Zunächst sei es unumgänglich, „den Becher der
Niederlage bis zum letzten Tropfen auszutrinken“, schrieb
Heinz Jung im Januar 1990: „Sonst wird es keinen Neuanfang
geben.“ Dies war die Konstellation, in der er 1989/1990 Idee
und Konzept von Z entwickelte und seine ganze Energie in die neue
Zeitschrift investierte. Er war zugleich davon überzeugt,
„dass der Marxismus in Deutschland schon mittelfristig in der
Gesellschaft auch als politische Strömung wirksam sein kann,
wenn es den Marxisten gelingt, die ‚alte’
Klas-senproblematik mit den neuen sozialen, kulturellen und
globalen Problemen zu verbinden und dafür politische und
soziale Ausdrucksformen zu schaffen.“
Heinz Jung starb, für alle unerwartet, am 19. August 1996. Aus
Anlass seines 10. Todestages haben wir auf den folgenden Seiten
Texte zusammengestellt, die er 1989/1990 in kritischer und
selbstkritischer Reflexion des Zusammen-bruchs der Sowjetunion und
der DDR und der Krise der marxistischen Bewe-gung verfasst hat.
Aktuell sind diese Texte auch heute vor allem deswegen, weil Heinz
Jung es vermochte, jeglicher Larmoyanz zu widerstehen und den
nüch-ternen und schonungslosen Blick auf die
Zusammenbruchskrise und die kriti-sche Aufarbeitung der eigenen
Geschichte und Theorie mit dem Blick nach vorn, dem Blick auf die
Zukunftsperspektiven der marxistischen Bewegung zu verbinden. Er
ging unbeirrt von der Notwendigkeit der konkreten Analyse
kon-kreter Verhältnisse aus, für deren Entwicklung und
Veränderung man offen sein müsse. Seine Gedanken zu einem
marxistischen Neuanfang wurden auch Pro-gramm des
Zeitschriftenprojekts Z. Vor zehn Jahren schrieben wir zur
Würdi-gung von Heinz Jung (Z 28, Dezember 1996, S. 14):
„Diese Haltung der ‚Of-fenheit’ für die
Veränderungen der Realität, die seine wissenschaftliche
Arbeit wie seine politische Biografie prägen, dieser gegen den
Zeitgeist immune, parteiliche ‚Anti-Dogmatismus’, der
Heinz Jung stets nach neuen Wegen su-chen ließ, ohne dabei
Zweifel über die Richtung gesellschaftlicher
Verände-rungen aufkommen zu lassen, das ist vielleicht das
Wichtigste, was aus sei-nem engagierten und tätigen Leben zu
lernen ist.“
***
In welchem Verhältnis stehen Zentrum und Peripherie des
Kapitalismus, wel-ches Kräfteverhältnis besteht zwischen
„alten“ und „neuen“, aufsteigenden Zonen
des Kapitalismus? Schon vor 150 Jahren wirft Marx in einem Brief an
Engels (sh. die letzte Umschlagseite dieses Heftes) dieses
„schwierige“ Prob-lem auf. Erleben wir heute einen
Aufstieg der kapitalistischen Schwellenlän-der, eine neue
Dynamik des Kapitalismus von seiner Peripherie her?
Mit dem Kürzel BRIC hat die Goldman Sachs Group die aus ihrer
Sicht zu wichtigen Akteuren in der Weltwirtschaft aufsteigenden
kontinentalen Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und
China als eine Gruppe zu-sammengefasst. Oft wird auch
Südafrika dazu gerechnet. Welche Auswirkung wird deren
wachsendes Gewicht auf die Funktionsweise des globalen
Kapi-talismus haben? Welches Kapitalismusmodell hat sich in den
BRIC-Ländern
6 Z - Nr. 67 September 2006
etabliert? Welche inneren Widersprüche und Konflikte
entwickeln sich in die-sen Ländern und welche Stellung hat die
politische Linke in ihnen?
Stefan Schmalz umreißt die Rolle der BRIC-Staaten in der
Weltwirtschaft und deren unterschiedliche Entwicklungswege. Sie
haben zwar Machtressourcen auf verschiedenen Ebenen, insbesondere
im Finanzsektor angehäuft, werden aber erst mittelfristig
durch gezielte Kooperation strukturale Machtverhältnis-se in
der Weltwirtschaft umwälzen können. Luiz Augusto E. Faria
zeigt in seinem Beitrag über das brasilianische
Entwicklungsmodell, dass sich Brasi-lien entgegen der BRIC-Euphorie
seit rund 25 Jahren in einer strukturellen Stagnationsphase
befindet. Gert Meyer beleuchtet Russlands Rückkehr als
wichtiger Akteur auf der Weltbühne. Nach der Finanz- und
Währungskrise 1998 hat sich das Land unter günstigen
Weltmarktbedingungen zu einer Ener-gie- und Rohstoffmacht
entwickelt, wobei sich die tiefe soziale Spaltung in Russland
weiter verfestigt. Radhika Desai analysiert die indische
Ökonomie seit der Unabhängigkeit 1947 und kritisiert die
modernisierungstheoretischen Ar-gumentationsmuster in der
BRIC-Debatte. Sie zeigt, dass die neoliberale Um-strukturierung
keineswegs förderlich für die ökonomische und
soziale Entwick-lung Indiens war, sondern zu strukturellen
Problemen geführt hat. China ist der-zeit das wichtigste
Zugpferd der Weltwirtschaft. Es hat Abschied genommen vom
Sozialismus und eine Transformation zum Staatskapitalismus
durchlaufen, so Hyekyung Cho. Die Autorin interpretiert die
chinesische Entwicklung als Va-riante des „ostasiatischen
Kapitalismus“ und diskutiert Stärken und Schwächen
Chinas auf dem Weltmarkt. Im Anschluss an Gramsci beschreibt Jens
Erik Am-bacher die Entwicklungen im Post-Apartheid-Südafrika
seit 1994 als passive Revolution. Der ANC ist seit der
Regierungsübernahme auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik
umgeschwenkt. Dies führt zu einer wachsenden sozialen
Spaltung, die sich nun auch innerhalb der verschiedenen
Apartheid-Bevölkerungsgruppen wieder findet. Christina
Deckwirth untersucht die Ver-handlungsaktivitäten der
BRIC-Staaten in der WTO und dem GATT. Brasilien und Indien, die
sich in den 1990er Jahren den Vorgaben der Zentrenstaaten
un-terordnen mussten, haben mit der Gründung der G-20 im Jahr
2003 neuen Ein-fluss gewonnen. Der BRIC-Schwerpunkt wurde von
unserem Gastredakteur Stefan Schmalz betreut.
***
Weitere Themenschwerpunkte sind Wolfgang Abendroths Aktualität
als mar-xistischer Politiktheoretiker – mit Beiträgen
von Frank Deppe und Peter Rö-mer und einer Nachlese zu den
Veranstaltungen anlässlich seines hundertsten Geburtstages
– sowie aktuelle Aspekte der Ideologie-Theorie. Hierzu
stellen Erich Hahn – seine Studie über Ideologiebedarf
und Ideologieproduktion in Umbruchphasen des Kapitalismus wird im
nächsten Heft fortgesetzt – sowie Thomas Collmer
(über A. Honneth) und Ingo Elbe (über Holloway) ihre
Überlegungen zur Diskussion. Konferenzberichte und eine
aktuelle Literatur-schau beschließen das Heft.