerkennung der Gewerkschaften und einer linken Regierung auf breiter Grundlage unvermittelt gegenüber. Probleme dieser Art existieren heute nicht mehr, denn das genuine Interesse an guter Ausbildung und einer beruflichen akzeptablen Zukunft verbindet die Jungen mit dem gewerkschaftlichen Interesse am Schutz der Beschäftigten vor den Unwägbarkeiten des Arbeitsmarktes, an der Sicherung von Arbeitsplätzen und an guten Arbeitsbedingungen. Dadurch, dass die Zukunftsaussichten nicht nur derjenigen Jugendlichen, die einen Lehrberuf ergreifen, sondern auch der Studierenden immer düsterer werden, - nur noch 70 Prozent können damit rechnen, später einmal einen unbefristeten Arbeitsvertrag (contrat à durée indéterminée) zu bekommen -, erhalten die Beziehungen zwischen Lehrlingen, Schülern, Studierenden und Gewerkschaften eine materielle Basis, die in früheren Perioden politisch immer wieder in Frage gestellt worden war. Allerdings wäre die gemeinsame Bewegung, zumal in dieser Breite und auf diesem Niveau der Mobilisierung, nicht zustande gekommen, wenn sich nicht gleichzeitig die seit langem komplizierten Beziehungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung selbst verändert hätten. Das gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen den beiden größten Gewerkschaften, der CFDT und der CGT. Hier ist zumindest gegenwärtig eine bemerkenswerte Annäherung zu beobachten, nachdem während des vergangenen Jahrzehnts immer wieder Gegensätze aufgebrochen waren.
Wie war es zu den Zerwürfnissen und Spannungen gekommen? Seit Ende der siebziger Jahre hatte die ehemals linkskatholisch-sozialistische, 1968 mit der antiautoritären Strömung der Studentenbewegung offen sympathisierende CFDT einen strategischen Kurswechsel vollzogen.[12] Sie plädierte nun für eine gewerkschaftliche Politik des „recentrage“ (Wiederbesinnung) und der „resyndicalisation“, auf deren Grundlage die Gewerkschaften sich wieder ihren eigentlichen, von der Logik der Politik unabhängigen Aufgaben widmen sollten. Tatsächlich aber verbarg sich hinter dem Appell der „Resyndikalisierung“ eine Absage an gewerkschaftliche Konflikt- und Aktionsfähigkeit. Beides sollte durch eine Anpassung an Prozesse kapitalistischer Modernisierung und eine Kultur der vertraglichen Aushandlung ersetzt werden. Seitdem stellte sich die CFDT immer wieder als Partner für den Abbau der sozialen Sicherungssysteme zur Verfügung. Mit dieser Wende fand die CFDT jedoch eine gewisse Resonanz vor allem bei Beschäftigten im tertiären Sektor, in der IT-Industrie, der chemischen Industrie und in den Wissensberufen.
In der großen Streikbewegung 1995 kooperierte die CFDT mit denjenigen Kräften im politischen Raum, die den „plan Juppé“, also den Versuch des damaligen Premierministers, soziale Garantien für Rentner, zum Beispiel der Lokführer im Ruhestand, aufzuheben und den Sozialstaat auf breiter Front zu demontieren, prinzipiell befürworteten. Damit spaltete die CFDT die Einheit des gewerkschaftlichen Widerstandes. Auch eine erfolgreiche gewerkschaftliche Abwehr der Rentenreform von 2003 scheiterte an der Haltung der CFDT, die diese Reform akzeptierte. Dagegen gaben CGT und die drittstärkste Gewerkschaft, FO, die lange Zeit zerstritten waren, sich aber seit den neunziger Jahren wieder angenähert haben, sowohl 1995 als auch 2003 ihre gemeinsame Opposition nicht auf.
Wenn es jetzt anlässlich des CPE-Projekts zu einem geradezu spektakulär anmutenden Schulterschluss zwischen CFDT einerseits und CGT und FO (sowie zahlreichen anderen Gewerkschaftsverbänden) andererseits gekommen ist, sind dafür mehrere Ursachen zu nennen.[13] Die CFDT hat während der letzten Zeit, insbesondere im Jahr 2003, spürbare Mitgliederverluste zu verzeichnen. Auch schnitt sie bei den letzten Wahlen zu den Arbeitsschiedsgerichten (élections prud’homales), die eine wichtige Funktion für die Regulierung der Arbeitsbeziehungen haben, schlechter als ihre große Konkurrentin CGT ab. Hinzu kommt, dass die allmähliche Autonomisierung der CGT gegenüber der Kommunistischen Partei (PCF), mit der sie traditionell eng verbunden war, dazu geführt hat, dass die CGT nun als Projektionsfläche für notorischen Antikommunismus nicht mehr geeignet erscheint.[14] Das und andere Faktoren wie die zunehmende Pluralität des Gewerkschaftsspektrums insgesamt, in dem neue Organisationen wie die FSU oder die „Union syndicale Solidaires“ (2004 hervorgegangen aus verschiedenen Verbänden der SUD) auf den Plan getreten sind, haben ganz offensichtlich die Bereitschaft zur Aktionseinheit gefördert. Dem wiederum wollen und können sich auch die gemäßigten und korporatistisch orientierten Verbände wie der der leitenden Angestellten CFE-CGC, der christlichen Gewerkschaft CFTC oder der UNSA (vor allem im öffentlichen Dienst, bei der Polizei usw.) nicht entziehen. Dadurch wurde es möglich, dass sich die Gewerkschaften in einer Einmütigkeit wie selten zuvor auf die gemeinsame Position verständigen konnten, das CPE-Gesetz prinzipiell abzulehnen und seine uneingeschränkte Zurücknahme durch die Regierung zu verlangen.[15] Dies ist am 10. April dann auch wirklich geschehen.
Obwohl man den Erfolg der Protestbewegung und der gewerkschaftlichen Einheit nicht überschätzen darf, so ist doch ihr sozialer und politischer Wert sehr hoch, wenn man folgende Gesichtspunkte berücksichtigt. Die Bewegung hat gezeigt, dass Prozesse der Modernisierung, Flexibilisierung und Individualisierung die Möglichkeit einer Vereinheitlichung differenzierter sozialer Interessen nicht grundsätzlich ausschließt. Die Bewegung hat des weiteren gezeigt, dass die sozialen Grenzen zwischen gering qualifizierten Arbeitskräften, qualifizierten Arbeitern und Angestellten und lohnabhängigen Teilen der Mittelklasse fließend werden, zumal da die Unterschiede zwischen Beschäftigung und Prekarität immer mehr verschwimmen, sich also die soziale „Zone der Verwundbarkeit“ (Robert Castel) immer weiter ausdehnt. Aus der Bewegung lässt sich außerdem lernen, dass der Druck der gesellschaftlichen Krise nicht zwangsläufig zu einer ideologischen und politischen Zersplitterung der beteiligten Akteure führen muss, sondern dass aus gesellschaftlichen Widersprüchen trotz der enormen symbolischen, sich vor allem der Medien bedienenden Verfügungsgewalt der herrschenden Klasse auch Chancen erwachsen können, um den scheinbar alternativlosen Lauf der Dinge ins Stocken zu bringen. Mit den Aktionen der vergangenen Wochen ist allerdings weder die strukturelle Krise der Gewerkschaften, hervorgerufen durch das Schrumpfen des traditionellen Industriesektors, die Umbrüche in der Beschäftigungsstruktur und die Erosion einer kollektiven Arbeiterkultur[16] schon dem Punkt ihrer Überwindung qualitativ näher gerückt, noch hat die gewerkschaftliche Aktionseinheit jenes Ausmaß an Stabilität gewonnen, ohne dass Reformen, die ihren Namen wirklich verdienen, der Erfolg versagt bleiben muss.
Dissonanzen im politischen Konzert der Herrschenden
Es wäre übertrieben, angesichts des Zurückweichens der Regierung de Villepin schon von einer Krise des politischen Blocks an der Macht zu sprechen. Aber unter politischen Gesichtspunkten sind die Risse im bürgerlichen Lager „der Rechten“ (la Droite) tief und die Funktionsstörungen in der institutionellen Arbeitsteilung doch erheblich. Die unterschiedlichen Deutungen und Optionen innerhalb der bürgerlichen Rechten, namentlich in der majoritären Regierungspartei UMP (Union pour un mouvement populaire), der sowohl der Staatspräsident Jacques Chirac als auch der noch amtierende Premierminister Dominique de Villepin sowie der Innenminister Nicolas Sarkozy angehören, lassen erkennen, dass der Druck der Protestbewegung Wirkung zeigt.[17] Jetzt treten die Divergenzen deutlicher hervor, die bisher auch wegen der Schwäche der sozialen und politischen Gegner eher latent geblieben sind. Die Spannungen zwischen Staatspräsident Chirac und de Villepin einerseits und zwischen diesen beiden und Sarkozy andererseits, der sich auf Kosten beider als zukünftiger Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2007 zu profilieren versucht, haben die Handlungsfähigkeit der bürgerlichen Rechten zumindest momentan stark eingeschränkt. Bevor de Villepin am 10. April 2006 das Gesetz definitiv zurückzog, hatte Chirac es in einer paradoxen Aktion bestätigt, um gleichzeitig seine Nichtanwendung zu postulieren. In ihrer Besessenheit, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, haben sich die führenden Akteure des bürgerlichen Lagers gegenseitig blockiert und in Widersprüche verwickelt. Es kommt hinzu, dass sowohl bürgerliche Parteien wie die liberale UDF als auch Repräsentanten der großen Unternehmen wie die Vorsitzende des führenden Unternehmerverbandes MEDEF (Mouvement des Entreprises de France), Laurence Parisot, auf Distanz zum CPE gegangen sind, obwohl sie grundsätzlich eine umfassende Deregulierung des Arbeitsmarktes befürworten. Wenn jetzt in den Medien betont wird, dass das autokratische Vorgehen von de Villepin, der sich weder mit den Unternehmerverbänden noch seiner Fraktion in der Nationalversammlung beriet, von Konsultationen mit den Gewerkschaften ganz zu schweigen, die eigentliche Ursache für das Scheitern des CPE gewesen sei, so ist das allerdings eine Deutung, die nur nachträglich bestätigt, was real ohnehin eingetreten ist. So irrational, wie jetzt viele Kommentatoren glauben, war die Strategie de Villepins jedoch a priori durchaus nicht. Sie war nur riskant. Er konnte nämlich zunächst angesichts einer wenig gefestigten Opposition hoffen, einen Überraschungscoup zu landen und das Gesetz ohne nennenswerten Widerstand „durchzuziehen“. Wäre das gelungen, dann hätte er der Opposition und allen Kräften, die der Regierung skeptisch oder ablehnend gegenüber stehen, einen Schlag versetzt, von dem sie sich nicht so schnell wieder erholt hätten. De Villepin war übrigens nicht der einzige, der die Situation falsch einschätzte, auch die Gewerkschaften und die politische Linke hatten die Dynamik und Breite des Widerstandes so nicht voraus gesehen. Darin weist die aktuelle Situation eine gewisse Parallele zum Mai 1968 auf, den auch niemand, gleichgültig welcher Couleur, erwartet hatte. An der Anti-CPE-Bewegung wird erneut sichtbar, dass auch ein institutionell und medial noch so perfekt gesteuerter Herrschaftsapparat das Moment der Spontaneität und Emergenz sozialer Bewegungen niemals ganz kontrollieren oder ausschalten kann, solange es antagonistische gesellschaftliche Verhältnisse gibt. Sie werden immer wieder unvermeidlich einen Problemüberschuss hervorbringen, der die Möglichkeiten ihrer Kontrolle überschreitet. Das zu erkennen, ist kein Monopol der französischen Bevölkerung. Sie ist aufgrund ihrer historischen Erfahrungen, ihres „kollektiven Bewusstseins“ (Maurice Halbwachs) aber vielleicht etwas sensibler als die Menschen der benachbarten Länder, wenn es um die Wahrnehmung von Widerspruchskonfigurationen geht, aus denen neue Bewegungen und Chancen für Alternativen entstehen können.
Die politische Linke hat sich im Kampf gegen das CPE merklich zurückgehalten und das außerparlamentarische Feld weitgehend der Protestbewegung der Jungen und den Gewerkschaften überlassen. PCF und Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) haben allerdings schon früh zur aktiven Unterstützung der Bewegung aufgerufen, während die größte Oppositionspartei, die sozialistische Partei (PS), sich erst sehr spät direkt für eine Teilnahme an den Demonstrationen ausgesprochen hat. In der uneingeschränkten Ablehnung des CPE war sich die Linke allerdings einig. Am 31. März trafen sich zehn Organisationen am Sitz des PCF, darunter die PS, die Grünen, die Linksliberalen (PRG), und unterzeichneten einen gemeinsamen Appell, der die bedingungslose Aufhebung des CPE forderte.[18]
Zweifellos hat die Bewegung gegen dieses Gesetz die Voraussetzungen für eine linke politische Alternative zum herrschenden Block Chirac-de Villepin-Sarkozy verbessert, aber zwischen Gemeinsamkeiten der Opposition einerseits und der Gemeinsamkeit in der Entwicklung einer konstruktiven politischen Alternative andererseits besteht ein qualitativer Unterschied. Eine solche Alternative zu verwirklichen, wird wesentlich schwieriger sein als das CPE zu Fall zu bringen.
[1] Der „contrat première embauche“ (CPE) sollte den bisherigen Artikel 8 des „Gesetzes über Chancengleichheit“ ersetzen.
[2] Jacques Frémontier, La Forteresse ouvrière: Renault, Paris 1971.
[3] Vgl. Sophie Béroud, René Mouriaux, Michel Vakaloulis, Le Mouvement social en France. Essai de sociologie politque, Paris 1998; vgl. auch Alain Touraine u.a., Le grand refus. Réflexious sur la grève de décembre 1995, Paris 1996. Hier versuchten Touraine und seine Mitarbeiter in einer äußerst kritikbedürftigen Weise, den Stellenwert der Bewegung von 1995 als korporatistisch und rückständig herunter zu spielen.
[4] Dass vom CPE keine beschäftigungsfördernde Wirkung ausgehen würde, hat zum Beispiel der Wirtschaftswissenschaftler Olivier Favereau erläutert („CPE: le vaccin qui tue?“, Le Monde, 31.03.2006).
[5] Vgl. das Dossier „Dépendance et précarité: avoir 20 ans en 2006“, Le Monde, 24.03.2006.
[6] Das grundlegende Werk über die akademischen Eliten in Frankreich hat Pierre Bourdieu unter dem Titel „Der Staatsadel“ (frz. 1989), Konstanz 2004, verfasst.
[7] In einer Fallstudie haben Stéphane Beaud und Michel Pialoux den Prozess sozialer Desintegration als Ursache jugendlicher Gewaltausbrüche exemplarisch untersucht. Vgl. Stéphane Beaud/Michel Pialoux, Violence urbaine, violence sociale. Genèse des nouvelles classes dangereuses, Paris 2003.
[8] Vgl. das Dossier „Du ‘paradis’ au ghetto: l’histoire de la Rose-des-Vents“, Le Monde, 18.11.2005.
[9] Vgl. die eindringliche Kritik von Alice Schwarzer: „Wer verbrennt wen? Die Banlieue: Ein Aufstand junger Männer“, FAZ, 17.11.2005.
[10] Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied und Berlin 1967, S. 258-268.
[11] Vgl. zum Beispiel J. Sauvageot/A. Geismar/D. Cohn-Bendit, Aufstand in Paris oder ist in Frankreich eine Revolution möglich? Hrsg. von Hervé Bourges, Reinbek bei Hamburg 1968.
[12] Vgl. Lothar Peter, Zwischen Reformpolitik und Krise – Gewerkschaften in Frankreich 1980 bis 1985, Frankfurt a. M. 1985 (IMSF), S. 44 ff.
[13] Vgl. zum Folgenden Jean-Marie Pernot, Syndicats: lendemains de crise?, Paris 2005.
[14] Ebd. S. 194 ff.
[15] Vgl. die informative Analyse von Michel Noblecour, „Les syndicats à l’epreuve de la durée“, Le Monde, 04.04.2006.
[16] Die Krise der traditionellen politischen Arbeiterkultur haben Stéphane Beaud und Michel Pialoux am Beispiel der Peugeot-Werke in Sochaux-Moubéliard empirisch einprägsam untersucht. Vgl. Stéphane Beaud/ MichelPialoux, Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von Sochaux-Monbéliard, Konstanz 2004.
[17] Vgl. den Bericht über Sarkozy, de Villepin und Chirac, Libération, 06.04.2006.
[18] Déclaration commune de la Gauche sur le CPE (Flugblatt des PCF) vom 31.03.2006