1. Erosion der Lohnarbeitsgesellschaft
Das Phänomen nichtexistenzsichernder Niedriglöhne trotz Vollzeitarbeit ist nicht isoliert zu erörtern. In der heutigen Arbeitsgesellschaft bestimmen der Zugang des Individuums zu bezahlter Lohnarbeit, die ausgeübte berufliche Tätigkeit und deren Entlohnungshöhe seine Stellung in der Gesellschaft. Das betrifft sowohl die an ausgeübte Lohnarbeit geknüpfte Partizipation an sozialstaatlichen Errungenschaften, also die Absicherung vor existenziellen Risiken wie Krankheit, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit,[1] als auch den sozialen Status des Individuums und seine Anerkennung. Darüber hinaus sind die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ebenso wie die Wahrnehmung der Staatsbürgerschaft aufs engste mit der Ausübung von Lohnarbeit verbunden.
Wie Lohnarbeit den sozialen Status des Individuums begründet, so generiert der Wandel in der Arbeitswelt zugleich seine Individualität. Die Lebensverhältnisse der Menschen werden vorrangig durch ihre durch Lohnarbeit vermittelte Reproduktion geprägt. Dabei soll ihnen ihr Arbeitseinkommen eine selbstständige und würdige Existenz und die gleichberechtigte Teilhabe am sozio-kulturellen Leben ermöglichen. Dieses materielle Fundament sozialer Demokratie bildet mit dem Sozialstaatsgebot den Kern des Grundgesetzes wie auch der EU-Sozialcharta von 1989, in der es heißt, den abhängig Beschäftigten stehe ein „gerechtes Arbeitsentgelt für einen angemessenen Lebensstandard“ zu. Ein gerechtes Arbeitsentgelt setzt zusätzlich zur individuellen Leistungsgerechtigkeit ebenso einen gerechten Anteil am gesellschaftlich erzeugten Reichtum voraus. Mit der Realität von Niedriglöhnen stellt sich zugleich die Frage der Verteilungsgerechtigkeit zwischen Lohnarbeit und Kapital.
Obwohl also Niedriglöhne trotz Vollzeitarbeit nicht lediglich ein individuelles Problem für die Betroffenen bedeuten, ist es für sie von unmittelbarer existenzieller Bedeutung. Wenn ein landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter in Rheinland-Nassau 4,68 Euro die Stunde verdient, das Wach- und Kontrollpersonal in Schleswig-Holstein mit 5,60 Euro entlohnt wird und ein Bote oder Page in Hotels und Gaststätten im Saarland 5,95 Euro erhält, dann bedeutet für sie ein „angemessener Lebensstandard“, irgendwie über die Runden zu kommen. Noch mehr gilt das für eine ungelernte Verkäuferin im Bäcker- und Konditorenhandwerk Brandenburgs mit 4,98 Euro oder eine/n Friseurmeister/in in Sachsen mit 5,59 Euro und eine/n Florist/in in Sachsen-Anhalt mit 5,33 Euro. Angesichts der Massenarbeitslosigkeit mögen sie zwar froh sein, überhaupt eine Arbeit zu haben, wenn sie auch niedrig entlohnt ist, aber im Verteilungskampf zählen sie zu den Verlierern. Ihre Niedriglöhne verurteilen sie zu einem Leben am Rande des Existenzminimums, zu einem Lebensstil, der durch Unsicherheit und Verwundbarkeit geprägt ist. Als working poor müssen sie buchstäblich von der Hand in den Mund leben.[2] Von würdigen Lebensverhältnissen und einer gleichberechtigten Teilhabe am soziokulturellen Leben kann bei ihnen nicht die Rede sein.
Dabei stellt sich die Frage, ob sie mit ihren Tätigkeiten überhaupt ein solch niedriges Arbeitseinkommen erwerben können. Denn bei den vorstehenden Stundenlöhnen handelt es sich um Tariflöhne des Jahres 2003. In den genannten Branchen sind die Gewerkschaften jedoch so gut wie nicht präsent. Deshalb ist realistischerweise davon auszugehen, dass die angeführten, ohnehin niedrigen Tariflöhne in der Praxis vielfach noch einmal unterboten werden. Personen in den aufgelisteten Beschäftigtenkategorien müssen also möglicherweise ihren Lebensunterhalt mit einem noch geringeren Erwerbseinkommen bestreiten, als es ihnen tariflich eigentlich zustände.
Neben den weißen Flecken in der Tariflandschaft spiegeln die beispielhaft genannten Niedrigtariflohngruppen die Defensive der Gewerkschaften wider. Sie sind derzeit weder in der Lage, für alle Beschäftigtengruppen Existenz sichernde Tarifabschlüsse zu vereinbaren, noch können sie eine solidarische Lohnpolitik durchsetzen. So gab es im Dezember 2003 670 Tarifvereinbarungen mit Löhnen unter sechs Euro (vgl. IG Bauen-Agrar-Umwelt 2005, S. 9). Die zentralen Ursachen sind Arbeitslosigkeit und neoliberale Deregulierung des Arbeitsmarktes.
Das Problem der Arbeitslosigkeit besteht seit rund 30 Jahren. Obwohl sie seitdem beständig bekämpft wird, wächst sie gleichwohl ebenso beständig an. Im Gefolge ihrer Bekämpfung erodiert die Lohnarbeitsgesellschaft. Denn neben der Herausbildung einer wachsenden Teilpopulation von sozial überflüssigen Dauerarbeitslosen erodiert vor allem das Normalarbeitsverhältnis, neben dem immer mehr neue Arbeitsverhältnisse entstehen wie etwa Mini- und Midijobs, Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, Scheinselbständige, Ich-AGs (die zum 30. Juni 2006 auslaufen), Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung („Ein-Euro-Jobs“) usw. Neben der sukzessiven Abschaffung des Kündigungsschutzes müssen im Zuge der Hartz-Gesetzgebung Langzeitarbeitslose Arbeit bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit annehmen, d.h. bis zu 30 Prozent unter den Tariflöhnen bzw. ortsüblichen Löhnen. Trotzdem steigt die Arbeitslosigkeit weiter. Durch die wiederholte Senkung der Lohnersatzleistungen geht es ihnen zugleich immer schlechter. Diese Entwicklungen drücken das Lohnniveau nach unten. So konnten „... die deutschen Arbeitnehmer im Durchschnitt ihr verfügbares reales Einkommen seit den späten 1970er Jahren nicht mehr verbessern. ... Ihr Nettoeinkommen war 2002 genauso hoch wie 1978.“ (Ganßmann 2004, S. 172) Die Früchte von Wirtschaftswachstum und Produktivitätssteigerungen in dieser Zeitspanne eigneten sich allein die Bezieher von Kapital- und Selbstständigeneinkommen an.
Wenn die politische Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ihr Wachstum befördert, muss die Krisendiagnose falsch sein. So diagnostiziert die neoklassische Theorie, die Arbeitslosigkeit sei ein Problem des Arbeitsmarktes. Dieser müsse nur so organisiert werden wie der „Apfelmarkt“ (Sinn 2005, S. 148), dann bildeten sich angesichts des freien Spiels von Angebot und Nachfrage markträumende Niedriglöhne heraus, gäbe es nur noch einen Bodensatz von friktioneller und freiwilliger Arbeitslosigkeit. Diese Deutung der Krise als zu hohes Lohnniveau konkretisiert Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München, in folgender neoliberaler Therapie:
- Die Löhne müssen um „durchschnittlich 10 Prozent bis 15 Prozent“ gesenkt werden, „wobei bei den gering Qualifizierten sicherlich eine Lohnsenkung um ein Drittel benötigt würde.“ (Sinn 2005, S. 112 f.)
- Verlängerung der „Arbeitszeit ohne Lohnausgleich ... auf 44 Stunden ..., mindesten aber auf 42 Stunden“. (Sinn 2005, S. 527)
- „Der gesetzliche Kündigungsschutz sollte ... für alle Betriebe abgeschafft werden.“ (Sinn 2005, S. 531)
- Das Arbeitslosengeld II wird „um etwa ein Drittel abgesenkt“. (Sinn 2005, S. 534)
- „Weg mit den starren Flächentarifen, mehr Tarifautonomie für die Betriebe.“ (Sinn 2005, S. 529)[3]
Für die neoliberale Wirtschaftswissenschaft sind Löhne ausschließlich ein Kostenfaktor der Unternehmen. Damit sind zugleich die Verursacher von Arbeitslosigkeit dingfest gemacht: Gewerkschaften und Sozialstaat. Indem sie via Tarifautonomie und Sozialtransfers das freie Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt strangulierten, verteuerten sie künstlich das Arbeitsangebot für die Unternehmen, die angesichts des zu hohen Preises für die Ware Arbeitskraft die Nachfrage nach ihr minimierten. Auf solche Weise verhinderten Gewerkschaften und Sozialstaat die Herausbildung eines Niedriglohnsektors für einfache Arbeit und eine Vergrößerung der Lohnspreizung. Die Arbeitslosigkeit wiederum „... ist die eigentliche Ursache der deutschen Misere“ (Sinn 2005, S. 103) von wirtschaftlicher Stagnation und öffentlicher Verschuldung.
Spätestens mit der Agenda 2010 sind neoliberale Diagnose und Therapie zur Regierungspolitik einer informellen Allparteienkoalition geworden. Auch für sie ist der sozialstaatliche Schutz des Individuums vor den zerstörenden Wirkungen des reinen Arbeitsmarktes der Hauptverursacher der Arbeitslosigkeit. Ihre neoliberale Politik für deren Bekämpfung besteht in der Senkung der „Lohnzusatzkosten“, also der Sozialtransfers, der Deregulierung des Arbeitsmarktes via sukzessiver Rücknahme des Kündigungsschutzes und der Konstruktion neuer Arbeitsverhältnisse, der Arbeitszeitverlängerung und Lohnreduzierung im öffentlichen Dienst, der Hartz-Gesetzgebung, insbesondere Hartz IV. Die Ersetzung der Arbeitslosenhilfe durch die auf Sozialhilfeniveau abgesenkte Fürsorgeleistung Arbeitslosengeld II und die verschärfte Zumutbarkeit bei der Arbeitsaufnahme verfolgen das Ziel, einen Niedriglohnsektor aufzubauen. Ex-Bundeskanzler Schröder sprach das in seiner Rede vor dem World Economic Forum in Davos am 28. Januar 2005 unverblümt aus:
„Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. (...) Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt. (...) Und wir sind sicher, dass das veränderte System am Arbeitsmarkt erfolgreich sein wird.“ (Schröder 2005)
Neoliberale Wirtschaftswissenschaft und Politik propagieren und betreiben den Ausbau des Niedriglohnsektors als Königsweg zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Dabei übersehen sie die dreifache Funktion von Löhnen und Gehältern. Neben der individuellen Existenzsicherung sollen sie ihren Beziehern ein würdiges Leben und die gleichberechtigte Teilhabe am sozio-kulturellen Leben ermöglichen. Darüber hinaus bilden sie gesamtgesellschaftlich als zahlungsfähige Nachfrage den wesentlichen Posten für die Entwicklung der Binnenkonjunktur. Im Gegensatz zu den florierenden Exporten stagniert die Inlandsnachfrage aufgrund der ebenfalls stagnierenden verfügbaren Realeinkommen der Beschäftigten und der Reduzierung der Staatsquote am Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit Mitte der 1990er Jahre.
Aber selbst wenn trotz der bisherigen negativen Resultate der neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik mit der forcierten Armutspolitik der Agenda 2010 die Arbeitslosigkeit wider Erwarten erfolgreich abgebaut werden könnte, bewirkte sie als ihr wesentliches Ergebnis eine noch tiefer greifende „... Destabilisierung der Lohnarbeitsgesellschaft ..., die wie eine Druckwelle vom Zentrum ausgehend die ganze Gesellschaft erfasst“ (Castel 2001, S. 17), als es ohnehin schon der Fall ist. Denn eine derartige Politik basiert auf der Umverteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums von unten nach oben, womit sie bewusst die wachsende materielle Ungleichheit befördert und damit zugleich den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminiert. Durch das Zusammenstreichen der sozialstaatlichen Schutzfilter zwischen Markt und Individuum setzt sie letzteres in seinen Arbeits- und Lebensverhältnissen unmittelbar den zerstörerischen Kräften eines reinen Arbeitsmarktes aus, dieser „Teufelsmühle“ (Polanyi 1990, S. 59), zwischen deren Mahlsteinen die Tugenden des neuen neoliberalen Menschen – Eigenverantwortung, Flexibilität und Mobilität – zerrieben werden. Das gilt neben den Arbeitslosen besonders für die working poor in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und für Normalarbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor.
Insgesamt ist die durch ökonomische und technische Entwicklungen begünstigte neoliberale Transformation der Lohnarbeitsgesellschaft auf das Lohnverhältnis fokussiert. Dabei lassen sich mit Richard Detje und Otto König (2004, S. 8) drei Tendenzen identifizieren:
- „eine generelle Neuverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu Gunsten von Finanzkapital- und Unternehmensrenditen, zu Lasten der Einkommen aus unselbständiger Arbeit und davon abgeleitet der Sozialeinkommen;
- wachsende Teile des Lohns entwickeln sich von einer der Produktion bzw. Dienstleistung vorausgesetzten Größe zu einer Residualkategorie, abhängig von vorausgesetzten Umsatz- oder Renditegrößen ...
- noch bis in die 1990er Jahre reichende Ansätze einer solidarischen Lohnentwicklung ... werden überwälzt durch eine verstärkte Lohnspreizung, die vor allem auf eine beschleunigte Ausweitung von Niedriglohnsektoren zielt.“
2. Das Gesicht des Niedriglohnsektors
Im vorigen Kapitel wurden eingangs verschiedene berufliche Tätigkeiten in verschiedenen Branchen mit tariflichen Niedriglöhnen aufgezählt. Diese Merkmale sagen aber noch nichts darüber aus, ob auch tatsächlich ein Niedriglohnsektor existiert.
Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung hat jüngst eine Untersuchung des existierenden Niedriglohnsektors in Deutschland vorgelegt (sofern nicht anders angemerkt vgl. zum folgenden Bispinck/Schäfer 2005). Um sich ein Bild von dessen Umfang für Vollzeitbeschäftigte und die Lohnspreizung insgesamt machen zu können, knüpft ihre Analyse methodisch an Verfahren aus der Verteilungs- und Armutsforschung an. Die Lohnhierarchie bilden sie durch Bruchteile oder das Vielfache des durchschnittlichen effektiven Vollzeitlohns. Der Referenzlohn ist das arithmetische Mittel aller Effektivverdienste der ganzjährig Vollzeitbeschäftigten in Deutschland. Die Schwelle zum Niedriglohnbereich beginnt ab einem effektiven Erwerbseinkommen unter 75 Prozent des Durchschnittslohnes. Der Niedriglohnsektor selbst ist noch einmal zweigeteilt. Zwischen 50 und bis zu 75 Prozent des Durchschnittslohnes werden als prekäre Löhne, diejenigen unter 50 Prozent als Armutslöhne definiert.
Umfang des Niedriglohnsektors und Lohnspreizung
Im Untersuchungszeitraum ist in beiden genannten Bereichen die Anzahl der Vollzeitbeschäftigten absolut und relativ gesunken (Tabelle 1). In Westdeutschland war es von 1980 bis 1997 mit 1,42 Mill. weniger Vollzeitbeschäftigten ein Minus von rd. 7,4 Prozent; für Ostdeutschland lauten die Zahlen für den Zeitraum 1993 bis 1997 0,453 Mill. und rd. 9,4 Prozent. Trotz geringerer Gesamtbeschäftigung ist der Niedriglohnsektor bis zur Schwelle von 75 Prozent des Referenzlohnes in Westdeutschland absolut um knapp 0,4 Mill. Arbeitskräfte (Ostdeutschland: 0,153 Mill.) und relativ von gut 31 Prozent auf knapp 36 Prozent (Ostdeutschland: von 29 Prozent auf 34,5 Prozent) signifikant angewachsen.
In dem Zuwachs trotz abnehmender Anzahl der Vollzeitbeschäftigten insgesamt reflektiert sich eine verstärkte Lohnspreizung. Die größte Gruppe sind zwar nach wie vor die mittleren Löhne von 75 bis 125 Prozent, sie sind aber in beiden Regionen von deutlich über der Hälfte auf deutlich unter die Hälfte aller Vollzeitbeschäftigten absolut wie relativ gesunken. Im Gegensatz dazu erhöhte sich der relative Anteil der Vollzeitbeschäftigten mit hohen Löhnen trotz leichter absoluter Abnahme um 1,1 Prozentpunkte (Ostdeutschland: 0,4 Prozentpunkte). Die verstärkte Lohnspreizung geht überwiegend zu Lasten der Gruppe mit mittleren Löhnen, die insgesamt um 5,8 Prozentpunkte (Ostdeutschland: 6,9 Prozentpunkte) abgeschmolzen ist. In diesen Zahlen kommt eine gesellschaftliche Abstiegsmobilität zum Ausdruck, die ihrerseits den Trend zu einer verstärkten Einkommenspolarisierung innerhalb der Gesamtheit der abhängig Beschäftigten signalisiert.
Tabelle 1: Verteilung von allen Vollzeitbeschäftigten auf Regionen und relative Entgeltklassen in Prozent und in Millionen
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Quelle: Bispinck/Schäfer 2005
Innerhalb der zweigeteilten Gruppe der Niedriglohnempfänger ist für die beiden Regionen eine gegenläufige Bewegung zu konstatieren. Während in Ostdeutschland sowohl der Armutssektor als auch der prekäre Sektor anwachsen, konzentriert sich das Wachstum in Westdeutschland auf den prekären Sektor. Trotz eines leichten relativen Zuwachses sind hier die Vollzeitbeschäftigten absolut um 0,127 Mill. zurückgegangen. Unabhängig davon arbeiteten 1997 in Gesamtdeutschland 2,548 Mill. Vollzeitbeschäftigte lediglich für einen Armutslohn unter 50 Prozent des Durchschnittsverdienstes. Zugleich ging die Anzahl der insgesamt Vollzeitbeschäftigten um 1,873 Mill. zurück. Zusammen mit der Abstiegsmobilität dokumentiert dies eine ausgeprägte Tendenz zur Verfestigung des Armutslohnsektors.
Die vorstehenden Ergebnisse über den wachsenden Umfang des Niedriglohnsektors werden von zwei vergleichbaren Untersuchungen trotz eines anderen methodischen Ansatzes und einer anderen Datenbasis in der Tendenz bestätigt. Beide Analysen definieren die Niedriglohnschwelle wie in internationalen Vergleichsstudien der EU und OECD üblich bei zwei Drittel des nationalen Medianlohns und basieren auf Stichproben.[4] Laut Beschäftigtenstichprobe des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit waren 2001 mehr als ein Sechstel (17,4 Prozent) aller Vollzeitbeschäftigten in Deutschland Geringverdiener. Dieser Anteil stieg seit 1996 um 200.000 auf 3,63 Mill. Arbeitskräfte an. Unter Berücksichtigung von Sonderzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld lag die Niedriglohnschwelle für Vollzeitbeschäftigte 2001 in Westdeutschland bei einem monatlichen Bruttolohn von rd. 1.700 Euro (Gesamtdeutschland: rd. 1.630 Euro). Preisbereinigt stieg der Schwellenwert zwischen 1993 und 2001 lediglich um 3,9 Prozent an (vgl. Rhein/Gartner/Krug 2005, S. 2).
Die zweite Analyse, vorgelegt vom Institut Arbeit und Technik (IAT) im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, untersucht den Niedriglohnsektor für sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte in Westdeutschland für den Zeitraum von 1975 bis 2002. Während der Anteil von 1975 bis 1994 um 2,4 Prozentpunkte von 16,4 Prozent auf 14,0 Prozent sank, stieg er seitdem um 2,6 Prozentpunkte auf 16,6 Prozent in 2002 an (Ostdeutschland: 19,0 Prozent). Mit anderen Worten: Der zwanzigjährige Abbau der Einkommensungleichheit wurde in den folgenden acht Jahren von einer größeren Ungleichheit abgelöst. 2002 waren zwei Drittel des Medianentgelts in Westdeutschland weniger als 1.709 Euro pro Monat und in Ostdeutschland weniger als 1.296 Euro pro Monat Bruttolohn (vgl. Bosch/Kalina 2005, S. 35 ff.)
Einflussfaktoren
Tabelle 2 listet die Häufigkeiten der Merkmale aller Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor Westdeutschlands auf. Niedriglohnempfänger mit Armuts- und Prekärlöhnen arbeiten mit 80,9 bzw. 62,2 Prozent zunehmend in Kleinbetrieben mit bis zu 99 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Obwohl der weibliche Anteil in beiden Abteilungen des Niedriglohnsektors im Untersuchungszeitraum gesunken ist, arbeiten vor allem Frauen in ihm. Im Prekärlohnsektor ist der Anteil der Frauen von 68,0 auf 49,8 Prozent erheblich zurückgegangen, während dieser bei den Armutslöhnen lediglich um 4,8 Prozentpunkte auf 71,3 Prozent sank. Sektoral konzentrieren sich die Niedriglohnbeschäftigten auf den Dienstleistungsbereich, der sowohl einen starken Anstieg von Arbeitskräften mit Armutslöhnen (Anwachsen um 8,3 Prozentpunkte auf 63,0 Prozent) als auch mit Prekärlöhnen (Anwachsen um 9,3 Prozentpunkte auf 52,4 Prozent) aufweist. Jeweils zwischen drei Fünftel und zwei Drittel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor haben eine Berufsausbildung und sind 30 Jahre und älter. Schließlich übt nur rd. jeder Dritte eine einfache Tätigkeit aus.
Tabelle 2: Ausgewählte Häufigkeiten von Beschäftigungsmerkmalen bei Niedriglöhnen in Westdeutschland in Prozent
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Quelle: Bispinck/Schäfer 2005
Verbleib
Für die Beurteilung der Beschäftigung im Niedriglohnsektor ist die Verweildauer in ihm relevant. Die im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits angeführte Untersuchung des IAB (Rhein/Gartner/Krug 2005) über den Umfang des Niedriglohnsektors enthält weiter eine Verbleibsanalyse von sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor über einen Fünf-Jahres-Zeitraum (30. Juni 1996 bis 2001). Von den 2001 weiter in Vollzeitbeschäftigung befindlichen Personen (49,3 Prozent) arbeiteten 67,5 Prozent nach wie vor im Niedriglohnsektor. Lediglich ein Drittel schaffte den Sprung über die Niedriglohnschwelle.
In Westdeutschland waren die Aufstiegschancen um 4,6 Prozentpunkte größer. Dort waren 62,9 Prozent nach wie vor im Niedriglohnsektor tätig, während die übrigen ein höheres Arbeitseinkommen bezogen. Wie ein Vergleich mit der Periode von 1986 bis 1991 zeigt, ist die Lohnmobilität in Westdeutschland deutlich zurückgegangen. Damals konnten noch 50,7 Prozent den Niedriglohnsektor verlassen, während dies 2001 nur noch einem guten Drittel gelang.
Die Kehrseite des Rückgangs der Aufstiegsmobilität ist der Trend zur Verfestigung der Beschäftigung im Niedriglohnsektor. Zu diesem Ergebnis kommen auch internationale Vergleichsstudien. Nach einer OECD-Untersuchung lag die Aufstiegswahrscheinlichkeit von Niedriglohnbeziehern im Zeitraum von 1986 bis 1991 noch im EU-Durchschnitt. In einer vergleichbaren Analyse der EU-Kommission für zwölf EU-Länder für die Jahre 1995 bis 2001 lautet dagegen der Befund: „Deutschland ist nunmehr das Schlusslicht. In allen anderen untersuchten Ländern ist die Aufstiegswahrscheinlichkeit höher.“ (Rhein/Gartner/Krug 2005) Mit der höheren Wahrscheinlichkeit des Verbleibs im Niedriglohnsektor steigt das Armutsrisiko für Vollzeitbeschäftigte ebenso höher an.
Zwischenfazit
Der Überblick über das Gesicht des Niedriglohnsektors entzaubert zentrale neoliberale Argumentationsfiguren als substanzlose Legenden. In Deutschland gibt es seit Jahrzehnten einen Niedriglohnsektor, der seit Mitte der 1990er Jahre anwächst. Von den 17,5 Mill. erfassten sozialversicherten Vollzeitbeschäftigen der WSI-Untersuchung (das sind über 85 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten) arbeiteten 1997 über ein Drittel im Niedriglohnbereich. Er muß i.a.W. nicht erst noch geschaffen werden, wie es die Neoliberalen behaupten, er ist bereits gesellschaftliche Realität. Niedriglöhne trotz Vollzeitarbeit sind ein integraler Bestandteil des Normalarbeitsverhältnisses. Nichtexistenzsichernde Arbeitseinkommen in einem solchen Umfang sind ebenso wie der sich immer mehr verfestigende dauerhafte Verbleib im Niedriglohnsektor ein Politikum ersten Ranges. Um so befremdlicher ist es, dass der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2005) diesen Tatbestand ausspart.
Die dauerhafte Existenz als working poor ist nicht nur ein Phänomen des amerikanischen Arbeitsmarktes, den die Neoliberalen hierzulande als nachzuahmendes Ideal preisen, es gibt sie hier und heute massenhaft. Damit ist zugleich das neoklassische Theorem markträumender Niedriglöhne empirisch falsifiziert. Das gilt noch mehr für die im Vergleich zu Westdeutschland um rd. 30 Prozent niedrigeren effektiven Arbeitsverdienste in Ostdeutschland. Funktionierte dort der empirische Arbeitsmarkt gemäß der neoklassischen Theorie, dürfte es keine nennenswerte Arbeitslosigkeit mehr geben. Das Gegenteil ist der Fall. Niedriglöhne erzeugen nicht mehr Beschäftigung. Denn trotz des Rückgangs der Gesamtbeschäftigtenzahl in Vollzeitarbeit wächst der Niedriglohnsektor seit Mitte der 1990er Jahre absolut und relativ kontinuierlich an. Niedriglöhne sind kein Königsweg zum nachhaltigen Abbau der Arbeitslosigkeit. Das Problem der Arbeitslosigkeit ist kein Problem des Arbeitsmarktes, es ist ein Problem der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Parallel zum Rückgang der Zahl der Vollzeitbeschäftigten findet eine stärkere Lohnspreizung statt. Mit Blick auf Westdeutschland schmilzt der Bereich der mittleren Löhne überwiegend nach unten in den Niedriglohnbereich und nur zu einem kleinen Teil in den Sektor mit hohen Löhnen ab. Wird diese Tendenz unter Berücksichtigung der Hartz-Gesetzgebung von 1997 bis in die Gegenwart und mittlere Zukunft extrapoliert, so wird die neoliberal transformierte Postlohnarbeitsgesellschaft für die Vollzeitbeschäftigten voraussichtlich eine 40:40:20 Struktur aufweisen, d.h. selbst unter Berücksichtigung lediglich der Vollzeitbeschäftigten wird sie durch eine ausgeprägte Ungleichheit charakterisiert sein. Diese These wird von den Untersuchungen des IAB und IAT unterstützt. Werden darüber hinaus auch die in Teilzeit und atypischen Arbeitsverhältnissen Beschäftigten sowie die Arbeitslosen und das Anfang 2005 eingeführte ALG II in die Analyse einbezogen, erweist sich die neoliberal transformierte Lohnarbeitsgesellschaft vollends als negative Utopie.
Weiter entzaubern die Einflussfaktoren für die Beschäftigung im Niedriglohnbereich die neoliberale Argumentationsfigur, gewerkschaftliche Kartelllöhne und Sozialtransfers trieben den Preis für einfache Arbeit künstlich in eine für die nachfragenden Unternehmen unprofitable Höhe als haltloses Konstrukt. Zwei Drittel aller im Niedriglohnbereich Beschäftigten haben erfolgreich eine Berufsausbildung absolviert und üben keine einfachen Tätigkeiten aus. Auch bedeutet Arbeit im Niedriglohnsektor nur für ein Drittel der Beschäftigten den Berufseinstieg. Zwei Drittel sind älter als 30 Jahre, also langjährig beruflich aktiv. Die Aufstiegschancen für Niedriglohnempfänger aus dem Niedriglohnsektor heraus sinken im Zeitverlauf kontinuierlich ab. Wer einmal im Niedriglohnsektor beschäftigt ist, verbleibt mit 70prozentiger Wahrscheinlichkeit über einen längeren Zeitraum in ihm. Das einzige subjektive Merkmal für Arbeit im Niedriglohnbereich ist das Geschlecht.
Im Gegensatz zur neoliberalen Legende hat Beschäftigung im Niedriglohnbereich tatsächlich drei strukturelle Ursachen: Wirtschaftszweig, Betriebsgröße und erlernter Beruf determinieren in hohem Maße, ob die Beschäftigten zu Niedriglohnempfängern degradiert werden oder nicht.
3. Gewerkschaften und Mindestlohnpolitik
Gewerkschaften in der Defensive
Ein institutioneller Faktor für das Anwachsen des Niedriglohnsektors ist die Defensive der Gewerkschaften. Die Massenarbeitslosigkeit, die EU-Osterweiterung und die Einführung des Euro verschärfen die Lohnkonkurrenz auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Zusätzlich propagieren die neoliberale Wirtschaftswissenschaft, die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Teile der rot-grünen Agenda 2010 und die überwiegende Mehrheit der Unternehmerverbände eine Verbetrieblichung der Tarifpolitik zwecks Unterschreitung tariflicher Mindestnormen bei Arbeitszeiten und Entgelten.
Die Defensive der Gewerkschaften artikuliert sich auf verschiedenen Ebenen. Von 1998 bis 2004 sank in Westdeutschland die Tarifbindung der Betriebe um 10 Prozentpunkte auf 43 Prozent (Ostdeutschland: um 10 Prozentpunkte auf 23 Prozent) und der Beschäftigten um 8 Prozentpunkte auf 68 Prozent (Ostdeutschland: um 10 Prozentpunkte auf 53 Prozent) (vgl. dazu Bispinck/Schulten 2005, S. 198, Tabelle 1). Seit der Agenda-2010-Rede Bundeskanzler Schröders im März 2003 beschleunigt sich diese negative Tendenz dramatisch. Auf Branchenebene reicht die Spannbreite der Tarifbindung west- und ostdeutscher Betriebe von 35 bzw. 41 Prozent bei Dienste für Unternehmen bis zu 95 bzw. 88 Prozent bei Bergbau und Energie. Von der abnehmenden gewerkschaftlichen Präsenz sind neben Neugründungen insbesondere Betriebe mit unter 100 Beschäftigten betroffen. In Westdeutschland haben lediglich 55 Prozent von ihnen einen Betriebsrat (Ostdeutschland: 47 Prozent), während es in Betrieben mit über 500 Arbeitskräften 97 bzw. 86 Prozent sind (vgl. Bosch/Kalina 2005, S. 31 ff.). Parallel zum Ausweiten tarifloser Zonen sind nur noch 542 Tarifverträge allgemeinverbindlich, d.h. für alle Betriebe und Beschäftigten einer Branche bindend. Von 1995 bis 2002 verringerte sich die Allgemeinverbindlichkeit der Ursprungstarifverträge um ein Drittel auf 282. Das sind lediglich 2,5 Prozent der geltenden Verbandstarifverträge (vgl. Kirsch/Bispinck 2002).
Um die Tarifflucht der Unternehmen aufzuhalten, vereinbarten die Gewerkschaften zunächst nur in Ostdeutschland, mittlerweile auch in Westdeutschland tarifliche Öffnungs- und Härtefallklauseln, die einzelnen Betrieben befristet oder unbefristet die Unterschreitung tariflicher Mindeststandards und die Einführung ertragsabhängiger Leistungen ermöglichen (vgl. die in Übersicht 2 aufgelisteten Beispiele bei Bispinck 2003, S. 398). Gegenwärtig nutzen mit stark steigender Tendenz in den letzten beiden Jahren fast drei Viertel der tarifgebundenen Betriebe tarifliche Öffnungsklauseln; parallel dazu gibt es in jedem vierten Betrieb „Bündnisse für Arbeit“. Der Pforzheimer Tarifabschluß der Metallbranche in 2004 umfasst betriebliche Öffnungsklauseln zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und Innovationen (vgl. Bispinck/Schulten 2005, S. 198). Im Zuge dieses dynamischen Prozesses verwandeln sich die tariflichen Mindestnormen zunehmend in betriebswirtschaftliche Variablen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Dadurch transformieren Löhne von vorausgesetzten Produktionskosten zu einer abhängigen Größe von vorausgesetzten Umsatz- oder Renditezielen. Direkte Lohnkürzungen und indirekte durch unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeiten als betriebliche Kostensenkungsstrategie leiten eine Abwärtsspirale ohne Ende ein. Die auf solche Weise errungenen Kostenvorteile einzelner Betriebe sind lediglich von kurzer Dauer, weil die Konkurrenten, wollen sie wettbewerbsfähig bleiben, zur Nachahmung dieser Strategie gezwungen sind. Sind die kurzfristigen Kostenvorteile durch Absenken der Lohnkosten branchenweit egalisiert, wird die nächste Absenkungsrunde eingeleitet.
Mit Blick auf diese Entwicklung konstatieren Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten einen „Funktionswandel“ des Tarifsystems: „Der inhaltliche Kern dieses Wandels besteht in einem grundlegenden Paradigmenwechsel von einer wettbewerbsbegrenzenden hin zu einer wettbewerbsorientierten Tarifpolitik.“ (2005, S. 197) Der Wandel schlägt sich in einem tarifpolitischen Machtverlust der Gewerkschaften nieder. So sind letztere seit mehreren Jahren nur noch ausnahmsweise dazu in der Lage, in den Tarifabschlüssen die kostenneutralen Verteilungsspielräume auszuschöpfen (jährlicher Inflationsausgleich plus Produktivitätssteigerung). Sowohl bei der Entwicklung von Nominal- als auch Reallöhnen bildet Deutschland europaweit (EU 15) das Schlusslicht. Die Reallöhne sind 2004 und 2005 gesunken. Das ist in keinem anderen Land der EU 15 der Fall. Das gilt auch langfristig. So sind die Reallöhne nur hierzulande von 1995 bis 2004 um 0,9 Prozent gesunken, während sie in den anderen 14 EU-Staaten um bis zu 25 Prozent gestiegen sind (zu den Daten vgl. Schulten 2005a). Als Konsequenz der stagnierenden Lohnentwicklung hat Deutschland mit einer nominalen Lohnstückkostenerhöhung von lediglich 2,6 Prozent in besagtem Zeitabschnitt den geringsten Zuwachs der EU 15 zu verzeichnen (vgl. Bispinck/Schulten 2005, S. 200, Abb. 1). Hierzulande partizipieren die abhängig Beschäftigten nicht mehr an der wirtschaftlichen Entwicklung. Deren Früchte eignen sich die Kapital- und Vermögensbesitzer an.
Der Überblick über die abnehmende gewerkschaftliche Vertretungsdichte, die sinkende Tarifbindung und die Verbetrieblichung der Tarifpolitik sowie deren Ergebnisse verdeutlicht die defensive Position der Gewerkschaften im Verhältnis zum Unternehmerlager. Das Tarifsystem erfüllt für immer weniger Beschäftigte seine Schutzfunktion. Das gilt insbesondere für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor, dessen Anwachsen durch Tarifverträge nicht (mehr) wirksam eingedämmt werden kann. Gegen die weitere Absenkung vor allem der Armutslöhne müssen Schranken errichtet werden. Das kann allein die sichtbare Hand des Staates. Eine Staatsintervention in Gestalt eines gesetzlichen Mindestlohns erscheint allerdings vorderhand unvereinbar mit der grundgesetzlich verbürgten Tarifautonomie.
Tarifautonomie und Mindestlohnpolitik
In der Vergangenheit haben Unternehmerverbände, Gewerkschaften und Staat einmütig die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns abgelehnt mit der Begründung, ein solches Gesetz gefährde die Tarifautonomie. In den Gewerkschaften ist in den letzten Jahren eine Neuorientierung zu beobachten. Gegenwärtig besteht lediglich ein Konsens über die Notwendigkeit einer allgemein wirksamen Mindestlohnpolitik. Kontrovers diskutiert wird über den einzuschlagenden Weg für eine solche Politik. Dabei scheiden sich die Geister an der Frage, ob die Tarifsetzungsmacht der Gewerkschaften noch stark genug oder aber sektoral und regional bereits zu geschwächt ist für die Errichtung einer unteren Lohnschranke im Rahmen der Tarifautonomie. Dabei kristallisieren sich drei Positionen heraus.
Die IG BAU setzt auf tarifliche Mindestlöhne plus Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen und – im Zusammenhang mit der Dienstleistungsfreiheit des EU-Binnenmarktes und der Aufnahme zehn osteuropäischer Länder in die EU im Jahre 2004 – auf das Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG). Die Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen der AVE in Kombination mit dem AEntG als Instrument für die staatliche Verordnung einer unteren Lohngrenze unter Einhaltung der Tarifautonomie lassen sich am besten an den Erfahrungen der IG BAU mit dieser Regulierungsform darstellen (vgl. zu den Ausführungen über die Baubranche Czommer/Worthmann 2005; Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt 2005; Kirsch/Bispinck 2002).
Zwischen 1988 und 1995 schloss die Bundesregierung mit zwölf osteuropäischen Staaten und der Türkei bilaterale Werkvertragsabkommen über die befristete und kontingentierte Entsendung von Arbeitskräften ab. Danach konnten Unternehmen ohne Niederlassung in Deutschland Arbeitskräfte zu den Arbeits- und Sozialbedingungen des Herkunftlandes in die Bundesrepublik entsenden. Von dieser neuen Variante von Arbeitsmigration war vor allem die Bauwirtschaft betroffen. Die massenhafte Beschäftigung von legalen und illegalen ausländischen Arbeitskräften zu Dumpinglöhnen führte zur Verdrängung hunderttausender hiesiger Bauarbeiter und zu zahlreichen Konkursen kleiner und mittlerer Bauunternehmen.
Als Antwort auf die Schmutzkonkurrenz verabschiedete die Bundesregierung 1996 das AEntG. Das Gesetz sieht einen tariflichen Mindestlohn auf Stundenbasis vor. Dieser gleicht die unterschiedlichen Konkurrenzbedingungen zwischen heimischen Unternehmen und ausländischen Entsendeunternehmen wieder an. Das AEntG gilt für das Bauhauptgewerbe und die Seeschifffahrtsassistenz (Hafenschlepper). Das AEntG setzt allerdings die Vereinbarung eines Mindestlohn-Tarifvertrags und dessen AVE voraus. Aufgrund der korporatistischen industriellen Beziehungen in der Baubranche und der gemeinsamen Interessenlage der Tarifvertragsparteien – Abwehr weiterer Konkurse von Mitgliederfirmen und Beschäftigungsschutz heimischer Arbeitskräfte – kam es zum Abschluss eines solchen Mindestlohn-Tarifvertrags.
Ein für allgemein verbindlich erklärter Tarifvertrag gilt für sämtliche Arbeitsverhältnisse eines Tarifbereichs, also auch für verbandsfreie Arbeitgeber. Die AVE wird vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung ausgesprochen und ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Nach § 5 Tarifvertragsgesetz (TVG) muss sie
- von mindestens einer der Tarifvertragsparteien beantragt werden,
- mindestens 50 Prozent der unter den Tarifvertrag fallenden Arbeitnehmer erfassen,
- im öffentlichen Interesse sein und
- ihr mehrheitlich vom Tarifausschuss zugestimmt werden.
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, erkennt der Arbeitsminister die AVE des Mindestlohn-Tarifvertrags an. Im Falle der Bauwirtschaft stimmte der Tarifausschuss, dem je drei Vertreter/innen der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer angehören, also nicht die antragstellenden Tarifvertragsparteien aus der Baubranche, dem Mindestlohn-Tarifvertrag nicht mehrheitlich zu. Durch die Novellierung des § 2 Abs. 3a des AEntG im Jahre 1997 wurde für das Bauhauptgewerbe die Möglichkeit geschaffen, durch Verordnung des Arbeitsministers ohne mehrheitliche Zustimmung des Tarifausschusses einen Mindestlohn festzulegen.
Ab 1. September 2005 betragen die Mindeststundenlöhne im Bauhauptgewerbe der Lohngruppe 1 in Westdeutschland 10,20 Euro (Ostdeutschland: 8,80 Euro) und der Lohngruppe 2 12,30 Euro bzw. 9,80 Euro. In Ostdeutschland werden nur noch die Mindestlöhne gezahlt.
Wenn auch nach Ansicht der IG BAU der Mindestlohn in der Baubranche kein Allheilmittel sei, so empfiehlt sie gleichwohl diesen Weg für alle diejenigen Branchen, die die Voraussetzungen der AVE erfüllen, sofern der Gesetzgeber entweder den § 2 Abs. 3a des AEntG auf alle Branchen ausweitet oder aber die mehrheitliche Zustimmung des Tarifausschusses abschafft. Unter dieser Bedingung könnten unter Wahrung der Tarifautonomie von den Tarifvertragsparteien quasi gesetzliche Mindestlöhne per AVE-Verordnung vereinbart werden.
Angesichts der Höhe des Mindestlohns in der Baubranche ist die Argumentation der IG BAU verständlich. Sie befürchtet nämlich mit guten Gründen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn niedriger sein wird als derjenige in der Baubranche. So unterstütze der ostdeutsche Bau-Arbeitgeberverband Initiativen für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in der Hoffnung, dieser werde ihnen die Möglichkeit bieten, den Bau-Mindestlohn signifikant zu unterschreiten.
Die damalige rot-grüne Bundesregierung hat im Mai 2005 einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Änderung des AEntG vorgelegt, der dessen Beschränkung auf die Baubranche aufhebt. Der Gesetzentwurf wurde nach der ersten Lesung im Bundestag nicht weiter verfolgt, weil der Bundesrat seine Ablehnung aussprach sowie infolge der vorgezogenen Neuwahlen (SPD und Bündnis 90/Die Grünen 2005).
Auch die IG Metall ist wie die IG BAU für eine Generalisierung des AEntG auf alle Branchen, also für einen branchenbezogenen Mindestlohn. Diesen soll die unterste Tariflohngruppe bilden. Darüber hinaus favorisiert sie für die tarifvertragsfreien Zonen die Orientierung an vergleichbaren Bereichen oder den für die Leiharbeitnehmer geltenden bundesweiten Tarifvertrag als Bezugsgrößen für den Abschluss von Mindestlöhnen (vgl. Welzmüller 2004).
Vor dem Hintergrund des zweiten Kapitels über den Niedriglohnsektor, des ersten Abschnitts dieses Kapitels und 670 Tarifvereinbarungen mit Entgelten unter 6 Euro sowie der hohen Hürden der AVE erscheint es aber ebenso begründet fraglich, ob der Weg der IG BAU und der Vorschlag der IG Metall tatsächlich verallgemeinerbar sind. Das Gegenteil demonstrieren die aktuellen Erfahrungen in der Fleischbranche mit osteuropäischen Arbeitskräften aus den EU-Beitrittsländern, die hierzulande im Zuge der Dienstleistungsfreiheit zu den Bedingungen ihrer Heimatländer beschäftigt werden, d.h. für Dumpinglöhne zwischen 3 und 5 Euro arbeiten. In dieser Branche gibt es nur in Niedersachsen einen Flächen-Tarifvertrag und ansonsten bestenfalls Hausverträge. Weiter fehlt der NGG als zuständiger Gewerkschaft ein nationaler Verhandlungspartner; es gibt nämlich auf Bundesebene keinen Arbeitgeberverband, so dass das 50-Prozent-Kriterium erfasster Arbeitnehmer der AVE nicht erfüllbar ist. In diesem Falle ist die AVE ein stumpfes Instrument. Das hat nach Schätzungen der NGG dazu geführt, dass innerhalb kürzester Frist 26.000 hiesige Arbeitskräfte entlassen wurden.
Die Baubranche zeigt, dass die AVE nur unter ganz bestimmten Bedingungen ein Instrument für die Einführung eines quasi gesetzlichen Mindestlohns sein kann. Die Tarifvertragsparteien müssen ein gemeinsames Interesse an der Vereinbarung eines Tarifvertrages haben. Dies ist aber in der Fleischbranche nicht der Fall. Darüber hinaus erfüllt nicht nur die letztere nicht die rechtlichen Voraussetzungen der AVE. Und mit Blick auf die IG Metall ist anzumerken, daß ihr Vorschlag für diejenigen Tarifbereiche nicht greift, in denen die Gewerkschaften nicht in der Lage sind, mit ihren Abschlüssen Armutslöhne zu verhindern.
Aus diesem Grunde – die dritte Position in der gewerkschaftlichen Diskussion – fordern NGG und ver.di einen allgemeinen, d.h. branchenübergreifenden und bundesweit geltenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 1.500 (NGG) bzw. 1.250 Euro im Monat (ver.di). Das entspricht Stundenlöhnen von rd. 9 bzw. 7,50 Euro.
Mit ihren Vorschlägen über die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns liegen NGG und vor allem ver.di signifikant unter den Mindestlöhnen der Baubranche. Die Modelle von einerseits IG BAU und IG Metall und andererseits NGG und ver.di bezeichnen i.a.W. nicht nur zwei verschiedene Wege, wie das Problem der Armutslöhne produktiv bearbeitet werden kann, sie verfügen auch über die dargelegten Vor- und Nachteile. Für die Praxis bietet sich daher eine Kombination der drei Varianten an. Denn die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns schließt die Ausweitung des AEntG in Verbindung mit der AVE nicht aus. Mit diesem Instrument können die Gewerkschaften im Rahmen der Tarifautonomie mit den Arbeitgeberverbänden Abschlüsse über dem gesetzlichen Mindestlohn vereinbaren, sofern ihre Tarifsetzungsmacht sie dazu in die Lage versetzt. Das eine Modell muss das andere nicht ausschließen.
4. Gesetzlicher Mindestlohn
Die aktuelle Debatte der Regierung über die gesetzliche Einführung eines Kombilohns sitzt der neoliberalen Legende auf, Ursachen für die Massenarbeitslosigkeit seien die zu hohen Löhne und Sozialleistungen. Es wird der Eindruck erweckt, mit dem Instrument Kombilohn könne ein markträumender Niedriglohnsektor aufgebaut werden. Dieser angebliche „Königsweg“ zum wirksamen Abbau der Arbeitslosigkeit nimmt den real-existierenden Niedriglohnsektor nicht zur Kenntnis.
Im Gegensatz dazu kommen die im vorliegenden Text referierten Untersuchungen von WSI, IAB und IAT übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass es in Deutschland bereits seit langem einen Niedriglohnsektor gibt, der seit Mitte der 1990er Jahre wächst und immer undurchlässiger wird. Seit dem Jahr 2000 liegt er sogar über dem EU-Durchschnitt, wie das IAT belegt. Ihm zufolge arbeiten bei einer Medianlohngrenze von zwei Dritteln des Medianstundenlohns 22,1 Prozent aller abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Bei insgesamt rd. 31 Millionen abhängig Beschäftigter sind das knapp 6,9 Millionen Personen. Die Niedriglohnschwelle liegt in Westdeutschland bei 9,58 Euro und in Ostdeutschland bei 6,97 Euro brutto pro Stunde (einschließlich Sonderzahlungen). 43,2 Prozent aller Niedriglöhner arbeiten in Vollzeit, der Rest in Teilzeit und Minijobs. Knapp die Hälfte der Niedriglohnbeschäftigten arbeiten für Armutslöhne unter 50 Prozent des Medianlohns. In Westdeutschland sind das 7,19 Euro und in Ostdeutschland 5,22 Euro brutto die Stunde (vgl. IAT 2006).
Diese Fakten blendet die Debatte über die Einführung von Kombilöhnen aus. Angesichts der alarmierenden Daten über die Größe des Niedrig- und insbesondere des Armutslohnsektors mutet eine solche Ignoranz gespenstisch an. Sie läuft nämlich darauf hinaus, die vorstehend angeführten Armutslöhne mit Hilfe staatlicher Subventionen noch tiefer abzusenken als es ohnehin bereits der Fall ist. Bevor überhaupt auch nur ein einziger neuer Arbeitsplatz mit Hilfe von Kombilöhnen geschafft worden wäre, müssten zunächst knapp drei Millionen im Armutslohnsektor bereits bestehende subventioniert werden. Es sei denn, es ist beabsichtigt, selbst die Armutslöhne noch einmal signifikant abzusenken.
Im Gegensatz dazu sprechen die empirischen Tatsachen eine andere Sprache. Da zu Armutslöhnen von 5,22 bzw. 7,19 Euro brutto die Stunde und weniger die Betroffenen nur von der Hand in den Mund leben können, bedürfte es statt der Einführung eines Kombi- eines gesetzlichen Mindestlohns. Das Instrument dafür gibt es bereits seit 1952. So erlaubt das Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen unter bestimmten Bedingungen eine staatliche Mindestlohnfestsetzung durch das Bundesarbeitsministerium. Allerdings ist das Gesetz noch nie angewandt worden (vgl. Peter/Wiedemuth 2004, S. 17 f.).
Angesichts der empirischen Fakten ist die im vorigen Kapitel skizzierte gewerkschaftliche Kontroverse über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von Einzelgewerkschaften vertretene Position, ein solcher tangiere die Tarifautonomie negativ, wenig überzeugend. Wie die Zahlen belegen, sind die Gewerkschaften für eine wachsende Anzahl von abhängig Beschäftigten nicht mehr in der Lage, Tarifabschlüsse mit existenzsichernden Löhnen zu vereinbaren. Dieser Tatbestand sollte den Fokus für die innergewerkschaftliche Debatten bilden. Ein staatlicher Eingriff in die Tarifautonomie, der diesen Missstand in Form eines gesetzlichen Mindestlohns aus der Welt schafft, müsste von den Gewerkschaften im Interesse der Betroffenen unterstützt werden, wie es bei NGG und ver.di der Fall ist. Außerdem gibt es bereits gesetzliche Mindestbedingungen, vom Verbot der Kinderarbeit über Arbeitszeit- und Urlaubsbedingungen bis hin zum Unfallschutz (zu diesen und weiteren Beispielen s. Hensche 2004), die die Tarifautonomie einschränken, ohne sie abzuschaffen. Sie bilden im Gegenteil einen Rahmen, innerhalb dessen sie sich bewähren kann. Beim gesetzlichen Mindestlohn ist dies ebenso der Fall. Vor diesem Hintergrund scheint die gewerkschaftliche Kritik an dessen Einführung schwach begründet.
Das unterstreichen auch die positiven gewerkschaftlichen Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen in der EU, in der 18 der 25 Mitgliedstaaten einen solchen haben. Im Februar 2005 betrug der Mindestlohnstundensatz in Frankreich 7,61, in Großbritannien 7,09 und in den Niederlanden 7,90 Euro. Niedriglohnsubventionen wie etwa ein Kombilohn wären nur sinnvoll, wenn sie auf diesen Mindestnormen aufbauten. Vernünftig wären solche Lohnsubventionen als Übergangsregelungen für bestimmte Betriebe in der Einführungsphase eines gesetzlichen Mindestlohns.
Die Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns kann unterschiedlich definiert werden. Legt man die Lohnarmutsschwelle von 50 Prozent des Durchschnittslohns zugrunde, läge er derzeit bei 1.442 Euro brutto pro Monat oder 8,60 Euro brutto pro Stunde. Das ist die Position der NGG. Ver.dis Vorschlag in Höhe von 1.250 Euro (7,50 Euro pro Stunde) orientiert sich an der Pfändungsfreigrenze von 930 Euro pro Monat. Da diese seit Juli 2005 auf 985,15 Euro angehoben worden ist, müsste der Bruttomonatslohn auf 1.363 Euro (8,20 Euro pro Stunde) angehoben werden.[5] Laut Schätzungen von Thorsten Schulten (2005b, S. 190 ff.) profitierten je nach Höhe des gesetzlichen Mindestlohns zwischen 2,4 (ver.di), 2,7 (neue Pfändungsfreigrenze) und 3,4 Millionen (NGG) abhängig Vollzeitbeschäftigte von dessen Einführung. Diese Mindestlöhne bewegen sich im europäischen Rahmen. Weiter muß durch Regeln dafür gesorgt werden, dass der gesetzliche Mindestlohn an die gesellschaftliche Entwicklung angekoppelt wird (jährlicher Inflationsausgleich und Produktivitätssteigerung).
Schultens Schätzungen über die Anzahl der von der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns profitierenden Vollzeitbeschäftigten belegt die Notwendigkeit seiner Einführung, auch wenn er aus gewerkschaftlicher Sicht nicht die optimale Lösung ist. Ein gesellschaftlicher Lohnmindeststandard begrenzt den Armutslohnsektor, dämmt den über Arbeitskosten ausgetragenen Konkurrenzkampf ein und verrringert die Lohnspreizung. Weiter ist er ein wichtiges Instrument gegen die lohnpolitische Diskriminierung von Gruppen wie Frauen oder Arbeitsmigranten. Dagegen leistet er keinen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit, verursacht umgekehrt aber auch nicht, wie die neoliberale Wirtschaftswissenschaft behauptet, das Anwachsen der Arbeitslosigkeit.
Ein gesetzlicher Mindestlohnstandard begrenzt die Nachfragemacht der Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt, insofern dekommodifiziert er partiell die Ware Arbeitskraft. Mit Blick auf den französischen Mindestlohn salaire minimum interprofessionnel des croissance (SMIC) formuliert es Robert Castel wie folgt:
„Der SMIC ist nicht so sehr ein Existenzminimum, sondern eine Versicherung für die Teilhabe an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. In ihm besteht der erste Grad der Zugehörigkeit zu einem Arbeitnehmerstatus, dank dessen der Lohn nicht nur eine Form ökonomischer Vergütung ist.“ (Castel 2000, S. 333; H.i.O.)
Bei der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns geht es i.a.W. um weit mehr als allein die Bekämpfung von Armutslöhnen. Eine gesellschaftliche Lohnuntergrenze beschränkt die ökonomische Logik eines reinen Arbeitsmarktes. Ein „gerechtes Arbeitsentgelt“, wie es in der eingangs dieses Textes zitierten EU-Sozialcharta von 1989 heißt, berücksichtigt außerökonomische Gesichtspunkte wie Verteilungsgerechtigkeit und das Recht der arbeitenden Menschen, gleichberechtigt am sozio-kulturellen Leben teilzuhaben. Dies ist nur möglich, wenn die sichtbare Hand des Staates der unsichtbaren Hand des Arbeitsmarktes und seiner zerstörerischen Logik Grenzen setzt. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und dessen Höhe sind das Produkt eines politischen Prozesses. Insofern eignet er sich für die Gewerkschaften hervorragend für mobilisierende Kampagnen, die sie ein Stück weit aus der Defensive heraus in die Offensive kommen lassen könnte.
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[1] Die soziale Sicherung „... basiert immer noch weitgehend auf Versicherungsleistungen, die an die Erwerbstätigkeit gebunden sind und über Beitragszahlungen aus Erwerbstätigkeit finanziert werden.“ (Castel 2005, S. 97)
[2] S. dazu die Schilderung der Arbeits- und Lebensbedingungen von working poor in den USA von Ehrenreich (2001).
[3] Zur Kritik an Sinn, der hier exemplarisch für die herrschende neoliberale Wirtschaftswissenschaft steht, vgl. Bofinger (2005), insbesondere S. 177-188. Peter Bofinger ist Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
[4] Der Medianlohn liegt genau in der Mitte der Lohnverteilung (effektiv gezahlte Bruttolöhne); er teilt die unteren 50 Prozent der Beschäftigten von den oberen 50 Prozent.
[5] Die Bruttolöhne gelten für unverheiratete Arbeitnehmer ohne Kinder und ohne Kirchensteuer.