Die auch in dieser Zeitschrift geführte Debatte um Begriff und Realität des Imperialismus bringt zahlreiche Anregungen für ideologietheoretische Fragen mit sich. Der Begriff selbst ist seit eh und je seinem Inhalt und seiner Funktion nach Element intensiver ideologischer Auseinandersetzungen, ein „politisch-polemischer Terminus“ (Fenske 1991, 660). Er trägt kritischen oder affirmativen Charakter, tritt als Vorwurf oder Anspruch (Reifeld 1987, 24) auf.
Die nachstehenden Überlegungen stellen sich nicht das Ziel, in diese Debatten einzugreifen. Sie sind vielmehr als Hinweis darauf zu verstehen, dass deren generelle Tendenz, Phänomene der kapitalistischen Gesellschaft historisch differenzierter zu fassen, für die Ideologieanalyse große Bedeutung besitzt.
Bürgerliche und imperialistische Ideologie
Erwogen wird, den Begriff ‘Imperialismus’ auf die Kennzeichnung einer bestimmten Machtpolitik des Staates bzw. auf kapitalistische Mächte, die eine derartige Politik betreiben, zu konzentrieren und zur Bezeichnung der neuen Etappe oder Phase der kapitalistischen Formation den Begriff ‘monopolistischer Kapitalismus’ zu verwenden. (Vgl. u.a. Heininger 1994, 130f, 2003, 106f, 2005, 84) Das korrespondiert mit der Position, der Rolle der Politik, des Staates bzw. überhaupt außerökonomischer Faktoren bei der Genese und der historischen Reproduktion imperialistischer Verhältnisse eine größere Bedeutung beizumessen.
Letzteres ist gewiss nicht nur eine Reaktion auf die fundamentale Rolle politischer Faktoren im Kontext des neoliberalen Projekts und der Globalisierung. Auch ist zu betonen, dass der Politik bei der Formierung imperialistischer Ideologie eine unverzichtbare vermittelnde Rolle zukommt. Domenico Losurdo gibt zu bedenken, der „ideologischen Dimension“ bei der Identifizierung imperialistischer Systeme grundsätzlich mehr Bedeutung beizumessen. (Losurdo 2004, 81) Frank Deppe warnt zu Recht vor einer theoretischen Unterschätzung der Rolle imperialistischer Ideologien durch die Linke. (Deppe 2004, 30)
Wie auch immer die Debatte über diese Probleme ausgehen mag, wichtig ist die Anregung, den Beziehungen zwischen ‘Kapitalismus’ und ‘Imperialismus’ differenzierte Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Lenin hat eine derartige Differenzierung durchaus gesehen. Die Analyse des Imperialismus sei eine Ergänzung der Analyse grundlegender Besonderheiten des Kapitalismus, schreibt er 1917. „Der Imperialismus gestaltet in Wirklichkeit den Kapitalismus nicht von Grund aus um, und er kann es auch nicht. Der Imperialismus kompliziert und verschärft die Widersprüche des Kapitalismus, er ‘verknotet’ die Monopole mit der freien Konkurrenz, aber den Austausch, den Markt, die Konkurrenz, die Krisen usw. beseitigen kann der Imperialismus nicht... Nicht reine Monopole, sondern Monopole neben dem Austausch, dem Markt, der Konkurrenz, den Krisen – das ist überhaupt die wesentlichste Eigenschaft des Imperialismus.“ (Lenin 1959, 465) Und im März 1919: „Nirgendwo in der Welt hat der Monopolkapitalismus ohne freie Konkurrenz in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen existiert ...“ Imperialismus und Finanzkapitalismus könnten als „Überbau über dem alten Kapitalismus“ aufgefasst werden. „Auf dem Standpunkt stehen, es gäbe einen einheitlichen Imperialismus ohne den alten Kapitalismus, heißt das Gewünschte für die Wirklichkeit nehmen.“ (Lenin 1961, 153)
Sicher können nicht ausnahmslos alle ideologischen Artikulationen des Kapitalismus seit dem Eintritt in sein imperialistisches Stadium mit dem Attribut ‘imperialistisch’ belegt werden. Problematisch ist es auch, pauschal ein Gleichheitszeichen zwischen ‘bürgerliche’ und ‘imperialistische’ Ideologie zu setzen. Imperialistische Ideologie ist ihrem Klassenwesen nach bürgerliche Ideologie, aber der letztere ist historisch und systematisch der umfassendere Begriff. Imperialistische Ideologie reflektiert im Bereich der Ideologieentwicklung jene Veränderungen, die mit den von Lenin akzentuierten ökonomischen und politischen Merkmalen der Monopolherrschaft ins Leben treten, den bedingungslosen Drang zur Expansion von Möglichkeiten der Erlangung von Profit, das Aussprechen „nackter Machtverhältnisse als absolute Bestimmungen“ (Lukács 1954, 632f), die Legitimation von Demokratieabbau, politischer Reaktion und Gewalt, die defensive Rücknahme der Ideale der bürgerlichen Klassik, die krisenbedingte Widerspiegelung einer Situation zwischen Macht und Ohnmacht. Bürgerliche Ideologie ist eher auf die Rechtfertigung des Gegebenen, auf die Hinnahme der Ordnung des Privateigentums angelegt. Imperialistische Ideologie zielt – auf dieser Grundlage – eher darauf, den geistigen Boden für reaktionäre Veränderungen zu bereiten, ihr wohnt in stärkerem Maße ein weltanschaulich aktivierendes Moment, die Forderung zum Handeln, inne. Nicht nur Zustände, sondern Absichten und Aktionen werden verschleiert und verfälscht. Übrigens wäre in diesem Kontext die Analyse der von Georg Lukács in seinen faschismus-kritischen Arbeiten praktizierten Begrifflichkeit durchaus anregend. Er unterscheidet zwar zwischen ‘bürgerlicher’ und ‘imperialistischer’ oder ‘im Imperialismus entstandener’ Ideologie, aber kaum zwischen ‘imperialistischer’ und ‘monopolkapitalistischer’ Ideologie. (Lukács 1954, 69, 567, 575, 579; Lukács 1989, 40)
Weitere Beziehungen sind zu analysieren, um den Zusammenhang von bürgerlicher und imperialistischer Ideologie präziser zu fassen. Das betrifft erstens die historische Bedingtheit imperialistischer Verhältnisse. In der nichtmarxistischen Geisteswissenschaft und Ideologiegeschichtsschreibung ist die Tendenz unübersehbar, über der systematischen Besonderung und der zeitlichen Eingrenzung imperialistischer Phänomene deren allgemeine, konstante Grundlagen in der kapitalistischen Produktionsweise in den Hintergrund treten zu lassen. Das ‘Zeitalter des Imperialismus’ wird nicht selten verabsolutierend auf den sogenannten ‘Hochimperialismus’, die Jahrzehnte von 1880 bis 1914, beschränkt. Nach dem ersten Weltkrieg habe das imperialistische Denken an Kraft verloren, von einer Zeit rückläufigen Imperialismus ist die Rede. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson gilt als „Anti-Imperialist“. (Fenske 1991, 661, 672; Reifeld 1987, 23, 46f; vgl. dazu kritisch Frank Unger, 2002, 2004)
In der marxistischen Diskussion wird zwischen dem objektiv imperialistischen Charakter der monopolkapitalistischen Verhältnisse und akut imperialistischer Politik unterschieden. Das Verhältnis zwischen Monopolen und Staat trage ambivalenten Charakter: „Es ist abhängig vom politischen Kräfteverhältnis in der Gesellschaft. Strukturelle Veränderungen in der monopolistischen Basis müssen nicht unvermittelt in Politik umschlagen oder zwangsläufig zu einer imperialistischen Politik führen.“ (Binus 2002, 59) „Kapitalistische Expansion nimmt, das ist für den New Imperialismus entscheidend, nicht unausweichlich die Form des offenen Imperialismus an.“ (Bader 2005, 109) Nicht jedes große kapitalistische Land muss „immer und ausschließlich eine imperialistische Funktion erfüllen“. (Losurdo 2004, 86) Andererseits: Weder konkret-historische Konstellationen – die Suprematie der USA über die kapitalistische Welt während und nach dem kalten Krieg – noch die mit größerer Macht und Wirkung als je zuvor die monopolkapitalistische Entwicklung beherrschende Stellung großer Konzerne haben die imperialistische Phase des Kapitalismus überwunden, den Imperialismus zum Verschwinden gebracht.
Zweitens. Die primäre Rückbindung imperialistischer Ideologie an Ökonomie und Politik darf nicht außer Acht lassen, dass das jeweilige In-Erscheinung-Treten eines imperialistischen Zentrums stets auch als Resultat des Aufeinandereinwirkens komplexer historischer Prozesse verstanden werden muss. Seine Herausbildung erfolgt im Kontext einer konkreten internationalen Situation, aus der Sicht einer spezifischen Position im Rahmen des gegebenen Staaten- und Machtgefüges. Die ideologische Physiognomie derartiger Zentren weist beispielsweise immer wieder die durch Klasseninteressen gefilterte Beschwörung historischer Traditionen auf. Für den deutschen Imperialismus „der Kaiserzeit“ und den „deutschen faschistischen Imperialismus“ (Warga 1948, 17, 29) ist dies vor allem durch die klassischen Analysen der Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands hinlänglich gezeigt worden (Warga, Lukács). Panitch und Gindin arbeiten Merkmale der spezifischen „Konvergenz von Struktur und geschichtlicher Entwicklung“, der „historische(n) Konstellation“ heraus, auf der das derzeitige „amerikanische Imperium“, die „zentrale Stellung der Vereinigten Staaten innerhalb des globalen Kapitalismus“ einschließlich seiner „ideologischen Herrschaftsformen“ beruht: „Die ausschlaggebende Phase in der Rekonstruktion des globalen Kapitalismus ... erstreckt sich über den Zeitraum zwischen dem zweiten Weltkrieg und der unmittelbaren Nachkriegsphase. Erst nach den großen Katastrophen der Wirtschaftsdepression und des Zweiten Weltkrieges sollte die kapitalistische Globalisierung als eine aus diesen Katastrophen gezogene Lehre neu belebt werden. Ihre Entwicklung befand sich allerdings in Abhängigkeit von dem Aufstieg und der ungleichen historischen Entwicklung einiger Strukturmerkmale, die sich unter der Anleitung eines einzigen Akteurs entfalteten: dem amerikanischen imperialen Staat.“ Hinzugekommen sei natürlich die Bindung eines jeden der führenden kapitalistischen Staaten „an die Polizei- und Sicherheitsapparate der Vereinigten Staaten als einem Teil der Eindämmungsstrategie gegen den Kommunismus ...“ (Panitch/Gindin 2004, 31, 37, 49)
Das „Zusammendenken“ struktureller und historischer Gesichtspunkte ist auch deshalb erforderlich, weil imperialistische Ideologie immer wieder Metamorphosen unterliegt und in wechselnden Erscheinungsformen auftritt – in Abhängigkeit natürlich von wechselnden Gebilden des realen Imperialismus. Und weder im Allgemeinen noch im Besonderen als konsistentes System auftritt. Auch in diesem Zusammenhang ist an Georg Lukács’ Analyse des Übergangs von der imperialistischen Ideologie des faschistischen Deutschland zur imperialistischen Nachkriegsideologie zu erinnern, an seine Skizze von Unterschieden und Gemeinsamkeiten weltanschaulicher Komponenten dieser beiden Typen. Geboten ist diese Erinnerung nicht zuletzt, weil in nicht wenigen gängigen Kompendien neuzeitlicher Geschichte der politischen Ideen dem Zusammenhang von Imperialismus und Faschismus kaum nachgegangen wird.
Drittens ist zwischen unterschiedlichen historischen Gestalten oder Typen des Imperialismus bzw. Zielstellungen imperialistischer Politik zu unterscheiden. Die Konfrontation mit einem sozialistischen Weltsystem hat Aktionsmöglichkeiten des Imperialismus deutlich beschränkt. Seit dem Fortfall dieser Herausforderung haben die Charakterzüge des Imperialismus ihre prägende Wirkung auf die internationalen Beziehungen wieder entfaltet – Militarisierung der Außenpolitik, Entgrenzung des Verteidigungsbegriffs, Beendigung von Ansätzen zur Abrüstung. Es macht auch einen Unterschied, ob die Kontrolle über Territorien vermittels direkter kolonialer Unterwerfung oder über die Kontrolle der ‘Spielregeln’, der Rahmenbedingungen, nach denen sich Staaten zu richten haben, erfolgt (Deppe 2004, 82), ob das ‘Hinausschieben’ der Grenzen, ihre ‘Überwindung’ die vorherrschende Entwicklungstendenz des gegebenen Imperialismus ist oder deren ‘Auflösung’, das Eindringen in fremde Märkte (Panitch/Gindin 2004, 53) „Eine Neuaufteilung des Weltmarktes ist möglich, ohne dass die Welt territorial neu aufgeteilt werden müsste. (Mayer 2005, 65, 73) Freilich gilt es stets, die Ursachen und die Relevanz derartiger Unterschiede, die am Wesen des Imperialismus letztlich wenig zu ändern vermögen, konkret zu bestimmen.
Für ideologische Entwicklungen dieses Stadiums der kapitalistischen Formation ist das Verständnis des Imperialismus als Herrschaftsverhältnis wichtig. „Das Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt – das ist das Typische für die ‘jüngste Entwicklung des Kapitalismus’, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen musste und hervorgegangen ist ... Ist das Monopol einmal zustande gekommen und schaltet und waltet es mit Milliarden, so durchdringt es mit absoluter Unvermeidlichkeit alle Gebiete des öffentlichen Lebens ...“ (Lenin 1960a, 211, 241) Herrschaft impliziert nicht Gleichförmigkeit oder Identität aller Elemente eines gesellschaftlichen Systems, sondern die Möglichkeit bestimmter Gruppen oder Institutionen, ihre Macht- und Geltungsansprüche anderen Positionen oder Bestrebungen gegenüber durchzusetzen. Sie setzt also nachgerade die Existenz andersgearteter Elemente voraus. Wesentlich ist nicht, dass in dieser Phase des Kapitalismus alle Ausdrucksformen des ideologischen Lebens imperialistischen Charakter annehmen, sondern dass imperialistische Ideologie (als Herrschaftsverhältnis) prägend und bestimmend in die Gesellschaft hineinwirkt.
In der Literatur zur politischen Ideengeschichte ist unstrittig, dass imperialistische Politik im engsten Sinne – als expansionistische, aggressive Außenpolitik – stets innenpolitische Funktionen erfüllt und verhängnisvolle integrierende Wirkungen ausübt. „In den Globus teilten sich in Zukunft (die Rede ist von der Hochzeit imperialistischer ‘Selbstverständigung’ um 1900 – E.H.) eine Handvoll fortgeschrittener Industrieländer, deren herrschende Klasse im imperialistischen ‘Ethos’ sowohl ein Ventil für die eigenen überschüssigen Energien als auch für latente innenpolitische Spannungen fand.“ (Lichtheim 1973, 21)
Ein augenfälliges Beispiel für den in der Gegenwart das Ganze des Systems durchdringenden Mechanismus imperialistischer Herrschaft ist das ‘militaristische’ Zusammenspiel von Außenpolitik, Parlament, Militärisch-Industriellem Komplex und Medien bzw. ideologieproduzierenden Institutionen, das in dem US-amerikanischen Fernsehfilm „Why we fight!“ minutiös enthüllt wurde. „Ich bin der Überzeugung, dass alle Kriege der 90er Jahre vor allem zu dem Zweck geführt wurden, eine neue Rolle für das US-amerikanische Militär, das die Hauptquelle der US-amerikanischen Wettbewerbsfähigkeit ist, zu finden. Diesem Bereich entstammt die größte Anzahl hochtechnologischer Innovationen.“ (Arrighi 2003, 95) Die Spezifik und Funktion imperialistischer Ideologie kann unter anderem darin gesehen werden, solcherart imperialistische Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren und in ihrer ökonomischen, sozialen und politischen Komplexität „zusammenzubinden“ – um eine Formulierung von Frank Deppe aufzugreifen, der in einem solchen Kontext auch von einem ‘komplexen ideologisch-ökonomischen System’ spricht. (Deppe 2004, 122, 56)
Es macht also durchaus Sinn, strukturelle und zeitliche Differenzierungen zwischen Kapitalismus und Imperialismus als Ausgangspunkt und Triebkraft von Ideologiebildungen – auch nachdem sich der Imperialismus als Herrschaftsverhältnis etabliert hat – zu beachten, zugleich aber die zahlreichen Übergänge, Wechselwirkungen und fließenden Grenzen zwischen beiden im Auge zu behalten. Insbesondere das schillernde Mosaik heute hegemonialer Ideologien zwingt dazu, das Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Konzepte und Strömungen ebenso wie ihre einheitlichen Grundtendenzen auf konstante und wechselnde historische Bedingungen und Traditionen zurückzuführen. Generell gilt, dass ideologische Grundtendenzen bzw. Neu- und Umbildungen in den vergangenen 130 Jahren dann entstanden sind, wenn Neuformierungen imperialistischer Herrschaftsverhältnisse sich vermittels politischer Zäsuren Bahn gebrochen haben. Im Fortgang der historischen Entwicklung ergeben sich Metamorphosen, Kombinationen und Spaltungen. Bestimmte ideologische Grundmuster bleiben jedoch für lange Zeit prägend, erweisen sich als weitgehend irreversibel – der ‘variablen Fortexistenz’ der Kapitalherrschaft entsprechend.
Politik als Vehikel und Objekt imperialistischer
Ideologiebildung
Ein Konzentrationspunkt der neuerlichen Imperialismus-Diskussion ist die Beziehung von Ökonomie und Politik. Der Imperialismus ist seinem Wesen nach ohne die Analyse seiner ökonomischen Basis nicht auf den Begriff zu bringen. Darüber gibt es unter Marxisten wenig Meinungsverschiedenheiten. Auf dieser Grundlage jedoch schält sich eine deutliche Akzentuierung der Dimension des Politischen heraus. Im Grunde entspricht dies dem Vorgehen Lenins. Immerhin lesen wir in der Einleitung zu seinem Hauptwerk: „Im folgenden wollen wir versuchen, den Zusammenhang und das Wechselverhältnis der grundlegenden ökonomischen Besonderheiten des Imperialismus ... darzustellen. Auf die nichtökonomische Seite der Frage werden wir nicht so eingehen können, wie sie es verdienen würde.“ (Lenin 1960a, 200)
Für die Aufhellung ideologischer Erscheinungen ist dies von großer Bedeutung. Dass imperialistische Ideologie ökonomische Verhältnisse, Strukturen und Interessen widerspiegelt, ihnen Ausdruck verleiht und als Moment ihrer widersprüchlichen Entwicklung fungiert, kann ebenso wenig bezweifelt werden wie der Umstand, dass ihre historische Herausbildung und ihre je aktuelle Reproduktion ganz entscheidend durch Politik vermittelt ist. Imperialistischer Ideologie bedarf es in dem Maße, in dem der Faktor Politik als Vehikel ökonomischer Bestrebungen und Veränderungen augenfällig in Erscheinung tritt.
Der historische Übergang vom vormonopolistischen zum monopolistischen Kapitalismus, die Formierung der ökonomischen Grundlagen des Imperialismus in den betreffenden europäischen und außereuropäischen Ländern vollzog sich aufgrund des Wirkens objektiver Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten. Er war in dieser Hinsicht historisch notwendig. Allerdings bedurfte er in stärkerem Maße des Eingreifens der Politik als der „normale“ Gang der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise. Es ist kein Zufall, dass der Terminus ‘imperialistische Ideologie’ (auch imperialistische ‘Weltanschauung’, ‘Gesinnung’, imperialistisches ‘Denken’, ‘Ethos’) sich zunächst auf außenpolitische Erscheinungen wie aggressiven Kolonialismus und Expansion, den Drang nach gewaltsamer Annexion fremden Territoriums, Militarismus und zwischenstaatliche Rivalität, kurz – das „Ausgreifen“(!) europäischer Großmachtpolitik auf andere Kontinente bezog. (Deppe 2004, 14; Reifeld 1987, 25, 44; Fenske 1988, 492; Lichtheim 1973, 21) Auf Aktivitäten also, die augenfällig politischer Natur sind und in besonderem Maße ihren Weg durch das Medium der Öffentlichkeit nehmen, gleichwohl natürlich ökonomischen Interessen und Bestrebungen als Mittel der Realisierung dienen.
Aber nicht nur das. Was sich da artikulierte, war eine neuartige Politik, eine Politik, die in besonderem Maße ideologischer Begründung und Rechtfertigung bedurfte. Lenin unterstrich den strukturellen Zusammenhang zwischen Monopolen „in der Wirtschaft“ und einem monopolistischen, gewalttätigen, annexionistischen „Vorgehen in der Politik“. Es sei eine Illusion, anzunehmen, Monopolismus in der Wirtschaft könne mit einer nicht-monopolistischen Politik einhergehen. (Lenin 1960a, 274) Diese Politik ist Signum der Veränderung der Welt durch den Imperialismus. Die Epoche eines „verhältnismäßig ‘friedlichen’ Kapitalismus“ wurde abgelöst „von einer Epoche verhältnismäßig viel stürmischeren, sprunghafteren, katastrophaleren, konfliktreicheren Charakters, in der für die Masse der Bevölkerung nicht so sehr der ‘Schrecken ohne Ende’ als vielmehr das ‘Ende mit Schrecken’ typisch wird“. (Lenin 1960b, 102) Die imperialistische Politik der Gewaltakte und Kraftproben, des Betruges, der Plünderung und der Kriege – hebt Rosa Luxemburg hervor – beherrsche „so gut als übermächtiges, blindwaltendes Gesetz die Politik der einzelnen kapitalistischen Staaten, wie die Gesetze der wirtschaftlichen Konkurrenz die Produktionsbedingungen des einzelnen Unternehmens gebieterisch bestimmen“. (Luxemburg 1974, 138)
Nun ist Politik auch unter imperialistischen Bedingungen nicht nur Vehikel sondern zugleich Objekt von Ideologiebildungen. Eine der Grundtendenzen imperialistischer Ideologie sieht Frank Deppe in ihrer zunehmenden „Entfernung“ von den „Grundpositionen des politischen Liberalismus, der Aufklärung und des Rationalismus“. (Deppe 2004, 14; Deppe 1999, 84ff, 368ff) Wandlungen in den Konzeptionen von Staat und Politik spiegelten die Krise des Liberalismus beim Übergang zum Imperialismus wider. In historischen Schüben setzte sich die von Lenin beobachtete Tendenz einer „Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion“ als politischer „Überbau über der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus“ (Lenin 1957, 34) fort. Die Grenze zwischen politischem und Gewalthandeln verfließt.
Grundelemente dieser ideologischen Wandlung, dieser Aushöhlung des Selbstverständnisses der frühen Bourgeoisie hat Rudolf Hilferding auf nachgerade klassische Weise beschrieben. Es geht um das „Verhältnis der Kapitalistenklasse zur Staatsmacht.“ (Hilferding 1947, 408)
Entstanden war die sich zur Weltanschauung des Liberalismus „erhöhende“ bürgerliche Staatsauffassung gegen die zentralisierte und „privilegierende“ Staatsmacht. Staatliche Gesetzgebung wurde für das Wirtschaftsleben als „überflüssig und schädlich“ beurteilt. Insofern war der Liberalismus „negierend“. (460)
Die Logik der Expansion des Kapitalismus brachte eine Umkehrung mit sich. „Wie stets, wenn das Kapital sich zum erstenmal Verhältnissen gegenübersieht, die seinem Verwertungsbedürfnis widersprechen und deren ökonomische Überwindung nur allmählich und viel zu langsam vor sich gehen würde, appelliert es an die Staatsgewalt und stellt sie in den Dienst gewaltsamer Expropriation ...“ (436) Im ökonomischen Konkurrenzkampf wird politische Macht entscheidend. Für das Finanzkapital wird die staatliche Machtstellung „unmittelbares Profitinteresse“ – es wird zum „Träger der Idee der Stärkung der Staatsmacht mit allen Mitteln“. (457)
Das lief auf eine „völlige Änderung des Verhältnisses des Bürgertums zum Staate“ hinaus. (460) Ideologie und Staatsauffassung der Bourgeoisie passten sich an die Bedürfnisse des Finanzkapitals an. In Deutschland kam dem entgegen, dass die Einigung Deutschlands auf konterrevolutionärem Wege die Stellung der Staatsgewalt im Bewusstsein des Volkes außerordentlich gestärkt hatte. „So stießen denn die Bedürfnisse des Finanzkapitals auf ideologische Elemente, die es leicht benützen konnte, um aus ihnen eine neue, seinen Interessen angepasste Ideologie zu schaffen. Diese Ideologie ist aber der des Liberalismus völlig entgegengesetzt.“ (462) Das Finanzkapital „will nicht Freiheit, sondern Herrschaft“; es „verabscheut die Anarchie der Konkurrenz und will die Organisation, freilich nur, um auf immer höherer Stufenleiter die Konkurrenz durchsetzen zu können“; es braucht einen politisch mächtigen, einen starken Staat, „der überall in der Welt eingreifen (die Aktualität der Wortwahl ist frappierend – E.H.) kann, um die ganze Welt in Anlagesphären“ für sein Kapital verwandeln zu können; Machtpolitik ohne Schranke wird zu seiner Forderung. (463)
Hilferding sieht darin eine Revolutionierung der Weltanschauung des Bürgertums angelegt: das Friedensideal verblasst, an Stelle der Idee der Humanität tritt das Ideal der Größe und Macht des Staates; der nationale Gedanke wird zur „Überlegenheit der eigenen Nation“ umgebogen, das Monopol spiegelt sich in dieser „Überlegenheit“; in der Rassenideologie entsteht eine verkleidete Begründung des Machtstrebens des Finanzkapitals; an die Stelle des demokratischen Gleichheitsideals tritt ein oligarchisches Herrschaftsideal. „So entsteht die Ideologie des Imperialismus als Überwindung der alten liberalen Ideale.“ (465)
Reinhard Opitz hat auf ähnliche Weise die mit dem historischen Auftreten des Imperialismus verbundene Zäsur in der Entwicklung des liberalen Freiheitsverständnisses gezeigt. „Das mächtige monopolistische Kapital ... entwickelte auf allen Gebieten der inneren und äußeren Politik seine eigenen Interessen und verlangte vom Staat, sich ihnen zu fügen und für sie aktiv zu werden.“ An der „Illiberalität“ des Monopolkapitals zerbrach der alte Liberalismus als einheitliche Bewegung. Als eine „Zerfallslinie“ profiliert sich jene „nationalliberale“ Strömung, die sich durch das „Bekenntnis zu militanter Großmachtpolitik“ und die „rücksichtslose Unterwerfung der Gesellschaft unter ihre Interessen ... mit Hilfe der Staatsmacht“ auszeichnet. (Opitz 1972, 17, 19f)
Nun hat das „Verhältnis der Kapitalistenklasse zur Staatsmacht“ seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zweifellos gravierende Wandlungen und Brüche erlebt. Der faschistische deutsche Imperialismus hat die Halbheiten des traditionellen Liberalismus, Tendenzen einer „inneren Verwandtschaft zwischen der liberalistischen Gesellschaftstheorie und der scheinbar so antiliberalen totalitären Staatstheorie“ (Marcuse 1965, 24) erwiesen. Nach dem Ende des Faschismus haben sich staatsmonopolistische Formen des Kapitalismus „in allen Industrieländern zu einem permanenten Grundzug entwickelt“. (Binus 2002, 59; vgl. Reinhold 1971, Kapitel 1; Boccara 1972, 19ff) Und gegenwärtig, auf dem Hintergrund einer tiefgreifenden Globalisierungswelle und der Dominanz neoliberaler bzw. neoklassischer Strategie, entfaltet sich die Beziehung zwischen ökonomischer und politischer Macht in wiederum neuen Formen und Dimensionen. Wesentlich ist vor allem die zynische Demagogie des Neoliberalismus, in dessen Ideologie sich der anti-etatistische (historisch gegen keynesianistische ebenso wie gegen sozialistische planwirtschaftliche Aktivitäten gewendete) Appell an den Staat, sich aus der Wirtschaft zurückzuziehen und sie dem freien Spiel der Marktkräfte zu überlassen, mit dem Bekenntnis zu einem ‘starken Staat’ verbindet, einem Staat, der sich auf die Garantie aller Rahmenbedingungen für das ungehinderte Wirken des Kapitaleigentums beschränkt, dieser Funktion allerdings auch mit aller Konsequenz gerecht wird. (Altvater 1984, 81)
Der von Hilferding klassisch skizzierte Qualitätssprung in der Beziehung von Bourgeoisie und Staat hat sich als irreversibel erwiesen. Eine Rückkehr zu den Idealen des klassischen Liberalismus ist nicht erfolgt. Die Unterordnung der Politik unter das Primat der Ökonomie dagegen hat sich dramatisch verschärft und markiert nach wie vor einen Angelpunkt herrschender Ideologiebildung.
Subjekt-Objekt-Probleme als Bedingung und Triebkraft
von Ideologie
Die Dialektik objektiver und subjektiver Momente imperialistischer Praxis markiert einen Ausgangspunkt ideologischer Verkleidungen und Verkehrungen, die seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert immer wieder in das Zentrum geistiger Auseinandersetzungen geraten sind.
Die Mauserung des Kapitals zum Monopol und seine Verschmelzung mit politischer Macht vergrößern in gewisser Hinsicht den Handlungsspielraum der maßgeblichen Akteure – so sehr vorherige Determinanten fortwirken und sich neue Abhängigkeiten ergeben. Zusätzlich verändern sich das Aktionsfeld imperialistischer Akteure und die damit gegebenen Konfliktpotentiale quantitativ und qualitativ mit dem Eintritt in das Terrain internationaler bzw. globaler Beziehungen. Woraus wiederum einschneidende Rückwirkungen auf das innerstaatliche Gefüge erwachsen. Das Auftreten von Gegenkräften verstärkt sich. Das Gegeneinander gesellschaftlicher Aktion und Reaktion sowohl in bezug auf konkrete soziale Probleme als auch hinsichtlich der Grundlagen kapitalistischer Ordnung treten in stärkerem Maße an der Oberfläche des historischen Geschehens in Erscheinung.
Ein Feld weltanschaulich-politischen Kampfes ergibt sich. Die Perspektiven und die Grenzen geschichtlichen Handelns stehen auf dem Prüfstand. Auf der einen Seite die Proklamation der allgemeinen Notwendigkeit, der Unvermeidlichkeit oder Alternativlosigkeit imperialistischer Aktivitäten. Andererseits wird die Unausweichlichkeit imperialistischer Veränderungen prinzipiell infrage gestellt; an der behaupteten Naturgegebenheit und Ewigkeit des Vorhandenen wird gerüttelt. Alles natürlich im Kontext der je konkreten Aktionen, Begründungen und Rechtfertigungen. Einige Knotenpunkte derartiger Auseinandersetzungen sollen skizziert werden.
John A. Hobson widmet ein eigenes Kapitel seiner Hauptschrift der Kritik des „populären Irrglaubens, der Einsatz der staatlichen Macht zur Erlangung neuer Märkte durch Annexion weiterer Gebiete sei eine ... unvermeidliche Politik für ein fortgeschrittenes Industrieland wie Großbritannien.“ (Hobson 1968, 85) Hobson greift die Logik dieses Arguments zunächst auf – sicher könne nicht in Abrede gestellt werden, dass für wachsende Erzeugnismassen neue Märkte nötig seien und neue ‘Unterbringungsmöglichkeiten’ für überschüssiges Kapital sowie für die ‘Energien des unternehmungslustigen Überschusses unserer Bevölkerung’ gebraucht würden. Die Produktionskraft eines Landes könne in der Tat so rasch wachsen, dass die Nachfrage des Binnenmarktes überschritten werde. „Diese ökonomische Sachlage bildet die Hauptwurzel des Imperialismus.“ Insofern – „sagt man uns ...“ – seien die auf diese Weise ausgelösten Prozesse „unvermeidlich“ (92).
Bei näherem Hinsehen erweise sich dies jedoch als eine „oberflächliche Betrachtung“ und eine rein „wirtschaftliche Argumentation“ (87) . Zum einen zeige sich, dass es die „großen Industrie- und Finanzbarone“ seien, die daraus Nutzen ziehen. „Sie brauchen den Imperialismus, weil sie die öffentlichen Hilfsmittel ihres Landes benutzen wollen, um gewinnbringende Verwendung für ihr Kapital zu finden, das sonst überflüssig wäre.“ (90) Bestärkt werden sie in diesem Treiben durch ihren „mächtigen Einfluss“ auf die Politik. Und zum anderen – was, wenn das „konsumierende Publikum“ seinen „Konsumtionsstandard“ derartig steigern würde, dass er mit der Steigerung der Produktivkräfte Schritt hielte? Das ganze Überschussproblem wäre vom Tisch! Zu fragen wäre freilich, warum die Konsumtion in einem Land mit der Produktionskraft nicht automatisch Schritt halte.
Die Antwort „bringt uns zu der allgemeinen Problematik der Verteilung des Reichtums.“ (94) Die „Verkehrtheit“ der gegebenen Verteilungswirtschaft müsse geändert werden, und zwar zugunsten des Lohneinkommens der arbeitenden Klassen und des öffentlichen Einkommens. Die Annahme der Unvermeidlichkeit imperialer Expansion sei mithin ein Trugschluss! „Die Triebkräfte des Klasseninteresses, die diese verkehrte Wirtschaft erzeugen und unterstützen, haben wir erklärt. Keine Heilmethode wird helfen, solange sie das Wirken dieser Kräfte auch künftig gestattet. Es ist zwecklos, den Imperialismus oder den Militarismus als politisches Mittel oder politische Konzeptionen zu bekämpfen, wenn nicht die Axt an die wirtschaftliche Wurzel des Baumes gelegt wird.“ (102)
Natürlich musste hier verkürzt werden. Der reformistische Gesamtansatz Hobsons, den nicht nur Lenin kritisch herausgestellt hat, bleibt unberücksichtigt. Nur scheint mir der prinzipielle Tenor dieser Kritik des fatalistischen Unvermeidlichkeitspostulats, das Insistieren auf einer rationalen (sozialistischen) Alternative, welche die Schranken einseitig-empiristischer Sachlogik sprengt, von großer Aktualität zu sein. Der heutige Denkhorizont ehemals reformistischer Gruppierungen, für den selbst die Thematisierung der Verteilungsverhältnisse tabu ist, wird von Hobson in den Schatten gestellt.
Lenins Ausgangspunkt ist ein anderer. Anderthalb Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Hobsons Buch und angesichts der Realität des imperialistischen Weltkrieges ist für ihn die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise keine Frage einer fernen Zukunft. Sein Hauptproblem war, die geistigen Voraussetzungen einer systemsprengenden Praxis zu klären. Ihm ging es nicht mehr nur darum, die Existenz und den Charakter imperialistischer Verhältnisse kritisch darzustellen, sondern Illusionen und Halbheiten der vorhandenen Kritik zu beleuchten. Kernfragen der Kritik seien, ob eine Änderung „der Grundlagen des Imperialismus durch Reformen möglich sei, ob man vorwärts gehen solle zur weiteren Verschärfung und Vertiefung der durch ihn erzeugten Widersprüche oder rückwärts, zu deren Abstumpfung“. (Lenin 1960a, 292) Deshalb liegt das Schwergewicht seiner Argumentation auf dem Nachweis des objektiven, gesetzmäßigen, notwendigen Charakters des Imperialismus „als Ganzes“, als einer „bestimmte(n) Entwicklungsstufe des höchstentwickelten Kapitalismus ... Es ist außerordentlich wichtig, dabei zu beachten, dass dieser Wechsel durch nichts anderes herbeigeführt worden ist als durch die unmittelbare Entwicklung, Erweiterung und Fortsetzung der dem Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt zutiefst innewohnenden Tendenzen.“ Insofern vertritt er die Auffassung von der „Unvermeidlichkeit des Imperialismus und seines endgültigen Sieges über den ‘friedlichen’ Kapitalismus in den fortgeschrittenen Ländern der Welt“ (Lenin 1960b, 102f, 104) Die Konsequenz dieser Haltung ist die Orientierung auf eine grundsätzliche gesellschaftliche Alternative.
Und aus dieser Perspektive ist ihm Hobsons Kritik am Unvermeidlichkeitspostulat imperialistischer Praxis suspekt. In der Annahme, die betreffenden Aktivitäten oder Missstände seien vermeidbar, nicht alternativlos, sieht er ein Zugeständnis an die reformistische Illusion, auf dem Boden kapitalistischer Verhältnisse seien nennenswerte Änderungen möglich. Die Kritik – schreibt er – dürfe nicht davor zurückscheuen, „die unzertrennliche Verbindung des Imperialismus mit den Trusts und folglich auch mit den Grundlagen des Kapitalismus zuzugeben“. Hobson habe Kautsky vorweggenommen, „indem er sich gegen die ‘Unvermeidlichkeit’ des Imperialismus wandte und sich auf die Notwendigkeit berief, ‘die Konsumtionsfähigkeit der Bevölkerung zu heben’ (unter dem Kapitalismus!).“ (Lenin 1960a, 293)
Nun ist daran zu erinnern, wann und unter welcher Blickrichtung diese Zeilen zu Papier gebracht wurden. Theoretisch wichtig und nicht dem Zeithorizont zuzurechnen ist Lenins Anliegen, die Gesetzmäßigkeit der wesentlichen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge des Monopolkapitalismus und die prägende Funktion der ökonomischen Verhältnisse ihnen gegenüber zu unterstreichen. Auch dies unter dem Gesichtspunkt, die Ansatzpunkte revolutionärer Praxis herauszuarbeiten. „Das Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt ... das ist es, was aus der Bildung allmächtiger wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen musste und hervorgegangen ist.“ (Lenin 1960a, 211)
Andererseits kann dies nicht bedeuten, der antiimperialistischen Aktion auf dem Boden imperialistischer Verhältnisse Schranken aufzuerlegen. Die These von der Unvermeidlichkeit des Imperialismus als gesetzmäßiges Resultat der kapitalistischen Logik dürfe nicht zu fatalistischen Folgerungen führen oder dazu, sich in ihm einzurichten. Entscheidend sei, beim Kampf gegen imperialistische Politik (beispielsweise von Banken und Trusts) deren ökonomische Grundlagen nicht „unangetastet“ zu lassen. (Lenin 1960a, 274f)
In den Debatten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ging es um eine Selbstverständigung der Linken angesichts einer tiefgreifenden Zäsur in der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. Es ging um die Möglichkeit sozialistischer Politik und die Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs. Die Frage „Vermeidbarkeit oder Unvermeidbarkeit“ von Monopolkapitalismus und Imperialismus war zwar im philosophischen Vorfeld sozialistischer Praxis angesiedelt, sie betraf jedoch direkt ein zentrales Paradigma der ideologischen Verteidigung des Gegebenen bzw. seiner revolutionären Überwindung. Durch die weltanschauliche Naturalisierung bzw. Fetischisierung der diese Produktionsweise bestimmenden Verhältnisse und Gesetzmäßigkeiten leugnet die bürgerliche Ideologie deren historischen, vorübergehenden Charakter. Sie sollen ideologisch gegen unerwünschte Eingriffe immunisiert werden. Das Bewusstsein wird auf die Oberfläche der ökonomischen Beziehungen und Abläufe fixiert, auf der ihr gesellschaftlicher Charakter ausgelöscht erscheint, sich als Beziehung zwischen Dingen darbietet. Zugleich wird so den konkreten Prozessen und Aktivitäten der Reproduktion ökonomischer Gegebenheiten das Odium ihrer Bedingtheit durch aparte, durch Gruppen- und Klasseninteressen genommen. An deren Stelle treten in der Vorstellungswelt übergeordnete, allgemeine, neutrale Mechanismen, Erfordernisse und Zwänge. Und dies verbindet augenscheinlich die damaligen Debatten mit aktuellen Positionen.
(Teil II erscheint in Z 68, Dezember 2006)
Bibliographie
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