Kapitalistische Schwellenländer – Aufstieg der Peripherie?

Brasiliens Entwicklung in der neuen Weltordnung

September 2006

„Analisando essa cadeia hereditária
Quero me livrar dessa situação precária

Onde o rico cada vez fica mais rico e o pobre cada vez fica mais pobre
E o motivo todo mundo já conhece
É que o de cima sobe e o de baixo desce”[1]

Xibom Bombom (As Meninas; brasilianische Popgruppe)

Das auffälligste Merkmal am Beginn dieses Jahrhunderts scheint ein aufsprießender Nationalismus zu sein, der gegenwärtig für die Veränderung des internationalen Systems richtungweisend ist. Was sich zunächst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Endes der bipolaren Welt abzeichnete – eine Perspektive für eine bessere Zusammenarbeit und die Dezentralisierung von Macht im internationalen System – wurde von der Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika und deren Streben nach der Festigung ihrer Hegemonialstellung zerstört. Seit dem 11. September 2001 und den darauf folgenden Invasionen in Afghanistan und im Irak verfolgen die USA kompromisslos ihre unilaterale Strategie. Dies führt zu einer verstärkten Wahrnehmung nationaler Interessen vieler Staaten, die sich entweder politisch übergangen fühlen, oder aber in klarer Opposition zur amerikanischen Strategie stehen. Zwei weitere Phänomene verkomplizieren die Situation: Auf der einen Seite spitzt sich die Auseinandersetzung um fossile Energiequellen wie Erdgas oder Erdöl zu, da deren voraussichtlicher Nutzungszeitraum beängstigend klein ist. Auf der anderen Seite kommt es zu einem beschleunigten Wirtschaftswachstum der so genannten „emerging states“, allen voran China und Indien.[2] Sowohl der Wunsch, das Wachstum beizubehalten als auch die Energieversorgung zu garantieren sind Legitimationsressourcen der Regierenden und führen zu einer Renaissance des Nationalismus. Die Perspektive zur Gestaltung einer multipolaren Weltordnung besteht darum nicht in der Erosion der Nationalstaaten, sondern in deren Selbstbehauptung als Akteure. Denn auf eine Veränderung des seit dem Ende des Kalten Krieges fortbestehenden unilateralen Charakters der Weltordnung mit der Hegemonialmacht USA an der Spitze kann man nur hoffen, wenn jene Staaten einen Zuwachs an Macht erfahren, die bereits mit den USA in Konkurrenz stehen oder sich zu ihrem Konkurrenten entwickeln.

Diese Arbeit hat zum Ziel, die Position Brasiliens in der derzeitigen Übergangssituation aufzuzeigen. Dazu wird im ersten Teil die gegenwärtige Außenpolitik Brasiliens analysiert. Seit 2003 nimmt sie nicht bloß eine autonome Position ein, sondern vertritt auch entschiedener nationale Interessen. Im zweiten Teil des Textes folgt eine kurze Rekonstruktion der kapitalistischen Entwicklung Brasiliens. Die wichtigsten Charakteristika des brasilianischen Kapitalismus wurden zunächst durch den Industrialisierungsprozess in den 1930er Jahren begründet. Die Implementierung der neoliberalen Doktrin seit 1990 veränderte diese Ausrichtung grundlegend. Zuletzt werden die wesentlichen sozialen Konflikte diskutiert, die den von Ungleichheit und Exklusion geprägten brasilianischen Entwicklungspfad hervorgerufen haben.

Brasilien und die Weltordnung

Seit den 1980er Jahren befindet sich die Stellung Brasiliens im internationalen System in einem Transformationsprozess, der von zwei wichtigen Vorgängen gekennzeichnet ist. Von einer Perspektive von „innen nach außen“ betrachtet, war der erste die Krise nach dem Ende der Entwicklungsphase seit den 1930er Jahren. Diese basierte auf der Importsubstituierenden Industrialisierung und fand ihr rasches Ende in der Unfähigkeit jene Schulden abzubezahlen, die lediglich zur Finanzierung der letzten Jahre der Entwicklungsphase aufgenommen wurden. Der zweite Vorgang aus der Sicht von „außen nach innen“ war mit der Rückgewinnung der US-amerikanischen Hegemonialstellung durch die Regierung Reagan in den 1980er Jahren verbunden. Die USA erreichten, wie Tavares (1985) zeigt, durch eine Doppelbewegung auf der militärischen und finanziellen Ebene eine Festigung der Bedeutung des Dollars und des Finanzkapitals der Wall Street sowie der Führungsrolle des US-amerikanischen Bürgertums gegenüber den herrschenden Klassen in den übrigen OECD-Staaten. Gleichzeitig schafften es die Vereinigten Staaten, den „kommunistischen Feind“ durch eine Beschleunigung des Wettrüstens während des so genannten Zweiten Kalten Krieges zu lähmen und ihn letztendlich zur Kapitulation zu zwingen. Diese äußerte sich im Zusammenbruch der Sowjetunion und im Fall der Berliner Mauer.

Nachdem die nordamerikanische Hegemonie ihre Position durch diese beiden Erfolge gefestigt hatte, erfuhr die politische Disziplinierung Lateinamerikas besondere Aufmerksamkeit. Dies geschah als die Rückzahlung der Außenschuld verzögert wurde und der Club von Paris, das Beratungskomitee der Kreditbanken, in den Verhandlungen mit den Regierungen der Region kein Ergebnis erzielte. Während dieser Ereignisse Ende der 1980er Jahre erreichte der damalige US-Finanzminister Nicholas Brady die Zustimmung eines großen Teils der Schuldnerstaaten zu einer Umstrukturierung der Schulden. Dies war der erste Schritt in Richtung einer Reintegration der lateinamerikanischen Staaten in die Weltwirtschaft, die sich schließlich in deren Hinwendung zum Neoliberalismus äußerte. Daraufhin wurden die auf einer Dollaranbindung basierenden Stabilisierungsprogramme durchgesetzt und die fortschreitende Öffnung des Außenhandels und der Finanzmärkte forciert. Diese war gekoppelt an Strukturreformen zur Deregulierung und Privatisierung der Wirtschaft und wurde vom Abbau der grundlegenden Regulierungsinstanzen begleitet, mit denen der Staat den Entwicklungsprozess steuert. Diese Maßnahmen vervollständigen das Bild einer Transformation der gesellschaftlichen Institutionen im Geiste des so genannten Washington Consensus[3]. Das Ergebnis war eine anhaltende Stagnation, die mit der Krise im Jahr 1981 begann. Sie äußerte sich in hohen Inflationsraten und einer Haushaltskrise. Die Krise verschlechterte die Vorraussetzungen für Investitionen, reduzierte die öffentlichen Mittel für Infrastrukturmaßnahmen, führte zu enormen Erhöhungen der Leitzinsen sowie der Aufwertung der nationalen Währung. Das Erbe aus dieser Zeit sind 25 Jahre eines unterdurchschnittlichen Wachstums von ca. 2,3% im Zeitraum von 1981 bis 2005, nachdem das Land beinahe das ganze 20. Jahrhundert hindurch mit ca. 7% jährlich eine der höchsten Wachstumsraten weltweit aufweisen konnte.

In fast allen lateinamerikanischen Ländern gelangten seit Mitte der 1980er neoliberale Regierungen an die Macht, die den Richtlinien des IWF und der USA Folge leisteten und die Empfehlungen des Washington Consensus verwirklichten. Sie trafen auf günstige Konditionen, um ihre Vorschläge umzusetzen. Ein Grund war die Wirtschaftskrise. Eine andere Ursache waren die Strukturen, die in den 1970er Jahren durch den so genannten Marktradikalismus von verschiedenen Diktaturen implementiert wurden, so zum Beispiel in Chile und in Argentinien. Die Verschlechterung der sozialen Indikatoren der Region wie die Zunahme der Armut, die enorme Ungleichverteilung der Einkommen, die wachsende Arbeitslosigkeit und die soziale Exklusion führten zu einer Welle von Unzufriedenheit, die seit Anfang des neuen Jahrhunderts den Kontinent erschüttert. Sie brachte den Sturz der neoliberalen politischen Kräfte und den Aufstieg neuer Regierungen mit sich, die in unterschiedlichem Ausmaß versuchen, mit dem vorherrschenden Einheitsdenken zu brechen. Diese fortschrittlichen Projekte mussten sich sowohl der internen Opposition aus der mehrheitlich neoliberal orientierten herrschenden Klasse stellen, sowie mit dem US-amerikanischen Veto umgehen, das gegen jede autonome politische Alternative eingelegt wird. Als Beispiel lässt sich das gespannte Verhältnis der USA zur bolivarischen Regierung in Caracas nennen.

Der politische Prozess, der zur Machtübernahme von Regierungen mit engen Verbindungen zu linken Parteien und sozialen Bewegungen führte, wurde durch Unzufriedenheit mit der wachsenden Exklusion und der ansteigenden Armut – Früchte des neoliberalen Modells – ausgelöst. Innerhalb dieser Entwicklung festigte sich eine Stimmung zu Gunsten eines alternativen Weges. Diese Alternative war mit der Rückbesinnung auf ein Entwicklungsprojekt mit beschleunigtem Wachstum verbunden; diesmal jedoch unter dem Imperativ der Gerechtigkeit und mit dem Bewusstsein, dass eine politische Alternative nicht isoliert in jeder einzelnen Nation realisiert werden kann. Eine notwendige Vorbedingung würde demnach die sozioökonomische Integration Südamerikas sein. Hierfür wurde die Diplomatie der neuen Regierungen aktiv. Der MERCOSUR soll gestärkt und in Richtung einer Südamerikanischen Staatengemeinschaft erweitert werden, die als ein neues Forum gemeinsamer Entwicklung dienen soll.

Der regionale Integrationsprozess resultiert aus einer generellen Veränderung der räumlichen Dimension des Wirtschaftslebens. Die Fortsetzung der Kapitalakkumulation erfordert nun eine Ausweitung der Märkte jenseits nationaler Grenzen. Dies schlägt sich wiederum in zwei Veränderungen nieder: in der Internationalisierung des Kapitals und in der Bildung von kontinentalen Wirtschaftsblöcken (Faria 1998, 2004). In Südamerika gab es mit der Andengemeinschaft und dem MERCOSUR zwei Integrationsansätze. Ferner existierte mit der ALADI (Associação Latinoamericana de Desenvolvimento e Integração) ein diplomatisches Forum. Die Andengemeinschaft befindet sich in einer tiefen Krise, da einige ihrer Mitglieder bilaterale Freihandelsverträge mit den USA abschließen. Dies führte bereits dazu, dass Venezuela seine Mitgliedschaft aufkündigte und seinen Beitritt zum MERCOSUR formalisierte. Im Gegensatz dazu hat diese Zollunion zwischen Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay, abgesehen von einer immanenten Trägheit und ständigen Zickzackbewegungen, ihre Integrationsdynamik beibehalten und sogar die brasilianische und die argentinische Finanz- und Währungskrise (1999 und 2001/2002) überlebt. Der MERCOSUR schaffte es mit der Annäherung an potenzielle Partner, neue Impulse zu setzen. Neben Venezuela nehmen auch Bolivien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Mexiko und Peru als assoziierte Mitglieder oder als Antragsteller auf assoziierte Mitgliedschaft am Prozess teil.

Seit seiner Entstehung mit den argentinisch-brasilianischen Integrationsbestrebungen seit 1986 sah sich der Block im Cono Sur einer starken Opposition der USA gegenüber. Zusätzlich zum diplomatischen Druck und dem Versuch der politischen Isolation lancierten die USA einen eigenen Plan für eine amerikanische Freihandelszone. Die so genannte ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas) hätte mit ihrer Realisierung die Auflösung der südamerikanischen Zollunion bedeutet. Sie wäre mit der Abschaffung ihres schlagkräftigsten Instruments, des gemeinsamen Außenzolls, verschwunden. Die regionalen Regierungen sehen in der Konsolidierung des MERCOSUR eine Notwendigkeit, sei es, um auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu bleiben, sei es um die gemeinsame Entwicklung in Südamerika voranzutreiben. Deshalb waren sie es, die die Verhandlungen zur ALCA auf dem Gipfeltreffen Ende 2005 blockierten. In diesem Kontext bestanden der MERCOSUR und Venezuela bei einer amerikanischen Delegation, die kein Mandat zum Einlenken hatte, auf das Thema des Marktzugangs. Die Verhandlungen waren endgültig festgefahren.

Das Thema Außenhandel spaltet die südamerikanischen Länder, wie Amado Cervo (2005) herausstellt. Auf der einen Seite stehen die industrialisierten Staaten wie Brasilien, Argentinien und Venezuela. Für sie ist die Integration eine wichtige Bedingung für die Weiterentwicklung ihrer Ökonomien. Auf der anderen Seite stehen die kleineren Länder. Sie sind meist Exporteure von Primärgütern und leichter für die Angebote der USA zu gewinnen. Als Resultat dieser Situation liegt es im Interesse Brasiliens und seiner südamerikanischen Partner, die regionale Integration voranzutreiben und möglichst viele Verbündete zu gewinnen. Dies schafft jedoch zeitgleich Spannungen in den Beziehungen zu den USA. Ebenso ist es im brasilianischen Interesse, die internationale Ordnung in Richtung Multipolarität zu verändern und dadurch den Raum für Verhandlungen für die Länder der Peripherie zu verbessern. Man folgt der diplomatischen Tradition und schlägt Verhandlungen ein, ohne dabei die amerikanische Machtstellung jemals direkt herauszufordern. Diese Haltung resultiert aus dem, was ich den Pendelcharakter nenne, der die brasilianische Außenpolitik schon seit mehr als 60 Jahren auszeichnet. Es handelt sich um ein Pendeln zwischen einer engen Bindung an die USA und einer autonomen Haltung. In der gesamten Periode folgten Phasen von Autonomie und Verbündung mit den USA. Gegenwärtig erleben wir eine Phase der Unabhängigkeit. Sie schließt an eine Zeit der engen Anbindung an die USA an. Denn in den 1990er Jahren beteiligte sich die Regierung Fernando Henrique Cardoso als ein Nebendarsteller am neoliberalen Projekt der USA.

Die aktuelle Phase der autonomen brasilianischen Außenpolitik verfolgt einerseits mit größter Entschiedenheit Ziele, die zur Realisierung der nationalen Interessen beitragen. Andererseits scheint sie die nordamerikanische Hegemonialstellung nicht herausfordern zu wollen. Das Pendel verharrt nicht in den äußeren Positionen. Es bewegt sich fast ständig im Zwischenbereich. Brasilien rechnet damit, wie der Botschafter José M. Bustani (2004) betont, dass die internationale Hierarchie einer Veränderung unterzogen wird, und dass keine hegemoniale oder imperialistische Macht das Gleichgewicht der internationalen Ordnung gewährleisten kann. Seiner Meinung nach ist hegemoniale Stabilität ein Mythos. So hat das Land eine Strategie entworfen, die sich auf vier Aktionslinien stützt. Erstens: die Priorität der südamerikanischen Integration ausgehend vom MERCOSUR; zweitens: die Allianz mit den großen Entwicklungsländern wie China, Indien und Südafrika; drittens: die Anerkennung der besonderen Verbindungen mit Afrika und eine Ausweitung des Dialogs mit der arabischen Welt; und viertens: Verhandlungen mit den entwickelten Industriestaaten im Hinblick auf Marktzugang, Investitionen und Technologie.

Wenn die Härte des internationalen Systems tatsächlich ein Mythos ist, gäbe es für die brasilianische Außenpolitik keinen Grund, sich als Herausforderung gegenüber der Hegemonialmacht in dieser instabilen Ordnung zu etablieren. Es würde genügen, mit Gespür vorzugehen, um sich auftuende Möglichkeiten zu nutzen. Die Implementierung der vier Aktionslinien muss also keineswegs eine Herausforderung der US-amerikanischen Hegemonie darstellen, was nicht heißt, dass sich nicht bestimmte Konflikte herausbilden und stabilisieren können. Hier sind vor allem die mit der südamerikanischen Integration verknüpften Auseinandersetzungen von Bedeutung. Der Integrationsprozess wird vom Establishment der USA als antagonistisch zur Erhaltung der Vorherrschaft auf dem Kontinent wahrgenommen.

Hier besteht ein klarer Unterschied zwischen der brasilianischen Haltung und der Position Venezuelas unter der Regierung von Hugo Chávez. Obwohl Präsident Lula aus einer linken Partei kommt, würde er niemals einen antiimperialistischen Diskurs verfolgen, wie es sein venezolanischer Verbündeter macht. Diese Einstellung hat mit der historischen Tradition Brasiliens zu tun, wie die klassischen Analysen der brasilianischen Soziologie wie etwa von Raymundo Faoro (2001) nachweisen. In Brasilien fand ein Prozess der „Einigung der Eliten“ statt, der stets der Bewahrung ihrer gesellschaftlichen Herrschaft diente. Den Interessen des Volkes wurde selten mehr als nur eine marginale Bedeutung zugewiesen.[4]

Die PT hat es, um mit Lula als Präsidentschaftskandidaten 2002 an die Macht zu gelangen, vermieden, mit den vorherigen Strukturen zu brechen. Sie hat sich entschieden, sowohl die Interessen des Finanzkapitals als auch die Abhängigkeiten von den USA beizubehalten und lediglich marginale politische Veränderungen vorzunehmen. Diese Haltung der neuen Regierung wurde in Washington schon vor der Amtsübernahme ausgehandelt. In der Folge zeigten sich der Wille zum Beibehalten der neoliberalen Grundausrichtung und die Enttäuschung der sozialen Kräfte, die die neue Regierung unterstützt haben, in voller Klarheit.

Der brasilianische Kapitalismus

Der Entwicklungspfad, der von Brasilien und auch von beinahe ganz Lateinamerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgt wurde, kann als Folge der Krise der Exportorientierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstanden werden. Mit dem gescheiterten Modell hatten einige Länder in der Region ein höheres Pro-Kopf-Einkommen erreicht, welches aus erhöhtem Wachstum resultierte. Das wurde begünstigt durch die engen Verbindungen zu Großbritannien, dem damaligen Zentrum des internationalen Systems und basierte auf Lebensmittelexporten und Rohstofflieferungen für die englische Wirtschaft. In den 1920er Jahren lief dieses Modell gleichzeitig mit der englischen Hegemonialstellung aus. Die Große Depression und die Nachkriegszeit eröffneten den Weg einer alternativen importsubstituierenden Industrialisierungsstrategie, die als Reaktion auf den drastisch schrumpfenden Weltmarkt für Rohstoffe Anklang fand. Gleichzeitig öffnete sich mit dem Aufstieg der USA zur Hegemonialmacht Raum für ein neues Modell der außenwirtschaftlichen Einbindung Südamerikas. Anders als die britische Vormachtstellung stützt sich die US-amerikanische Dominanz eher auf die Durchdringung und Dominierung der Märkte der Zentren und der Peripherie durch ihre transnationalen Unternehmen, als auf die Kontrolle der Handelsbeziehungen (Arrighi 1996).

Die neue internationale Ordnung brachte Lateinamerika einen massiven Zufluss ausländischer Investitionen, der einen wichtigen Beitrag zum Prozess des beschleunigten Wachstums darstellte. Dieser Prozess war auf dem Subkontinent der Ausdruck dessen, was oftmals als das „Goldene Zeitalter“ des Kapitalismus bezeichnet wird. Das ausländische Kapital kontrollierte weite Teile des sich im Aufbau befindenden produktiven Sektors. Celso Furtado hat mit Bezug auf dieses Phänomen der Dominanz ausländischer Unternehmen in der lateinamerikanischen Industrialisierung die entscheidende Frage gestellt: „Bis zu welchem Punkt ist es unter diesen Bedingungen angemessen, solche Ökonomien nach den Gesichtspunkten eines nationalen Wirtschaftssystems zu analysieren?“ (Furtado 2003: 51)

Soziologisch gesehen hatte die Außenabhängigkeit besondere Folgen für die Herausbildung der nationalen Bourgeoisie. Ein beträchtlicher Teil der herrschenden Klasse verwaltet ausländisches Kapital. Diese Kapitalfraktionen haben außerdem hohe Positionen in den Vertretungsorganisationen der nationalen Unternehmerschaft inne. Wie richtigerweise von der lateinamerikanisch-marxistischer Theorietradition angedeutet wurde (vgl. Cardoso 1995), entstand mit der assoziierten Entwicklung eine neue Form der Abhängigkeit. Sie löste die alte Subordination unter die zyklischen Veränderungen des Marktes ab. Die neue Abhängigkeit basierte darauf, dass die Entscheidungszentren der nationalen Wirtschaft in der Peripherie den Weisungen der Zentrumsstaaten unterworfen sind. Die transnationalen Unternehmen dominieren den dynamischen Kern der Volkswirtschaften von einem Punkt aus, der es ihnen ermöglicht, die Kontrolle über den Prozess der Kapitalakkumulation auszuüben. Als Beispiel eignen sich bestens die Automobilindustrie, aber auch andere wichtige Wirtschaftszweige wie die chemische Industrie, die Elektroindustrie oder die Pharmaindustrie. Die privaten nationalen Unternehmen befinden sich entweder in den weniger dynamischen Sektoren wie der Textil- und der Lebensmittelindustrie, oder nehmen, sofern sie sich in den dynamischen Bereichen behaupten können, untergeordnete Positionen, etwa als Lieferanten für die ausländischen Firmen, ein. Exemplarisch hierfür ist die Metallindustrie im Raum São Paulo, die die multinationalen Montagestätten der Automobilindustrie beliefert. Die dominierenden internationalen, größtenteils US-amerikanischen Kapitalfraktionen finden nur ein leichtes Gegengewicht im Staatssektor, der sich auf die Rohstoffförderung und die Infrastruktur sowie die Stahlindustrie, die Petrochemie und die Energie- oder die Kommunikationsindustrie beschränkt. Dieses Wachstumsmodell mit der Bezeichnung „nacional-desenvolvimentismo“ (nationale Entwicklungsausrichtung) stützt sich auf die drei Säulen des nationalen, des ausländischen und des staatlichen Kapitals (Oliveira 1977; Tavares 1972). Die konservative Modernisierung wird vom Staat koordiniert und basiert auf der Schlüsselposition des ausländischen Kapitals. Der Prozess konserviert die sozial ausschließenden Strukturen, die er lediglich vom archaischen Landleben ins moderne Stadtleben überträgt, führt aber gleichzeitig einen grundlegenden Wandel der brasilianischen Gesellschaft herbei. Dessen dramatischster Effekt war eine beschleunigte Urbanisierung. Aufgrund der Verstädterung hat sich der Anteil der Landbevölkerung in nur 60 Jahren von 68,8% im Jahr 1940 auf 18,8% im Jahr 2000 reduziert hat.[5] Der Motor für diese Entwicklung war das Industriewachstum, das in dieser Phase größtenteils bei etwa 10% pro Jahr lag. Selbst angesichts sinkender Wachstumsraten in den 1980er Jahren trug die Industrie 1985 42,3% zum BIP bei, gegenüber 11,1% im Agrarsektor und 46,6% im Dienstleistungsbereich.[6]

Die Krise und die Entscheidung für den Neoliberalismus Anfang der 1990er Jahre veränderten diese Prozesse zwar in gewisser Weise, aber verwirklichten keine Veränderung der Produktionsstruktur. Durch das niedrige Wachstum, die Öffnung des Außenhandels, die Liberalisierung der Finanzmärkte und die Privatisierungen wurde die Leistungsfähigkeit der Industrie enorm beeinträchtigt. In Folge sank der Anteil der Industrie am BIP stetig, bis er 2006 lediglich 37,3% betrug. Diese Abnahme vollzog sich auch im Agrarsektor, der zur selben Zeit auf ein Volumen von 7,7% des BIP schrumpfte. Die Einbußen dieser beiden Teile wurden vom Dienstleistungssektor vereinnahmt, der auf 55% anwuchs. Die substantielle Veränderung bestand in der Abnahme der Beteiligung des staatlichen Kapitals durch die Privatisierungen. Es kam zur Privatisierung des Kommunikationssektors, in dem der Staat bis dahin eine Monopolstellung eingenommen hatte. Dasselbe geschah mit der Stahlindustrie, mit der Petrochemie, mit der Luftfahrt und in abgeschwächter Form, mit dem Energie- und Transportsektor.

Dieser Prozess hatte zwei entscheidende Effekte. Der erste, der bereits im Bezug auf die Dependenzproblematik erwähnt wurde, besteht darin, dass sich dem ausländischen Kapital kein Gegengewicht mehr entgegen stellt, weil die wirtschaftliche Bedeutung des staatlichen Kapitals wesentlich untergraben wurde. Der zweite Effekt war eine institutionelle Veränderung der ökonomischen Regulierungsmechanismen, die bis dahin von den staatlichen Kräften definiert wurden. Diese folgen nun den durch Managementmethoden definierten privaten Kriterien.[7]

Das brasilianische Modell ist in seiner Form noch ausgeprägter als die gleichartigen lateinamerikanischen Entwicklungspfade und ist berüchtigt für sein hohes Maß an gesellschaftlicher Exklusion. Dies manifestiert sich nicht nur in einer extremen Ungleichverteilung der Pro-Kopf-Einkommen, deren Indikatoren lediglich günstiger sind als in einigen sehr armen afrikanischen Ländern, sondern auch in der effektiven Reichtumsverteilung. Die Lohnarbeiter erhalten nur 35,6% des nationalen Einkommens. Diese Einkommenskonzentration führt dazu, dass die Mehrheit der Einwohner in relativer Armut lebt. Die Ergebnisse der letzten Umfrage zu den familiären Haushaltseinkommen der Jahre 2002 und 2003 zeigen diese Entwicklung auf. Damals gaben 58,5% der Familien an, mit weniger als US$ 400 monatlich auskommen zu müssen, während die Anzahl der Familien mit einem Einkommen über 2000 US$ nur 3,6% ausmachte. Diese Situation resultierte in einer sehr geringen Dynamik auf dem Binnenmarkt, dessen Ausweitung primär ein Ergebnis des Urbanisierungsprozesses war. Nachdem dieser Prozess ausgelaufen war, wurde die brasilianische Wirtschaft mit dem klassischen Problem nicht ausreichender effektiver Nachfrage konfrontiert, was durch die Schuldenrückzahlungen und die Haushaltskrise noch verschärft wurde. Die Schuldentilgung und die Krise reduzierten die Investitionsrate und nahmen somit die Stagnation und das geringe Wachstum vorweg, das die brasilianische Volkswirtschaft seit 1981 erlebt.

Die Privatisierung und die schwindende Bedeutung der Industrie haben das Potenzial des Binnenmarktes verringert und die einheimischen Unternehmen veranlasst, sich für die zweitbeste Alternative zu entscheiden, nämlich den Export. Das Ergebnis dieses Vorgangs ist ein – bei einer Wachstumsrate im Exportbereich von 20% pro Jahr – geringer Beitrag zum Gesamtwachstum des BIP, der lediglich die mäßige Steigerungsrate von 2% absichert. Ein weiterer Effekt der ausschließlich auf monetäre Stabilität fokussierten neoliberalen Reformen war die Schaffung günstiger Bedingungen für die Vorherrschaft des Finanzkapitals innerhalb der brasilianischen Wirtschaft. Die Kombination aus einer strengen Fiskalpolitik und hohen Zinsen ermöglicht den Finanzrentiers, sich einen wachsenden Teil des nationalen Einkommens zu sichern, der 2005 etwa 30% betrug (Bruno 2006). Dies geht wiederum zu Lasten des Konsums und der Investitionen.

Die brasilianische und lateinamerikanische wirtschaftliche Entwicklung wurde zu Recht als ein unterbrochener Aufbauprozess (Furtado 1992) oder als eine unvollständige Industrialisierung (Fajnzylber 1988) beschrieben. Sie war weder in der Lage, den Abstand zu den zentralen Industrienationen in der Einkommensverteilung und im Lebensstandard zu verringern, noch ein Wirtschaftssystem zu etablieren, das eine vom Weltsystem relativ unabhängige Eigendynamik aufweist.

Die brasilianische Gesellschaft und ihre Konflikte

Eine Gesellschaft, die von großer Ungleichheit geprägt ist, mit einem Maß an sozialem Ausschluss, das ca. ein Drittel ihrer Mitglieder fernab jeder Möglichkeit zum Wohlstand stellt; eine Gesellschaft, in der ein sozialer Aufstieg durch Lohnarbeit seit nunmehr 25 Jahren verbaut ist, aber die im gleichen Moment ein offenes politisches System mit Bürgerrechten, demokratischen Freiheiten und freien Wahlen garantiert – wenn diese auch durch wirtschaftliche Macht und Marketing beeinflussbar sind; eine solche Gesellschaft muss zwangsläufig ihre Widersprüche in sozialen Konflikten ausdrücken, die gelegentlich eskalieren.

Der erste und wohl bekannteste Konfliktherd ist die Eigentumsfrage. Hier ist der Kampf der MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, Landlosenbewegung) für eine Agrarreform sehr bedeutend. Dieser Konflikt ist politischer Natur und präsentierte sich in jüngster Zeit in einem Licht extremer Gewalt. Obgleich seine wirtschaftliche und soziale Bedeutung infolge des hohen Urbanisierungsgrads beschränkt sein mag, hat der Kampf ein großes Maß an politischer Ausstrahlungskraft. Das liegt an dem unverhältnismäßigen Einfluss des Agrobusiness und des Großgrundbesitzes auf die nationale Politik und an der Strategie der MST. Sie beruht auf direkter Aktion und zivilem Ungehorsam mit Landbesetzungen und anderen Aktionen mit großem öffentlichen Widerhall. Die MST besitzt wegen ihrer disziplinierten organisatorischen Struktur mit mehreren Hunderttausenden Mitgliedern eine enorme Mobilisierungsfähigkeit.

Ferner gibt es einen weiteren Konflikt, der sich um die Eigentumsproblematik dreht und sich inmitten der großen Städte abspielt. Dort formieren sich Bewegungen zum Kampf für Obdach und Wohnraum. Diese Konflikte äußern sich jedoch eher schubweise, da die Bewegungen, die sie führen, ein niedrigeres Maß an Organisation besitzen, wenngleich die sozialen Probleme unverhältnismäßig groß sind. Ungefähr 20% der metropolitanen Bevölkerung leben in „favelas“ in einer prekären und irregulären Situation. Sie haben keine Eigentumsrechte auf ihren Wohnraum und infolgedessen keinen Anschluss an Infrastruktur oder öffentliche Dienstleistungen.

Ein zweiter Konfliktpunkt ist mit der Einkommensverteilung verknüpft. Die Kämpfe für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen haben den Demokratisierungsprozess in Brasilien angestoßen. Sie führten zu einer Neubildung der Gewerkschaftsbewegung und bildeten damit die Grundlagen für die Entstehung der PT. Die Auseinandersetzung hatte ihren Ursprung in der wachsenden Ungleichheit, die mit dem steigenden Wirtschaftswachstum einherging, besonders zur Zeit der Militärdiktatur (1964-1985).[8] Während der 1990er Jahre erzeugte die Arbeitslosigkeit, die im vorherigen Jahrzehnt stark angewachsen war und sich weiter vergrößerte und die Welle der neoliberalen Reformen die zur Reduzierung der Arbeitnehmerrechte führte, ein abgeschmacktes Gebräu. Dazu kamen die orthodoxe Wirtschaftspolitik und die Umstrukturierung der Unternehmen in verschiedenen Sektoren. Arbeitsplatzabbau und größere Kontrolle der Beschäftigten dienten als Mittel, um die Gewerkschaftsbewegung einzudämmen. Erst nach 2003, in einem Klima der abnehmenden Repression gegen die sozialen Kämpfe, kam es zu einem gewissen Wachstum, einer Verbesserung beim Angebot formeller Arbeitsplätze und einer Unterbrechung der Abwärtsspirale in der Einkommensentwicklung. Dies führte dazu, dass die letzten Statistiken eine Verbesserung der Einkommensverteilung unter den Arbeitern verzeichnen konnten.[9]

Gleichzeitig war die Fortführung der neoliberalen Politik verantwortlich für eine Ausweitung der Arbeitslosigkeit. Die politische Neuausrichtung basiert auf freiem internationalen Kapitalverkehr, auf Steuererhöhungen, auf der Zurückhaltung bei den öffentlichen Investitionen, auf den arbeitnehmerfeindlichen Reformen, auf die Umstrukturierung der Industrie, von Teilen des Dienstleistungssektors sowie des Banken- und Kommunikationssektors. Die Reformen schufen das Phänomen der Prekarisierung. Es äußert sich in sinkenden Löhnen für reguläre Arbeit. 2003 verdiente ein Arbeiter in São Paulo, dem ökonomischen Herzen des Landes, für die gleiche Arbeitsleistung nur noch 51,6% des Lohnes, den er 1985 verdient hatte.[10] Die bescheidene Verbesserung der letzten Jahre führte Ende 2005 zu einem Anstieg auf 54,1%.

Die positive Entwicklung der Einkommensverteilung resultierte mehr aus der Umsetzung der Regierungsprogramme im Bereich der sozialen Unterstützung und der Sozialfürsorge als aus der geringen Lohnerhöhung. Das Programm für ein Zusatzeinkommen für arme Familien (Bolsa Família), erreichte im Jahr 2006 neun Millionen Haushalte. Noch bedeutender ist die Änderung der Sozialversicherung. Der Beitrag, der an 24 Millionen Menschen monatlich ausbezahlt wird, hat den Mindestlohn als Basis und betrug 2006 US$ 153, während im Rahmen des Bolsa Família-Programms durchschnittlich US$ 26 im Monat pro Familie ausgezahlt werden.

Dies führt uns zum dritten Konfliktgegenstand der sozialen Auseinandersetzungen im heutigen Brasilien. Es handelt sich um die wirtschaftliche Stagnation nach dem Zusammenbruch des Entwicklungsmodells der Importsubstituierenden Industrialisierung. Denn der Neoliberalismus scheiterte daran, ein alternatives Wachstumsmodell hervorzubringen. Das Versprechen, durch uneingeschränkte Freiheit des Privatkapitals und eine fortschreitende Internationalisierung der Wirtschaft das Vorstadium zu einem neuen Wohlstandszyklus zu erzeugen, wurde nicht gehalten. Die Gründe für diese Situation sind nicht schwer auszumachen. Sie liegen in der immensen Einkommensverschiebung zu Gunsten des Finanzkapitals. Im Gegensatz zu den anderen Konflikten ist der Kampf um die Entwicklung keine Klassenauseinandersetzung, da die Bourgeoisie in ihrer Haltung zu diesem Problem gespalten ist. Zum einen gibt es eine Gruppe, deren Zugang zum Mehrwert von ihrem Einkommen aus dem Produktionssektor abhängig ist. Das ist bei den kleinen und mittleren Betrieben, aber auch bei einigen Großbetrieben der Industrie und der Agrarwirtschaft der Fall. Auf der anderen Seite stehen die eigentlichen Kapitalisten. Es handelt sich um eine Gruppierung, die sich aus Großbanken, großen Unternehmen und einem Netz von etwa 20000 reichen Familien rekrutiert. Diese Familien verfügen über große Mengen an liquidem Geldkapital. Sie nutzen ihre Mittel auf den Finanzmärkten, indem sie von den weltweit höchsten Zinssätzen profitieren, die aus der Politik der brasilianischen Zentralbank resultieren. Schätzungsweise 70% dieser Finanzgewinne beruhen auf Zinszahlungen der öffentlichen Hand (Pochman 2004). Das Gewicht dieser Renditen erstickt das Wirtschaftswachstum des brasilianischen Kapitalismus im Keim.

In diesem Konflikt liegen die Interessen der Volksklassen und die der Industrieunternehmen nahe beieinander, da jegliche Verbesserung der Situation abhängig ist von einem substantiellen Wachstum des Arbeitsmarktes. Das kann wiederum nur durch eine Kombination aus der Zunahme der privaten Investitionen und einer Ausweitung der Regierungsausgaben erreicht werden. Aus diesem Grund findet die Kritik am stagnativen Effekt der neoliberalen makroökonomischen Politik ein lautes Echo. Die Macht des Finanzkapitals hat die Umsetzung jeder entwicklungspolitischen Alternative verhindert. Durch das Ausüben der Kontrolle über die Zentralbank, das Planungsministerium und das Finanzministerium; durch die Fähigkeit der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung, aber auch durch die engen Verbindungen zu den etablierten Parteien, die bis zur Kooptation des Mehrheitsflügels der PT reichen, ist der Einfluss des Finanzkapitals immens.

Fazit: Der Staat im Zentrum der Auseinandersetzung

Anders als uns eine voreilige Darstellung der „Globalisierung“ glauben machen will, erlebt die Welt die Renaissance der nationalen Interessen. Sie wurde von der Konkurrenz unter den Nationen geschaffen, die ausgerechnet durch die kapitalistische Internationalisierung hervorgerufen wurde. Diese Entwicklung zeigt mit aller Deutlichkeit die Notwendigkeit auf, dass nationale Kapitalfraktionen den Staat als Sprungbrett benutzen, um ihre Weltmarktanteile zu vergrößern. Nach Robert Cox (1999) existieren drei Voraussetzungen für eine Hegemonialstellung im internationalen System. Das erste Merkmal sind die materiellen Kapazitäten. Sie sind sowohl Konstitutionsbedingung für die militärische Schlagkraft als auch für das wirtschaftliche Führungspotenzial. Das zweite Element sind die Ideen. Sie bestimmen darüber, ob ein Land ihre Werte vermitteln kann und ob die restlichen Nationen diesen Normen folgen. Als drittes ist ein institutionelles Element notwendig. Es handelt sich um die Fähigkeit der Hegemonialmacht, ihre Führungsposition durch den Einfluss auf die supranationalen Institutionen zu erhalten und die internationalen Beziehungen zu gestalten. Wie ich in einem anderen Aufsatz ausgeführt habe, „hängen die Möglichkeiten dieses hegemonialen Anspruchs auch von den territorialen Dimensionen und von der Bevölkerungsgröße eines Nationalstaates ab. In diesem Streit ist kein Platz für die Kleinen“ (Faria/Ferrari 2006: 14).

In dieser Auseinandersetzung stellt sich den südamerikanischen Staaten mit der bereits erwähnten Spaltung ihrer nationalen Bourgeoisie ein Hindernis in den Weg. Der Industrialisierungsprozess hat sich als Internationalisierung der Produktionsstrukturen und als eine Verfestigung von Abhängigkeitsbeziehungen herausgestellt. Die Krise dieses Modells und die freiwillige Anpassung an den Washington Consensus hemmen die Fähigkeit der nationalen Bourgeoisie, einen autonomen Entwicklungsprozess einzuleiten, um ihren Spielraum auf dem Weltmarkt zu erhöhen. Das Subjekt einer Überwindung dieser Blockaden ist bisher nicht bekannt.[11]

Wer diese Subjektrolle einnehmen möchte, muss sich für die Stärkung des Nationalstaates einsetzen. Es müssen drei Probleme angegangen werden, die nicht ohne intensiven politischen Kampf gelöst werden können. Das erste ist eine Steuerreform, wie Atilio Borón (2003) sagt, „die Mutter aller Schlachten“. Um sie durchzuführen, muss man das Veto der Reichsten überwinden. Nur dann kann der Staat ein neues Entwicklungsmodell der Gleichberechtigung implementieren.

Das zweite Thema ist ebenfalls mit der Problematik der Finanzierung und der Einkommensverteilung verbunden. Es dreht sich um die Umwandlung der Rolle der öffentlichen Verschuldung, die seit 1993-4 den Haupteinnahmemechanismus der Kapitalakkumulation im Lande darstellt. Die Senkung der Zinszahlungen, die Verlängerung der Zahlungsfristen, eine höhere Besteuerung der Gewinne und die Wiedereinführung von Auflagen für die ausländischen Investoren sind notwendige Vorbedingungen für eine neue Rolle des Staates.

Das dritte Thema ist die Transformation der internen Struktur und der Verwaltung des Staates, die einen Demokratisierungsprozess notwendig macht. Die brasilianische Regierung leitet einen Verwaltungsapparat, der zum Teil von privaten Interessen gesteuert wird. Dieser Mechanismus wurde durch die neoliberalen Reformen verschärft, zum Beispiel im Verhältnis der Zentralbank zum Finanzsystem. Er beruht teilweise auf einem Modell des Regierens, das durch Verhandlungen aufrechterhalten wird und durch Korruption gekennzeichnet ist. Die formale Demokratisierung des Landes wurde in der Verfassung von 1988 festgeschrieben. Sie prallt jedoch mit der Vertiefung der sozialen Ungleichheit und mit den zerstörerischen Auswirkungen der Wirtschaftskrise zusammen. Dies problematisiert die Erhaltung grundlegender republikanischer Freiheiten. Gleichzeitig ist die heutige brasilianische Politik reich an Erfahrungen mit partizipativer Demokratie. Das beste Beispiel ist der Beteiligungshaushalt von Porto Alegre. Die Ausweitung der Mechanismen der öffentlichen Beteiligung auf Bundesebene ist entscheidend für die Erhaltung republikanischer Institutionen.

Während der Wahlen 2002 wurden diese Themen debattiert und der Kandidat Lula hat sich deren Realisierung verpflichtet. Seine Regierung hat sich noch vor der Amtsübernahme durch die getroffenen Vereinbarungen bei seinem ersten Treffen in Washington als eine einzige Enttäuschung erwiesen. Durch den damaligen Vertrag mit dem IWF wurden die Interessen des Finanzkapitals und die Beibehaltung des neoliberalen Kurses festgeschrieben. Abgesehen von einigen Fortschritten, wie dem Verzicht auf Repression gegen die sozialen Bewegungen und der unabhängigen Außenpolitik, haben die sozialen Kräfte Brasiliens eine schwere Abfuhr erlitten. Die Strömungen, die an einer Veränderung der Gesellschaft interessiert sind, finden sich heute, während der Amtszeit der PT, weitab einer Subjektrolle bei einer Transformation, die doch so sehr notwendig wäre. Deswegen ist Brasilien, abgesehen von seiner wichtigen Präsenz auf der internationalen Bühne wie in der Organisation der G20, weit davon entfernt, die Weltordnung entscheidend mitzuprägen und ein Gegengewicht zur US-amerikanischen Machtstellung zu bilden, wie dies zum Beispiel China oder Russland tun.

(Übersetzung aus dem Brasilianischen: Sebastian Lang)

Literatur

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[1] „Wenn ich mir dieses vererbte Gefängnis ansehe, möchte ich mich aus dieser prekären Situation befreien, wo die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer, und jeder weiß, dass der Grund ist, dass der, der oben ist, aufsteigt und der unten absteigt.“

[2] Unter den so genannten BRICS-Staaten macht Brasilien die Ausnahme, da dessen Wachstum seit 25 Jahren unter dem Weltdurchschnitt liegt.

[3] Der Ausdruck stammt vom Ökonomen John Williamson und bezeichnet ein wirtschaftspolitisches Maßnahmepaket, das von der Regierung der USA und vom IWF Ende der 80er zur Anwendung auf Lateinamerika empfohlen wurde (Williamson/Kuczynski, 2003).

[4] Ein ähnliches Phänomen wurde von Gramsci bei seiner Analyse der italienischen Gesellschaft während des Prozesses des „rissorgimento“ herausgearbeitet. In der Literatur wurde das gleiche Moment von Lampedusa in seinem Klassiker „Il Gattopardo“ beschrieben.

[5] Alle Daten stammen aus Erhebungen des IBGE, dem Brasilianischen Institut für Geographie und Statistik, das die demographischen Messungen, die Schätzungen des BIP und die übrigen sozioökonomischen Statistiken erhoben hat, die hier zitiert werden.

[6] Dieses Phänomen, das in der Literatur als „Anschwellen des tertiären Sektors“ bezeichnet wird, ist typisch für unterentwickelte urbanisierte Volkswirtschaften. Der Grund ist ein mangelndes Schritthalten des Arbeitsplatzangebotes mit der Zunahme der urbanen Bevölkerung

[7] Die Electrobrás folgte zum Beispiel als staatliches Unternehmen den Vorgaben des Bergbau- und Energieministeriums, dem es untergeordnet war. Nach den neoliberalen Reformen wurde die Regulierung einem unabhängigen Gebilde, der ANEEL (Nationale Agentur für Energie) übergeben. Dieses definiert anhand unspezifischer Vorgaben aus dem Ministerium verbindliche Regeln. Das Ministerium hat nur sehr geringen Einfluss auf die Unternehmen der Branche. Die Electrobrás selbst, die noch immer einen wichtigen Anteil an der Energiegewinnung Brasiliens hat, wird von marktwirtschaftlichen Normen, die die ANEEL bestimmt, beeinflusst. Diese Regeln verpflichten die Electrobrás, sich wie ein privates Unternehmen zu verhalten, mit der Leitvorgabe der Gewinnmaximierung.

[8] 1960 war das Einkommen der reichsten 10% der Bevölkerung 34mal so hoch wie das der ärmsten 10%. Gegen Ende der Diktatur 1980 stieg die Differenz auf den Faktor 47. Nach dem ersten Jahrzehnt der Krise stieg die Ungleichheit weiter und führte 1991 zu einem beeindruckenden 78mal so großem Einkommen der reichsten 10% gegenüber den ärmsten 10%. (Estatísticas do século XX, 2003)

[9] Die jährliche nationale Haushaltsumfrage (PNAD) des IGBE hat eine Senkung des Gini-Koeffizienten zur Einkommensverteilung von 0,568 im Jahr 2001 auf 0,547 im Jahr 2004 nachgewiesen. Im Jahr 1991 hatte der Koeffizient seinen bisherigen Höchststand von 0,638 erreicht.

[10] Dieser Wert wurde ermittelt von der Arbeitsmarktstudie (Pesquisa de Emprego e Desemprego) der DIEESE, dem Institut für Statistik und sozioökonomische Studien, das mit den Gewerkschaften in Verbindung steht.

[11] Für die marxistischen Kritiker der Dependenztheorie wäre dieses Subjekt die Arbeiterklasse zusammen mit den Landarbeitern (Cardoso 1995). 30 Jahre nach der Formulierung dieser Thesen fordern die sozialen Veränderungen in Lateinamerika eine neue Diskussion dieses Themas. Es scheint auszureichen, sich an die starke Verringerung der Anzahl Industriearbeiter zu erinnern, die von 1990 bis 2002 von 7,2 Mio. auf 6.6 Mio. gesunken ist. Gleichzeitig ist die Zahl der gesamten Arbeiterschaft von 37,7 Mio. auf 43,2 Mio. gestiegen (Daten: IBGE).