Vom 24. bis zum 29. Januar 2006 fand in Caracas/Venezuela der amerikanische Teil des Weltsozialforums statt. Und damit die Nagelprobe, inwieweit die globalisierungskritischen Bewegungen und die venezolanischen Linksregierung zusammenarbeiten wollen.
Im Parque Vargas nahe der Avenida Bolívar stehen etwas versteckt zwei weiße Großzelte, geschmückt mit den Fahnen von lateinamerikanischen Bauernorganisationen, darunter der brasilianischen Landarbeiterbewegung MST, Via Campesina und der venezolanischen Bauernfront FNCEZ. Der Grund für die Fahnenvielfalt ist das sechste Weltsozialforum, dessen amerikanischer Teil dieser Tage in Caracas stattfindet. Seit neun Uhr findet hier eine Veranstaltung zum Thema „Situation und Perspektiven der lateinamerikanischen Landlosenbewegungen“ statt. Wegen des Regens und der Morgenstunde ist nur ein harter Kern von vielleicht 30 AktivistInnen gekommen. Die Stimmung ist trotzdem gut. Es wird Kaffee ausgeschenkt. Weizen, Mais und Soja werden symbolisch vor dem Rednerpult ausgebreitet. Zuerst spricht ein Redner aus Nikaragua. Er erzählt etwas nostalgisch über die politische Organisierung des Agrarsektors unter den Sandinisten in den 80er Jahren, über dessen partiellen Zusammenbruch nach der politischen Wende und über die zaghaften Fortschritte der letzten Jahre. Als nächster Redner spricht ein Vertreter der venezolanischen Bauernfront FNCEZ. Er berichtet von der Landreform, die im Jahr 2001 von Präsident Chávez per Dekret erlassen wurde und die die Abschaffung des Großgrundbesitzes vorsieht. In der Umsetzung gäbe es aber große Probleme, da die staatlichen Institutionen wie das Landinstitut INTI nur sehr zaghaft vorgehen würden. Er bekommt viel Beifall und es beginnt eine Diskussion darüber, wie am besten mit unwilligen Staatsapparaten umzugehen sei.
An diesem Morgen erfüllt das Weltsozialforum in den zwei Zelten im Parque Vargas eine seiner wichtigsten Funktionen: Eine Bewegung vernetzt sich. In einem übersichtlichen Kreis von AktivistInnen werden Erfahrungen und Informationen ausgetauscht, Kooperationen und Besuche vereinbart. Drei Tage zuvor war das Forum mit einer großen Auftaktdemonstration eröffnet worden, zu der etwa 70.000 Menschen kamen. Den größten Teil von ihnen stellen die lateinamerikanischen Länder, allen voran Kolumbien, Kuba und Brasilien. Daneben sind immerhin ca. tausend US-Amerikaner und Kanadier gekommen sowie eine deutlich kleinere Anzahl von europäischen, asiatischen und afrikanischen AktivistInnen.
Neben Hauptthemen des Forums wie gerechte Weltwirtschaft, Imperialismus und Krieg zieht sich eine Frage wie ein roter Faden durch das Treffen in Caracas: Wie werden sich globalisierungskritische Bewegung und die erstarkenden Linksregierungen in Lateinamerika zueinander verhalten? Einerseits bietet das Forum die Möglichkeit der inhaltlichen Auseinandersetzung über gemeinsame Ziele und Kampagnen, andererseits war die Organisation des Forums in Caracas eine wichtige Praxis-Probe dafür, inwieweit die „Bewegung der Bewegungen“ mit einer anti-neoliberalen Regierung wie der venezolanischen kooperieren kann. Was passiert, wenn bei der Organisation eines Mega-Events eine Organisation mit höchsten Ansprüchen an basisdemokratische Entscheidungsstrukturen und ein zentralistisch organisierter, vermeintlich bürokratischer Staatsapparat aufeinander treffen? Ist es nicht vorprogrammiert, dass der Staat die Vorbereitungen dominieren und das Forum im Sinne der eigenen Politik instrumentalisieren würde?
Bereits in den Monaten vor dem Forum waren innerhalb Venezuelas zahlreiche Bedenken in dieser Frage geäußert worden. So gab der Soziologieprofessor und Mitorganisator des Forums Edgardo Lander bereits im Sommer 2005 in der Zeitschrift „Question“ als Leitlinie vor, dass das Weltsozialforum auf keinen Fall chavistisch werden dürfe und dass die Organisatoren sich gegen jeden staatlichen Einfluss abgrenzen müssten. Auf der Seite der gegen den linken Präsidenten Hugo Chávez gerichteten venezolanischen Opposition stand es von vornherein außer Frage, dass die Bewegung von der Regierung vereinnahmt würde. Die rechten Zeitungen „El Nacional“ und „El Universal“ wetterten, dass die Regierung eine „Revolutionsshow“ abziehen wolle und der Staat den internationalen TeilnemerInnen ihre Reisekosten erstatten würde. Einige anarchistische Gruppen, die sich bereits seit mehreren Jahren von konstruktiver Kritik des bolivarischen Prozesses auf bloße Anti-Regierungs-Polemik verlagert haben, beschlossen, ein unabhängiges Alternativforum zu veranstalten, da die sozialen Bewegungen als Konsequenz aus der finanziellen Unterstützung des Weltsozialforums durch den venezolanischen Staat ihre Autonomie verlieren würden.
Vor einem solchen Hintergrund war das Verhalten der staatlichen Institutionen lange Zeit von Zurückhaltung geprägt. Die Kommunikation zwischen offiziellen Stellen, wie der Stadtverwaltung von Caracas und den Arbeitsgruppen des Forums, die sich mit Logistik beschäftigten, funktionierte lange Zeit nur schlecht, und so gab es bis zwei Wochen vor Beginn des Forums so gut wie gar keine staatlichen Mittel. Auch funktionierte die Zusammenarbeit der verschiedenen Vorbereitungsgruppen untereinander nicht gut. Was auf der Webside des Forums stand, war ganz alleine die Entscheidung des Webmasters, einige zentrale Arbeitsgruppen bestanden faktisch nur aus einer Person und das oberste Gremium des venezolanischen Forums, das Comité Hemisférico hielt es auf einer Infoveranstaltung im Dezember 2005 nicht einmal für nötig, sich den kritische Fragen von AktivistInnen aus den Arbeitsgruppen zu stellen. Erst mit Blick auf die drohende Blamage kam die Zusammenarbeit zwischen Forum und Stadtverwaltung in letzter Minute doch noch ins Rollen, vor allem indem vom Staat Infrastruktur bereitgestellt wurde. Zehn Tage vor dem Event wurde vom Infrastrukturministerium eine Etage des Hochhauses Torre del Este mit ca. 30 Büros bereitgestellt. Das gesamte Informations- und Werbematerial wurde vom Informationsministerium gedruckt, ohne dass es Einfluss bei der Gestaltung nahm. Einzig bei der Zeitung des Campamento (20.000 Exemplare täglich) hat sich das Ministerium eine Kontrollinstanz erbeten. Diese bestand jedoch nicht aus prüfenden Ministerialbeamten, sondern es wurde vereinbart, dass einige Mitglieder von alternativen venezolanischen Medien in der Endredaktion der Zeitung mitarbeiten sollten. Eine Lösung, die in der Praxis sehr gut funktioniert hat und die auch ein wenig beispielhaft für die venezolanische Mischung aus Bürokratie und Basisdemokratie ist.
Mit der Auftaktdemo füllte sich die Innenstadt von Caracas mit den TeilnehmerInnen. An 15 Veranstaltungsorten fanden ca. 1200 Veranstaltungen statt. Wie in den letzten Jahren vernetzten sich zahlreiche Organisationen und informierten über ihre Kämpfe. Die Sprecherin der ecuadorianischen Indígenas, Blanca Chancoso, wurde mit frenetischem Applaus gefeiert, als sie auf einer Großveranstaltung den kulturellen Imperialismus ebenso anklagte wie die wirtschaftliche Abhängigkeit Lateinamerikas. Auffällig war die starke Präsenz US-amerikanischer TeilnehmerInnen. Golfkriegsveteranen und Obdachlosengruppen berichteten über ihre Kämpfe gegen die Bush-Administration.
Die linken Regierungen des Kontinents wurden weitgehend als Chance begriffen und dennoch viel kritisiert. Dabei wurde immer wieder auch auf den Unterschied zwischen den einzelnen Regierungen hingewiesen. Während einerseits Argentiniens Regierungschef Kirchner und vor allem Lula in Brasilien vorgeworfen wurde, dass sie ihre sozialen Versprechen der Wirtschaftpolitik unterordnen würden, konzentrierten sich viele Erwartungen auf den Gastgeber Chávez und auf den frisch gewählten Evo Morales. Dieser war in den vergangenen Weltsozialforen aktiv gewesen und hatte nun als erster indigener Präsident Boliviens einen deutlichen Kurswechsel in dem Land versprochen. Am Freitag dem 27. Januar hielt Chávez schließlich eine Rede vor ca. 20.000 TeilnehmerInnen und ging auch mit dem Weltsozialforum scharf ins Gericht. Er warnte das Forum davor, zu einer touristischen Folklore Veranstaltung zu verkommen, wenn weiterhin nur diskutiert würde. Um eine andere Welt auch zu realisieren, sei stattdessen ein gemeinsamer Handlungsplan nötig.
Die Erfahrungen des Forums in Caracas zeigen, das die Betonung des Widerspruchs zwischen vertikalen Regierungen einerseits und basisdemokratischer Forumsbewegung andererseits an den Realitäten vorbei geht. Auf der einen Seite haben die offiziellen venezolanischen Institutionen im Großen und Ganzen sehr zurückhaltend agiert. Der venezolanische „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ hat aus ein paar Fehlern der Vergangenheit gelernt, er gibt nicht vor der einzig richtige Weg zu sein, der sich von anderen linken Pogrammen abgrenzen muss. In dem Sinne gibt es auch keine Kaderorganisation, die versucht die anderen politischen Bewegungen zu dominieren. Auf der anderen Seite ist das Weltsozialforum keineswegs so horizontal organisiert wie es sich manchmal gerne gibt. Zwar ist das Forum nach wie vor offen für Veranstaltungen und Diskussionen jeder Art, doch bei der Organisation des Forums wurden alle wichtigen Entscheidungen von den leitenden Gremien der Forumsstruktur getroffen, ohne ausreichende Koordination mit den vielen Aktiven in den Arbeitsgruppen. Sechs Jahre sind auch an der Institution Weltsozialforum nicht spurlos vorbeigegangen und es treten einige Verschleißerscheinungen auf, wie mangelnde Transparenz der Strukturen. Dabei stehen der Bewegung große Aufgaben bevor. Die Welt ist seit 2001 nicht viel besser geworden, und die Erkenntnis, dass eine andere Welt möglich ist, verliert im Laufe der Zeit an Aussagekraft, wenn sie keine praktischen Folgen hat.
Caracas, 27. März 2006. Nichts geht mehr vor dem Präsidentenpalast. 2000 Anhänger der venezolanischen Bauernfront FNCEZ haben mit der Avenida Urdaneta eine der wenigen Ausfallstraßen aus der Innenstadt von Caracas gesperrt. Sie fordern eine konsequentere Umsetzung der Landreform. Sie klagen an das es trotz einer Überprüfung der Besitztitel, bisher kaum zu Enteignungen gekommen ist. Im Gegenteil, sie klagen an, dass in den letzten Jahren über 150 BauernaktivistInnen von Auftragskillern ermordet wurden. Sie betonen, dass sie noch immer hinter der Regierung stehen, mit der konkreten Politik jedoch sehr unzufrieden sind und ihre Proteste fortführen werden. Die Avenida Urdaneta wird an diesem Tag ein kleines Beispiel für das dialektische Verhältnis zwischen Bewegung und Staat. Die Campesinos kämpfen dafür, dass eine andere Welt Wirklichkeit wird. Und die linke Regierung ist ihre wichtigste Waffe.