Die Herausgeber des Bandes „Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker“[1] stellten 2001 fest, um Abendroth sei es nach seinem Tode und nach dem Zusammenbruch der „staatssozialistischen Systeme“ still geworden.
Ihr Buch durchbrach diese Stille eindrucksvoll mit den in ihm enthaltenen biographischen und bibliographischen Beiträgen. In ihrem Vorwort zeigten sich die Herausgeber überzeugt, „dass wir in Deutschland über viel zu wenig radikale, demokratische Traditionen verfügen, um auf das Beispiel und den Ertrag des Lebenswerkes von Wolfgang Abendroth verzichten zu können.“
Fünf Jahre später spricht viel dafür, dass diese Einsicht an Boden gewinnt; zum Teil wird bereits eine „Abendroth-Renaissance“ beobachtet.
Ansätze dazu gibt es. Zu Abendroths hundertstem Geburtstag fanden in Marburg und Frankfurt zwei Konferenzen statt: In Marburg das Symposium „Politische Wissenschaft – Arbeiterbewegung – Demokratie“ und in Frankfurt, mitveranstaltet von der IG Metall: „Arbeiterbewegung – Wissenschaft – Demokratie“, die mit über 300 Teilnehmern besser besucht war als die Veranstalter erwartet hatten. Besonders über die Frankfurter Tagung wurde auch in der überregionalen Presse berichtet. Vom Marxistischen Forum Sachsen, dem RotFuchs Förderverein. e.V., Regionalgruppe Leipzig und der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal wurde in Leipzig eine Konferenz abgehalten unter dem Motto „Gegenmacht schaffen“.
In allen Publikationsorganen, die dem linken Lager zugeordnet werden können, wurde mit zahlreichen Beiträgen Leben und Werk Abendroths gewürdigt.
Rechtzeitig zum Geburtstag noch erschien die umfangreiche Teilbiographie von Andreas Diers „Arbeiterbewegung – Demokratie – Staat. Wolfgang Abendroth. Leben und Werk 1906 –1948“,[2] in deren Verzeichnis der Sekundärliteratur zugleich eine Auflistung von Literatur zu Abendroth enthalten ist.
In Frankfurt konnte Michael Buckmiller den ersten von acht mit je etwa 600 Seiten geplanten Bänden der Werkausgabe von Wolfgang Abendroth vorstellen.[3]
Es gibt somit die begründete Hoffnung, dass Abendroths Denken und Handeln von der älteren Generation erinnert und von den Jüngeren entdeckt, aktualisiert und kritisch weiterentwickelt wird.
Aber wo Hoffnung ist, wächst auch die Gefahr
So interessant, anregend, gelegentlich sogar aufregend es ist, wenn bisher unbekannte Details der Lebensgeschichte Abendroths aufgespürt werden: Er selbst hätte dergleichen Bemühungen zwar mit der ihm eigenen Milde nicht ohne Verständnis zur Kenntnis genommen, aber mit der ihm auch eigenen Entschiedenheit darauf verwiesen, dass es eigentlich andere Probleme gäbe, denen man sich doch zuwenden möge. Künftige Abendroth-Forschung sollte sich auch in ihrer spezifischen Forschungsarbeit an Abendroth orientieren: „Die erschreckende Versumpfung der Theorie in der Zweiten Internationale, die Marx- und Leninphilologie der Komintern, in deren Diskussionen nicht Gedanken gegen Gedanken, Beweis gegen Beweis, sondern Zitat gegen Zitat gewogen wird, sind kaum geeignet, der marxistischen Methode und Theorie Anhänger zu werben und die ‚wissenschaftliche‘ Bearbeitung von Schulzeugnissen und Küchenzetteln Marx’ und Engels’ ... wird dem Mangel an Nachwuchs, über den alle marxistischen Parteien und Gruppierungen zu klagen haben, gewiß nicht abhelfen.“[4]
Allererst gilt es, die Kenntnis des Werks Abendroths zu fördern, nicht die seiner Lebensdaten. So sehr erfreulich das große Vorhaben der Herausgabe der gesammelten Schriften Abendroths ist und so gewiss diese Bände die Forschung bereichern werden: Mit ihrem Preis und ihrem Umfang empfehlen sie sich z.B. bei Studenten oder Gewerkschaftern nicht zur Lektüre. Um der Akademisierung Abendroths vorzubeugen, sollten der großen Werkausgabe bald Neuauflagen seiner immer noch aktuellen kleineren Schriften in handlichen Studienausgaben beigefügt werden.
Der Erhebung Abendroths in den Akademikerhimmel bei gleichzeitiger Verbannung in die Archive und in die engen Zirkel sich selbstbeobachtender Abendroth-Experten steht eine ganz andere, objektiv wohl größere Gefahr gegenüber: Die Bezugnahme auf die Person Abendroth als Alibi, wenn es gilt, den eigenen Opportunismus zu verdecken sowie die Gefahr der Nutzung seines Werks, unter Zerstörung seiner Einheit, als Materiallager, um sich im politischen Kampf auf bequeme Weise mit den jeweils genehmen Zitaten zu versorgen.
Wolfgang Gehrcke, MdB der Linkspartei, und Jutta v. Freyberg ist gewiss voll zuzustimmen, wenn sie schreiben: „Ohne Wolfgang Abendroth ist die Herausbildung einer unabhängigen Neuen Linken in der Bundesrepublik undenkbar. Die Neue Linke verfügt nicht über viele geschichtliche Persönlichkeiten von seinem Format. Es ist für die Linke höchste Zeit, Professor Abendroth neu zu entdecken.“[5] Viele Linke haben schon seit langem Abendroth für sich entdeckt und entdecken ihn auch, wie es bei jedem bedeutenden Denker erforderlich ist, immer wieder aufs Neue.
Falls aber mit „der Linken“ die Partei gemeint sein soll, deren Vertreter im Bundestag Gehrcke ist, dann ist objektiv die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass Abendroth auch dazu dienen soll, linke Kräfte einzufangen, um der Partei den Weg zur Sozialdemokratie und zu den ersehnten Regierungsämtern zu erleichtern.
Gewiss gibt es auch bei dieser Partei und ihren Anhängern viele, die es ernst meinen mit Marx, Engels, dem Sozialismus und eben auch Abendroth, aber wie von ihren angeblichen „Vordenkern“ mit „geschichtlichen Persönlichkeiten“ umgesprungen wird, hat Michael Brie erst kürzlich eindrücklich verdeutlicht, indem er Rosa Luxemburg zitierte, um sein Abstimmungsverhalten im Europaparlament im Zusammenhang mit einer Anti-Kuba-Resolution zu rechtfertigen.
Uwe-Jens Heuer hat dann in einem längeren Beitrag[6] diese Inanspruchnahme Rosa Luxemburgs und die Zitatenmontage Bries zurückgewiesen. Möge Abendroth solche Art der „Wiederentdeckung“ durch die Bries und ähnliche bedenkliche „Vordenker“ erspart bleiben.
Indes, die Publikationen und die Veranstaltungen anlässlich des hundertsten Geburtstags von Abendroth haben sehr deutlich gezeigt, dass die ernsthafte, auf die wissenschaftliche Erschließung und Aktualisierung des Werks von Abendroth gerichtete Arbeit die Abendroth-Renaissance trägt.
Will man Abendroth gerecht werden, dann darf der wissenschaftliche Meinungsstreit bei der Beschäftigung mit ihm niemals ausgeschlossen werden, er ist vielmehr unbedingt erforderlich; selbstverständlich wäre für ihn auch, dass die Auswahl der Themen in praktischer, politischer Absicht erfolgt und dass die Interpretation bei allem Streben nach richtiger, objektiver Erkenntnis das Erkenntnisziel und den eigenen Standort benennt.
[1] Friedrich-Martin Balzer, Hans Manfred Bock, Uli Schöler, Hrsg., Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker. Bio-bibliographische Beiträge. Opladen, 2001, Vorwort. S. auch ebenda: Uli Schöler, Wolfgang Abendroth – Fragen an einen politischen Lebensweg, S. 11, S. 44.
[2] Hamburg 2006.
[3] Wolfgang Abendroth, Gesammelte Schriften. Band 1. 1926 – 1948, herausgegeben und eingeleitet von Michael Buckmiller, Joachim Perels und Uli Schöler, Hannover 2006.
[4] Wolfgang Abendroth, Marxistische Marxkritik, Gesammelte Schriften, Bd.1, a.a.O., S. 62.
[5] Jutta v. Freyberg, WolfgangGehrcke, Verfassungsrecht und Klassenkampf. Wissenschaftler und Revolutionär: Über die Aktualität von Wolfgang Abendroth, in: junge Welt vom 29./30. April 2006.
[6] junge Welt vom 5. März 2006.