Berichte

Wirtschaftspolitik für ein anderes Europa

Erster „alternativer ECOFIN", 4. bis 6. April 2006 in Wien

Juni 2006

Auf Initiative von ATTAC-Österreich trafen sich vom 4. bis 6. April 2006 im Wiener Rathaus 350 Vertreterinnen und Vertreter aus Nichtregierungsorganisationen, globalisierungskritischer Bewegung, Parteien und Gewerkschaften zum ersten alternativen ECOFIN. Die Tagung fand drei Tage vor dem Beginn des offiziellen ECOFIN, dem Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der Europäischen Union (EU), statt.

Neben ATTAC wurde die Veranstaltung u.a. vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB), der Arbeitskammer Wien, dem SPÖ-nahen Renner-Institut, der Grünen Bildungswerkstatt sowie der EuroMemorandum-Gruppe unterstützt. In einer gemeinsamen „Wiener Deklaration“ fordern die OrganisatorInnen die Abkehr von der restriktiven makroökonomischen Politik der vergangenen Jahre. Diese habe zu einer stagnierenden Binnennachfrage mit entsprechenden Folgen für Wachstum und Beschäftigung geführt und die soziale Ungleichheit vergrößert. „Europa erlebt neue Formen der Prekarisierung und sozialen Polarisierung und entfernt sich immer weiter von ökologischer Nachhaltigkeit.“ Demgegenüber werden in dem Papier fünf Eckpunkte eines alternativen Modells definiert: Erstens eine Wirtschaftspolitik, die dem Ziel einer existenzsichernden Vollbeschäftigung verpflichtet ist. Zweitens die Weiterentwicklung sozialer Sicherheit und Armutsbekämpfung als öffentliche Aufgaben und Ziele der zukünftigen EU-Entwicklung. Drittens eine sozial gerechte Politik, die die regionale und soziale Kohäsion stärkt, indem sie darauf hinwirkt, dass die für einzelne Länder vorhandenen oder möglichen Vorteile der EU-Ökonomie gleichmäßiger verteilt werden. Viertens müssten dem Bekenntnis zur ökologischen Nachhaltigkeit praktische Maßnahmen für einen entsprechenden Umbau der Wirtschaft folgen. Und fünftens müsse die EU, statt auf rücksichtslose Konkurrenz zu setzen, ihre Verantwortung als größter Wirtschaftsraum für die Entwicklung von Fairness in der Gestaltung zwischenstaatlicher Beziehungen einlösen. Die Deklaration wurde am Ende des Alternativ-Gipfels in einem Protestumzug vom Rathaus über die Strasse getragen und an das Eingangstor der Hofburg – Tagungsort der Ministerratskonferenz – genagelt. Den anreisenden Ministern zu Kenntnisnahme.

Zur Eröffnung sprach neben dem Wiener Bürgermeister Michel Häupl, der die destruktive Wirkung des Neoliberalismus hervorhob, der US-Autor Jeremy Rifkin. Er nannte den „europäischen Traum“ eine Chance des Widerstands gegen den ruinösen Wettbewerbskapitalismus. Der amerikanische Traum, demzufolge gute Ausbildung und eigene Anstrengung quasi von selbst zum Erfolg führen, sei heute ebenso verloren gegangen wie die soziale Mittelklasse in den USA, die ihn einst verkörperte. Demgegenüber müsse Europa seine Möglichkeiten offensiv aufgreifen. Eine der größten Chancen liegt Rifkin zufolge in der Integration der Infrastruktur in der EU. Dieses Ziel halte er im Zeitraum von 25 Jahren sogar unter Bedingungen ökologischer Nachhaltigkeit für erreichbar.

Der zweite Konferenztag begann mit einleitenden Referaten der Wirtschaftswissenschaftler Kurt Rothschild und Jörg Huffschmid. Rothschild reflektierte den „ökonomischen Diskurs heute und gestern“. Er kritisierte die im wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream vielfach zum Tragen kommende Wiederholung der klassischen Verwechselung von sozialwissenschaftlicher Interpretation mit naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit, woran anschließend dann oft in unzulässiger Weise der Gültigkeitsanspruch von Naturgesetzen auch auf dem Feld der sozialen Verhältnisse, wie den Wirtschaftsbeziehungen, behauptet werde. Jörg Huffschmid fragte nach den Ansatzpunkten einer „Wirtschaftspolitik für ein anderes Europa“. Die im Jahr 2000 als zentrale wirtschafts- und sozialpolitische Agenda beschlossene „Lissabon-Strategie“, auf deren Grundlage die EU bis 2010 zur Wirtschaftsmacht No. 1 in der Welt werden sollte, bleibe auch in ihrer abgespeckten Fassung von 2005 einer neoliberalen Konzeption verpflichtet. Als Strategie gegen Arbeitslosigkeit gelte weiterhin vor allem die Liberalisierung der Märkte bei gleichzeitiger Disziplinierung der Arbeitslosen.

Die EU-Politik zeichnet sich, so Huffschmid, durch drei bewusst falsche Weichenstellungen aus. Zum einen durch den Übergang zu einer Politik der Marktöffnung, ohne dass in gleicher Weise gemeinsame Institutionen und Regeln geschaffen wurden. Statt des Prinzips der positiven Integration dominiere heute eine negative Integration. Diese ziele nicht auf die Angleichung der Verhältnisse, sondern auf die gegenseitige Anerkennung der bestehenden Unterschiede und die Beseitigung von Marktschranken, damit der Wettbewerb dann als Integrationsmodus wirken könne. Was nach außen als Bürokratieabbau verkauft werde, versetze die Staaten mit ihren Regeln in Konkurrenz zueinander (Standortwettbewerb). Der zweite Fehler, so Huffschmid, war die Abkehr von einer Konzeption der gesamtwirtschaftlichen Steuerung. Konsequent im Sinne der neoliberalen Theorie erschöpfe sich die EU-Wirtschaftspolitik heute in der Fokussierung auf Preisstabilität und Austerität. Zum dritten habe schließlich die sozialpolitische Enthaltsamkeit und der nach der EU-Erweiterung 2004 noch gesteigerte strukturpolitische Minimalismus zum Ansteigen der Armutsquote und zu zunehmender regionaler Ungleichheit geführt. Die EU befinde sich gegenwärtig in einer Konstellation, bei der eine kleine Gruppe von Wohlhabenden von der herrschenden Politik und den Gegenreformen gegen die Errungenschaften des wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegskapitalismus extrem profitiere. Zugleich setze diese Politik gesamtwirtschaftlich eine Abwärtsspirale in Gang, bei der Wachstumsschwäche in wachsenden Lohndruck umgemünzt werde, was wiederum die Nachfrage drossele und so erneut das Wachstum schwäche. Ein alternativer Entwicklungspfad müsse hingegen stärker in Richtung gemeinsamer europäischer Standards weisen, etwa durch Mindeststandards, von denen nach oben, jedoch nicht nach unten abgewichen werden dürfe. Darüber hinaus sei ein Rahmen gesamtwirtschaftlicher Steuerung erforderlich, der die Reduktion der Wirtschaftspolitik auf Inflationsbekämpfung und Haushaltskonsolidierung zugunsten von „Nachhaltigkeit“ und „sozialer Gerechtigkeit“ überwinde. Effektive Armutsbekämpfung sei auch der effektivste Weg zur Stärkung einer europäischen Identität; dafür sei eine wirksame europäische Sozial- und Strukturpolitik notwendig.

„Europe for people or profits?“ war Thema des anschließenden Panels mit Beiträgen von Egelbert Stockhammer (Wien), Marica Frangakis (Athen), Birgit Mahnkopf (Berlin) und Jožé Mencinger (Ljubljana). Stockhammer widmete sich der Frage, welche Effekte die Umverteilung zugunsten der Profite hat. Dabei dekonstruierte er drei zentrale Mythen des neoliberalen Mainstream. So haben die hohen Profite offenbar keine stimulierende Wirkung auf das Investitionsverhalten. Dass die Arbeitslosigkeit eine Folge zu hoher Löhne sei, widerlege die eigene Empirie der Mainstream-Ökonomie als nicht stichhaltige These. Die im Hinblick auf die neoliberalen „Reformen“ stets behauptete Alternativlosigkeit werde durch deren Resultate selbst ad absurdum geführt. Fakt sei, dass der neoliberale Regimewechsel in der EU das Stagnationsproblem nicht gelöst, sondern zu niedrigem Wirtschaftswachstum plus niedrigem Lohnwachstum geführt habe.

Während Frangakis und Mencinger vor allem die sachliche und instrumentelle Beschränktheit der aktuellen makroökonomischen Politik in Europa kritisierten, die sich im wesentlichen darin erschöpfe, auf die Senkung der Kosten der Sozialsysteme und auf Sparprogramme zur Konsolidierung der Staatshaushalte zu orientieren, richtete Birgit Mahnkopf den Blick auf die „Perspektiven der Sozial- und Strukturpolitik in der EU“. Die Politik von Maastricht und Lissabon habe nicht zu einer Vertiefung der EU im Sine eines sozialen Ganzen geführt, sondern EU-weit einen von wachsender Unsicherheit geprägten Alltag hervorgebracht. Alle Politikfelder würden inzwischen der ökonomischen Legitimation untergeordnet. Obwohl nach der EU-Erweiterung 2004 Impulse für eine positive Integration notwendiger wären denn je, weise die Lissabon-Strategie genau in die Gegenrichtung und fördere nur den Wettbewerb der Sozialsysteme. Sie basiere auf der Prämisse, dass nur „unternehmerisches Handeln“ wirklich Wohlstand schaffe und stelle insofern einen Bruch mit den Grundlagen europäischer Sozialstaatlichkeit dar, die in den meisten EU-Staaten in der einen oder andern Form auch konstitutionell verankert ist. Mit Instrumenten aus der einzelbetrieblichen Logik (Benchmarking, Best Practices) werde diese Verdrehung des Sozialen durchgesetzt. Der European Way of Life, d.h. die Verbindung von Wettbewerb und Freihandel mit sozialer Sicherheit (der wohlfahrtsstaatliche „Produktivitätspakt“), werde aufgegeben und der dazu gehörige Begriff der Solidarität nach den Regeln des Markts neu buchstabiert. Denn die Logik der Asymmetrie, nach der zwar leistungsbezogen eingezahlt, aber bedarfsbezogen wieder entnommen wird (bei Krankheit, Arbeitslosigkeit etc.), kenne der Markt nicht. Darum seien die Solidarsysteme bislang auch nicht marktförmig organisiert gewesen.

Dass die Entwicklung gegenwärtig in Richtung einer Vermarktlichung des Sozialen voranschreitet, ist jedoch, so Mahnkopf, nicht das Resultat von Sachzwängen, sondern vor allem das Ergebnis der Arbeit einflussreicher Lobbygruppen, wie z.B. des „European Round Table of Industrialists“ oder anderer selbstdefinierter Eliten, sowie der Dynamik deregulierter Finanzmärkte. Nicht zuletzt gehe es der EU-Kommission darum, europäische Champions zu schaffen, die auf den globalen Märkten konkurrenzfähig sind. Dass sie mit dieser Politik aber zugleich die Konkurrenz noch weiter verschärfe, bleibe indes außen vor. Stattdessen müsste es vielmehr darum gehen, die positive Integration zu stärken, mehr Kooperationszwänge zwischen den EU-Staaten zu schaffen statt mehr Wettbewerb, auf Umverteilung statt auf Wachstum zu setzen und letztlich die institutionelle Vielfalt in der EU zu gewährleisten.

Unterschiedliche Aspekte europäischer Wirtschaftspolitik wurden in elf Workshops thematisiert. Das Spektrum der Themen reichte von der Frage nach den Bedingungen regionaler Kohäsion über die Kritik der Niedriglohnpolitik in Europa bis zur Diskussion um die Zukunft öffentlicher Dienstleistungen in der EU. Der alternative ECOFIN endete mit der Vorstellung und Beratung der „Wiener Deklaration“

Bemerkenswert und verdienstvoll ist zunächst einmal, dass diese Konferenz überhaupt stattgefunden hat. Denn anders als etwa Ministerkonferenzen der Welthandelsorganisation (WTO) oder die G8-Gipfel (Sommer 2007 in Heiligendamm) blieben die EU-Gipfeltreffen bislang von Gegenöffentlichkeit weitgehend unbehelligt. Dabei werden gerade auf dieser Ebene Entscheidungen gefällt und Weichen gestellt, mit denen die neoliberale Wende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik voran getrieben wird. Die konservative Wunschvorstellung, der demokratischen Politik Fesseln anzulegen, der Mehrheit der Habenichtse die Instrumente progressiver Besteuerung und Umverteilung aus der Hand zu nehmen und den Markt in den Rang eines „Entdeckungsverfahren“ (Hayek) sozialer Regeln zu erheben, kommt im Mehrebenensystem europäischer De-Regulierungs- und Liberalisierungspolitik ganz besonders zum tragen. Es bleibt daher zu wünschen, dass diese Initiative der VeranstalterInnen aufgegriffen und – etwa im Zuge der deutschen Ratspräsidentschaft 2007 – der alternative ECOFIN eine Fortsetzung finden wird.