Auch wenn es verfrüht erscheint, einen nachhaltigen Glaubwürdigkeitsverlust oder gar eine Krise der neoliberalen Ansätze in der Wirtschaftspolitik zu konstatieren, so gibt es doch angesichts anhaltend hoher Arbeitslosigkeit ein zunehmendes Interesse an Alternativen zur auf Umverteilung, Sozialabbau und Deregulierung setzenden neoliberalen Angebotspolitik. In Deutschland trägt dazu auch das Auftauchen einer gesamtdeutsch verankerten Linkspartei bei, die in der Lage sein könnte, dem verbreiteten Unbehagen an den neoliberalen Ansätzen einen politisch wirksamen Ausdruck zu verleihen. In dieser Situation gibt es den dringenden Bedarf, Alternativen zum Neoliberalismus mit konzeptionellen Inhalten auszustatten, die an den Kernproblemen der ökonomischen Entwicklung ansetzen und gleichzeitig politisch hegemoniefähig sind.
Angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit liegt es nahe, sich auf die am Vollbeschäftigungsziel orientierende keynessche Nachfragesteuerung als Alternative zur neoliberalen Angebotspolitik zu beziehen, die außerdem noch den Vorteil hat, ein gewisses akademisches Ansehen zu genießen. Dies möchte ich im Folgenden problematisieren. Dabei geht es nicht darum, die große Bedeutung von Keynes für das Verständnis von sozial orientierter Wirtschaftspolitik im Kapitalismus zu leugnen. Es soll vielmehr diskutiert werden, ob es heute noch sinnvoll ist, linke, auf die Überwindung des Kapitalismus als profitzentrierte Produktionsweise zielende alternative Wirtschaftspolitik unter den Namen von Keynes zu stellen.
Mit Keynes werden in der Wirtschaftspolitik ganz bestimmte Ansätze verbunden, deren Kern Rudolf Hickel in einem Beitrag zur „keynesschen Botschaft“ in folgenden Elementen sieht[1]:
- „Durch die marktvermittelte einzelwirtschaftliche Koordination kann eine gegenüber der Produktion und dem dadurch entstehenden Einkommen unzureichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage generiert werden.“
- Es gibt eine dem Kapitalismus inhärente langfristige Tendenz zur Unterbeschäftigung.
- Diese kann durch staatliche Eingriffe in die gesamtwirtschaftliche Nachfrage überwunden werden.
Bezogen auf das aktuelle wirtschaftliche Hauptproblem, die Arbeitslosigkeit, ist die Erkenntnis zentral, dass „nicht auf den Arbeitsmärkten über Niveau und Struktur der Beschäftigung entschieden“ wird. „Arbeitslosigkeit ist die Folge restringierter Nachfrage auf den Güter- und Finanzmärkten.“ (ebd., S. 52)
Wenn sich alternative Wirtschaftspolitik unter den Namen von Keynes stellt, dann muss sie sich also bewusst sein, dass sie damit gesamtwirtschaftliche Nachfragesteuerung in den Mittelpunkt rückt. Und genau das ist fraglich: Können die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Gegenwart mit dem Instrument der Nachfragesteuerung adäquat bekämpft werden? Dass Keynes selbst sich durchaus auch zu anderen Fragen geäußert hat, dass in seinem Werk Überlegungen zu Arbeitszeitverkürzungen, zur möglichen Verstaatlichung der Investitionen, zum institutionellen Umfeld des modernen Kapitalismus usw. zu finden sind, erscheint vor diesem Hintergrund daher nicht relevant.
Von marxistischer Seite wurde und wird gegen den Bezug alternativer Wirtschaftspolitik auf Keynes häufig der Einwand geäußert, dieser bliebe im Rahmen des Kapitalismus, keynessche Nachfragesteuerung habe keine systemverändernden Implikationen. Dieser Einwand trägt m. E. nicht, da er im Kern auf jede Wirtschaftspolitik im Kapitalismus zutrifft – es sei denn, man halte Strategien für umsetzbar, die den Kampf um soziale Verbesserungen unterstützen, diese aber immer mit der Fußnote versehen, dass sie eigentlich im Kapitalismus nicht erreichbar seien. Leibiger geht in seinem kenntnisreichen Beitrag „Zwischen Marx und Keynes“ in Z 65 auf diesen Aspekt ein, indem er der keynesianischen Beschäftigungspolitik vorwirft, sie schaffe Illusionen über die Möglichkeiten von Vollbeschäftigung im Kapitalismus.[2] Da es bei alternativer Wirtschaftspolitik aber definitionsgemäß um Wirtschaftspolitik im Kapitalismus geht, liegt diesem Argument ein Grundmissverständnis des Revolutionsgedankens zugrunde – eine Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise kann nur im Klassenkampf erfolgen. Dieser ist aber selbst Bestandteil der Funktionsbedingungen des Kapitalismus. Klassenkampf bewegt sich (fast) immer im Rahmen des bestehenden Systems – systemkritische Einsichten können nur durch die Zuspitzung von sozialen Auseinandersetzungen für Forderungen im Kapitalismus an Boden gewinnen.
Unter den gegeben Verhältnissen halte ich die Frage für interessanter, ob keynessche Nachfragesteuerung heute tatsächlich noch der richtige Fokus alternativer Wirtschaftspolitik (im Kapitalismus) sein kann, ob nicht inzwischen andere Elemente im Vordergrund stehen müssten – ohne dabei globale Nachfragesteuerung ganz aufzugeben. Es sollte diskutiert werden, ob die vorhandenen Defizite des Keynesschen Ansatzes – über die weitgehend Konsens besteht – heute nicht so gravierend sind, dass die Formulierung alternativer Konzeptionen unter der ‚Fahne’ von Keynes eher kontraproduktiv ist. Dies würde auch für Formulierungen wie „Keynes plus“ gelten, die bislang in den Debatten der Kritiker der neoliberalen Marktorthodoxie noch überwiegen. Müsste heute nicht vielmehr das „Plus“ in Vordergrund stehen?
Hierzu sei zunächst zusammenfassend auf die wichtigsten Defizite der keynesschen Nachfragesteuerung verwiesen. Teilweise bezugnehmend auf den Beitrag von Leibiger seien folgende Momente[3] genannt:
- Keynesianische Nachfragesteuerung befasst sich nicht mit Strukturen;
- Keynesianische Nachfragesteuerung bezieht sich auf den nationalstaatlichen Rahmen und hat keine Antwort auf Internationalisierung im Umfeld heterogener nationaler Ökonomien;
- Keynesianische Nachfragesteuerung zielt auf die Gütermärkte und ignoriert weitgehend den Einfluss der Finanzmärkte;
- Keynesianische Nachfragesteuerung ist ein Rezept zur Belebung des Wachstums der Güterproduktion und ist ökologisch blind;
- Keynesianische Nachfragesteuerung zielt auf Vollbeschäftigung durch Wachstum und vernachlässigt notwendige Interventionen beim Arbeitsangebot (u.a. Arbeitszeitverkürzung).
Man kann diese Einwände m. E. auf zwei Kernprobleme beziehen:
- Keynes bietet keine Antworten auf die Globalisierung;
- Keynes ist strukturpolitisch blind, sowohl in Bezug auf die Arbeitsmärkte als auch auf die Gütermärkte.
Was den ersten Problemkomplex angeht, so ist klar, dass mit dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital „der – nationalstaatliche – Wirtschaftsraum … in dem Maße als Bezugsrahmen für makroökonomische Überlegungen und keynesianische Konjunkturpolitik (entfällt), wie sich die ökonomischen Grenzen und Unterschiede zwischen den Industriestaaten einebnen.“[4] In diesem Zusammenhang wird verschiedentlich eine Art internationalisierter Keynesianismus diskutiert, so z.B. von Jörg Huffschmid, der für die Entwicklung eines „Eurokeynesianismus“ plädiert. Die Euromemorandumsgruppe arbeitet seit mehreren Jahren an der Formulierung entsprechender Ansätze[5]. Allerdings ist fraglich, ob keynesianische Nachfragesteuerung auf EU-Ebene angesichts der großen Heterogenität der Mitgliedsländer wirklich eine Option ist – d.h., ob das, was als alternative Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene entwickelt wird, sich umstandslos auf Keynes beziehen kann.
Wichtiger als der Globalisierungseinwand – und doch mit diesem verbunden – scheint mir daher der Vorwurf der strukturellen Blindheit der keynesschen Nachfragesteuerung. Es ist diese Blindheit, die m. E. heute den Bezug auf Keynes als Hauptzeugen der alternativen Wirtschaftspolitik problematisch macht. Es soll dabei nicht übersehen werden, dass das Werk von Keynes durchaus weiterführende Ansätze aufweist, die allerdings unterschiedlich stark ausgearbeitet sind. Dies gilt z.B. für die wichtige Frage der Arbeitszeitverkürzung, die im Kern einen Eingriff in die Strukturen des Arbeitsmarktes beinhaltet. Insgesamt ist der Bezug auf Keynes – und das heißt auf keynessche Nachfragesteuerung – aber geeignet, die Debatte auf die Frage zuzuspitzen, auf welchem Wege besser höhere Wachstumsraten und damit mehr Beschäftigung erzielt werden können. Dies ist aber m. E. nicht die Kernfrage alternativer Wirtschaftspolitik der Gegenwart. Einmal wird vor allem in Europa gerne übersehen, dass die Welt sich gegenwärtig in einer raschen wirtschaftlichen Expansionsphase befindet, vor allem getrieben durch die expansive Wirtschaftspolitik in den USA und durch die rasche Industrialisierung in China und Indien[6]. Weltweit steigt die Produktion jährlich im Tempo von rund vier Prozent, wobei nach wie vor ein hohes Niveau von Ressourcenverbrauch zu beobachten ist. Dennis Meadows, der 1972 als Mitglied des Club of Rome eine damals vieldiskutierte Studie über „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht hatte, kommt inzwischen, 30 Jahre später, zu noch weit dramatischeren Aussagen: Der Klimawandel könne nicht mehr aufgehalten werden, die physische Erschöpfung vieler natürlicher Ressourcen ist in die Reichweite heute schon lebender Generationen gerückt[7]. Die Übernahme westlicher Produktions- und Konsumtionsmuster durch einen grossen Teil der Weltbevölkerung ist in wenigen Jahrzehnten zu erwarten. Vor diesem Hintergrund erscheint es ausgesprochen kurzsichtig, wenn in Europa das Hauptaugenmerk auf Rezepte zur Erhöhung der Wachstumsraten gerichtet wird und wenn dabei sogar verschiedentlich positiv auf die pragmatische expansive Wirtschaftspolitik in den USA verwiesen wird. Damit begibt man sich faktisch auf die Bewertungsebene des Neoliberalismus. Lösungen für das drängende Problem der Arbeitslosigkeit sind gleichwohl vorrangig – denn nur, wenn hier positive Perspektiven eröffnet werden, können die für die Bewältigung der ökologischen Probleme erforderlichen sozialen Kräfte mobilisiert werden. Allerdings führt der Weg zu mehr Beschäftigung durch höhere Wachstumsraten in die Sackgasse – nicht zuletzt auch deswegen, weil es eine positive Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und Zunahme der Arbeitsproduktivität gibt[8] und Beschäftigungszuwächse daher nur bei sehr hohen Wachstumsraten erreicht werden können. Zwar führen eine naive Wachstumskritik oder eine Veränderung der Problemhierarchie nicht weiter, wie u.a. das Schicksal der Grünen zeigt; unter dem Vorzeichen von Massenarbeitslosigkeit und sozialer Polarisierung werden sich keine sozialen Bewegungen entfalten, die wirksam ein Umsteuern in Richtung auf nachhaltige Wirtschaftsformen erreichen können.
Die Keynessche Fundamentalkritik an jenen Konzepten, die auf die Selbstheilungskräfte des Marktes[9] setzen, bleibt gültig. Die große aktuelle Herausforderung aber, nämlich die Schaffung von sinnvollen Arbeitsplätzen mit einem ressourcensparenden, nachhaltigen Produktions- und Konsumtionsmodell zu verbinden, kann mit den gängigen keynesschen Instrumenten der Nachfragesteuerung nicht bewältigt werden. Hier sind einschneidende Strukturveränderungen der Produktions- und Konsumtionsmuster erforderlich. Unter diesen Bedingungen Keynes (und damit die keynessche Nachfragesteuerung) in den Mittelpunkt alternativer Konzepte zu stellen, birgt m. E. die Gefahr, von dieser neuen Qualität der Herausforderungen an alternative Wirtschaftspolitik abzulenken. Zwar ist richtig, dass von Keynes aus Brücken zu ökologischen Fragen geschlagen werden können, was verschiedentlich als „Programmkeynesianismus“ bezeichnet wird: Möglich ist „die Verbindung gesamtwirtschaftlicher Nachfragestärkung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit der Finanzierung von gezielten Infrastrukturausgaben – beispielsweise zum Ausbau der ökologischen Infrastruktur.“[10] Das erscheint mir aber nicht ausreichend, da öffentliche Infrastrukturinvestitionen in den meisten Fällen Investitionen in „end-of-the-pipe“-Technologien sind. Zudem werden damit ökologische Investitionen den wechselnden Erfordernissen des Konjunkturzklus untergeordnet.
Damit befindet sich alternative Wirtschaftspolitik heute in der unbequemen Situation, sich nicht einfach auf ‚klassische’ Vorbilder beziehen zu können. Das gilt mehr oder weniger auch für Marx: Auch wenn Leibiger (S. 129) unter Bezugnahme auf Joan Robinson meint, dass ein Mix von Marx und Keynes weiter helfen könnte, so bleibt doch undeutlich, wie dieser Mix aussehen sollte. Marx Analyse der Funktionsbedingungen und der historischen Tendenz des Kapitalismus ist ein unabdingbarer Bezugspunkt für jede alternative Konzeption, ohne dass daraus aber wirtschaftspolitische Anleitungen für eine Regulierung des Kapitalismus im Interesse der Lohnabhängigen abgeleitet werden können. Zwar finden sich im Marxschen Werk verstreut Hinweise, dass er dem Kampf um eine Verbesserung der Lebensbedingungen im Kapitalismus durchaus positiv gegenüberstand. Dies war aber nicht Ziel seiner Analyse. Für Wirtschaftspolitik hat sich Marx kaum interessiert. Dagegen wollte Keynes vor allem umsetzbare wirtschaftspolitische Handlungsanleitungen liefern und beschränkte sich daher in seiner Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und deren historischer Tendenzen auf einige mehr oder weniger plausible Annahmen. In seinem oben zitierten Beitrag lässt er dies am Ende offen: „Immerhin mag eine Zeit kommen, wo wir uns über die Dinge klarer sein werden als heute, wo wir darüber reden, ob der Kapitalismus eine gute oder schlechte Technik, und ob er an sich wünschenswert oder abzulehnen ist.“[11]Gestützt auf die Marxsche Analyse der historischen Tendenzen des Kapitalismus kann man angesichts der schon heute sichtbaren Übernutzung des Planeten m. E. nur zu dem Ergebnis kommen, dass er nicht wünschenswert ist.
Hinsichtlich Kapitalismusanalyse wie auch Wirtschaftspolitik kommen beide letzten Endes zu recht ähnlichen Schlussfolgerungen, ohne diese explizit zu formulieren. Marx’ Krisenanalyse lässt durchaus Raum für eine expansive Nachfragepolitik und Keynes Beschreibung des Kapitalismus kann auch als Kritik an der Zukunftsfähigkeit dieser Produktionsweise gelesen werden. So gesehen besteht, bezogen auf die Fragen von Wirtschaftspolitiken im Kapitalismus, kein Widerspruch zwischen Marx und Keynes: Allerdings erscheint mir heute der positive Beitrag beider ‚Klassiker’ für alternative Konzeptionen unter den Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit in einem Umfeld der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen begrenzt.
[1] Rudolf Hickel, Die keynessche Botschaft: Wiederbelebung gesamtwirtschaftlicher Analyse und Politik, S. 13 ff, in: Herbert Schui/Holger Paetow, Keynes heute, Hamburg 2003.
[2] Jürgen Leibiger, Zwischen Marx und Keynes. Einmal hin und zurück, in: Z 65, März 2006, S. 114.
[3] Ich teile nicht alle Einwände von Leibiger gegen Keynes: Die Beseitigung von Konjunkturzyklen ist kein Kernelement keynesscher Nachfragesteuerung. (Leibiger, a.a.O., S.114)
[4] Wolfgang Schoeller, Globalisierung und Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik, in: Schui/Paetow, a.a.O., S. 171.
[5] Siehe auch den Beitrag von Gretchen Binus und Irene Gallinge in diesem Heft (S. 113ff) sowie den Bericht von Jörg Reitzig (S. 119ff).
[6] Jörg Goldberg, Globaler Wachstumsfetisch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/06, S. 111 ff.
[7] Dennis Meadows, Qualitatives Wachstum fördern, in: Frankfurter Rundschau v. 5.4.2006.
[8] Vgl. Karl Georg Zinn, Welche Zukunft hat das Wirtschaftswachstum?, in: Schui/Paetow, a.a.O., S. 63.
[9] John Maynard Keynes, Das Ende des Laissez-Faire – Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft, in: Schui/Paetow, a.a.O., S. 13 ff.
[10] Rudolf Hickel, a.a.O., S. 55.
[11] John Maynard Keynes, a.a.O., S. 33.