1. Der alte Staat ist immer noch da ...
Dem Staat, so kann man allerorten hören und lesen, geht es gar nicht gut, er befindet sich weltweit im Niedergang, er schwindet und schwächelt, zieht sich zurück. Mit der Kontrolle über sein Territorium und seine Grenzen ist es nicht mehr weit her. Seine Souveränität löst sich auf. Kein Staat kann den neuen Herren der Welt, den Herren des globalen, allzeit mobilen Kapitals noch Paroli bieten. Wir sind, so scheint und so tönt es, mitten in einem Epochenbruch in der Geschichte der Weltökonomie und -politik.
Nach 1945 ist das Ende des Nationalstaats, wie wir ihn kannten, mehrfach verkündet worden. Zuerst Ende der fünfziger Jahre als mit der Erfindung der Interkontinentalraketen das Ende der klassischen Landesverteidigung in Sicht kam. Grenzen hatten keine Bedeutung mehr, der alte Territorialstaat war am Ende, da es keine Front und kein Hinterland mehr gebe, keine Heimat mehr zu verteidigen sei [1] In den 1960er Jahren wurden die multinationalen Konzerne von den Sozialwissenschaftlern (wieder) entdeckt. US-amerikanische Multis waren dabei, europäische Unternehmen aufzukaufen, und machten sich auch in anderen Teilen der Welt breit. Mit wachsender Zahl und Größe solcher multinationalen Konzerne geriete die Souveränität der Nationalstaaten in Gefahr (vgl. Vernon 1971).[2] Auf marxistisch las sich das so: Der Nationalstaat werde die „Internationalisierung” des Kapitals nicht lange überleben. Wohl oder übel werde er sich anpassen, d.h. sich selbst „internationalisieren” müssen. Nationalstaaten würden ihre zentrale Rolle in der kapitalistischen Weltökonomie verlieren (vgl. Murray 1971). Dem wurde schon damals widersprochen. Ohne Erfolg. Die Scheinlogik war doch zu verlockend: Aus der (unkritisch unterstellten) „Internationalisierung” des Kapitals – in all seinen Formen – müsse eine „Transnationalisierung” der Klassen (zumindest doch der Kapitalistenklasse) folgen; die alten Staatsstrukturen könnten nicht überleben, das „transnationale”, ja „globale” Kapital werde sich vom alten Staat emanzipieren und sich einen neuen suchen.[3] Robert Cox verkündete Ende der 1980er Jahre die These von der „Inter-“ bzw. „Transnationalisierung” des Staates, die den alten Nationalstaat obsolet mache, erneut (vgl. Cox 1989). Seither hat sie sich in der internationalen politischen Ökonomie durchgesetzt, auch im mehr oder weniger linken, marxistischen oder besser neo-gramscianischen Lager. Daher stößt die unablässig wiederholte Botschaft vom Ende der Politik, die der Ökonomie untertan sei, und des Nationalstaats, der den Kräften der „Globalisierung” erlegen sei, auf wenig Widerspruch. Es sind eben nicht nur neoliberale Ideologen (vgl. z.B. Ohmae 1995), sondern auch kritische Kritiker, die das Märchen von der Ohnmacht des Staates im Zeitalter der Globalisierung verbreiten (vgl. Sassen 1996). Dieser Mythos vom „machtlosen Staat” ist eine der stärksten Stützen neoliberaler Hegemonie – und der Glaube daran bleibt eine der wichtigsten Ursachen für die ungebrochene Subalternität der Linken.
Tatsächlich kann vom Verschwinden des Nationalstaats keine Rede sein. Ebensowenig von seiner Machtlosigkeit oder Ohnmacht. Ganz im Gegenteil. Um 1900 bestand die politische „Welt” aus etwas mehr als 40 souveränen Staaten, 1946 waren es 70, heute zählen wir fast 200 selbständige politische Einheiten, die wir als „souveräne” Staaten betrachten. Die weitaus meisten davon präsentieren sich heute als Nationalstaaten. Etliche klassische „Reiche” (Indien, China) haben sich in Nationalstaaten transformiert. Der Zerfall anderer „Empires” hat uns eine noch stets wachsende Zahl von unabhängigen Staaten beschert, die Souveränität über ihr Territorium beanspruchen – und in der Regel auch bekommen. Das gilt für den Zerfall der Sowjetunion ebenso wie für den Zerfall Jugoslawiens oder für Indonesien: Es sind die Nationalitätenstaaten mit mehr oder weniger ausgeprägten imperialen Zügen, die zerfallen, und nicht die klassischen Nationalstaaten.
Wenn es je eine ursprünglich europäische politische Form gab, die mit erstaunlichem Erfolg exportiert wurde, ja die Weltpolitik nachhaltig verändert hat und bis heute prägt, ist es der Nationalstaat. Er hat sich, von seinen Anfängen im 18. Jahrhundert bis heute weltweit als die dominante politische Form durchgesetzt.[4] Alle Befreiungsbewegungen der Gegenwart streben erklärtermassen nach „nationaler” Unabhängigkeit – in der Form eines „eigenen” Staates mit klar definiertem Territorium und ausgestattet mit allen Symbolen der Souveränität; unterhalb der Schwelle der Eigenstaatlichkeit erstreben sie regionale „Autonomie”, die wiederum nur im Kontext eines souveränen National- und Territorialstaats möglich ist, eines Staates, der Rechte und Gewalten teilen und delegieren kann. Die sozialen und politischen Protestbewegungen der Gegenwart, die sich als internationale Bewegungen verstehen, wenden sich doch an einzelne Staaten oder die internationale Staatengemeinschaft als Adressaten ihrer politischen Forderungen. Sie setzen auf Parteien, Regierungen, Staaten bzw. von Staaten getragene internationale Organisationen, um ihre Projekte einer anderen Welt durchzusetzen. Attac ist nach wie vor in „nationale” Organisationen gegliedert, die „international” nur eine lose Assoziation bilden. So auch die Bewegung der Sozialforen, in der nationale Organisationen, und zwar vielfach höchst traditionelle wie Parteien und Gewerkschaften, das Feld beherrschen. Ihre größten Erfolge hat die Bewegung erzielt, wo es ihr gelang, Mehrheiten in nationalen Parlamenten (z.B. in Belgien, in Frankreich) für ihre politischen Projekte zu gewinnen.
2. ... aber ist er auch der alte?
Das Paradox ist offenkundig: Die Botschaft vom unausweichlichen Niedergang des National- und Territorialstaats wird verkündet, während derselbe Nationalstaat den Höhepunkt seiner historischen Karriere erreicht. Das war erst nach 1989/90 der Fall; der Prozess der Neubildung von Nationalstaaten ist noch in vollem Gang – in allen Teilen der Welt. Die Weltpolitik wird mehr als je zuvor von souveränen Nationalstaaten gemacht – unsere politische Welt ist noch immer eine Staatenwelt. Auch die vielbeschworene Rede von der „global governance” kann nichts an der Tatsache ändern, dass alle möglichen nicht-staatlichen politischen Akteure (NGO’s und Allianzen von NGO’s) nur soweit eine Rolle in der Weltpolitik spielen können, als die Hauptakteure – die souveränen Staaten und die von ihnen begründeten, finanzierten und getragenen internationalen Organisationen (die IGO’s) – ihnen das erlauben. Ohne Zweifel ist die Zahl der Nicht-Regierungsorganisationen, die auf die eine oder andere Weise in der internationalen Politik mitzumischen versuchen, noch rascher gewachsen als die Zahl der Nationalstaaten; aber die vermehren sich eben auch fröhlich weiter, wie gehabt.[5] Ein zweites, schwerer wiegendes Paradoxon ist weniger offensichtlich: die Botschaft vom Ende des Nationalstaats bzw. der staatlichen Souveränität schlechthin wurde zu einem Zeitpunkt verkündet, wo die angeblich treibende Kraft, die Ursache eines angeblich fundamentalen Wandels der Staatlichkeit, die so genannte „Globalisierung” nämlich, ihren Höhepunkt schon längst überschritten hatte. Der erneute Schub der 1990er Jahre war einer historisch einmaligen und unwiederholbaren Konjunktur zu verdanken: dem Zerfall der Weltordnung des Kalten Kriegs, der bequemen Einteilung der Welt in eine Erste, Zweite und Dritte Welt, mit eigenen Domänen, mit Grenzen und je besonderen Spielregeln. Als die zweite Welt sich auflöste, mit ihr die dritte Welt, erschien der Kapitalismus „westlicher” Prägung praktisch über Nacht als die eine und alternativlose ökonomische Ordnung für die ganze Welt. Also erlebte der Kapitalismus unverhofft eine erneute Sturm- und Drangperiode, mit ihm die Staaten, die die Expansion ihrer nationalen Exportwirtschaften mit Mann und Macht betrieben, um bei dieser beispiellosen Expansion der Weltmärkte dabei zu sein. Mit der politisch gewollten und von oben, von durchaus starken Staaten betriebenen Öffnung ganzer, zuvor abgeschlossener Nationalökonomien (China, Vietnam z.B.) fielen der kapitalistischen Weltökonomie schnell und mühelos gewaltige neue Märkte, enorme Mengen von Ressourcen, riesige Reservoirs an billigen Arbeitskräften zu. In dieser Zeit – von 1989/90 bis 2001 – haben wir mehrere, kurze und stürmische Boomperioden erlebt – und eine Serie heftiger Krisen, Finanzmarktkrisen, die die „reale Ökonomie” vieler Länder schlimm beschädigt haben.
Der alte Staat hat sich verändert wie die Struktur der Weltpolitik, die er nach wie vor dominiert. Allerdings haben die wichtigsten dieser Strukturveränderungen nicht heute oder gestern, sondern in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre stattgefunden, als zum ersten Mal eine Weltwirtschaftsordnung durch formelle, multilaterale Verträge zwischen den großen Industrie- und Handelsstaaten zustande gebracht und durch besondere Institutionen, ermächtigt, finanziert und getragen von eben diesen Mächten, in Gang gehalten werden sollte. Es ist diese kollektive Aktion der kapitalistischen Hauptländer, diese Art der formellen Organisation des Weltmarkts, die das Nachkriegsregime von der kurzlebigen Freihandelsperiode und vom klassischen Goldstandard-Regime des 19. Jahrhunderts unterscheidet.[6] Dank dieser kollektiven Aktion haben Zahl und Gewicht inter- und transnationaler Institutionen, die den Weltmarkt organisieren und regulieren sollen, rapide zugenommen. Seither ist die Außenwirtschaftspolitik aller kapitalistischen Staaten nicht länger einer Sache bilateraler Abkommen (Handels-, Währungsverträge usw.), sondern formell „internationalisiert” worden. Seit der Gründung der EWG sind regionale Wirtschafts- und Währungsunionen als weitere, dauerhafte Variante hinzu gekommen.[7] All diese Institutionen werden von den Staaten bzw. Regierungen getragen, ihre Entscheidungen – die selten bindend sind – werden von den Regierungen der Mitgliedsstaaten getroffen. IWF und Weltbank werden nicht vom internationalen Finanzkapital kontrolliert, sondern von einer Handvoll mächtiger Gläubiger- (und Schuldner-)staaten. Das „Kapital” hat rasch gelernt, seinerseits private inter- und transnationale Institutionen zu kreieren, um mit der „Internationalisierung” der Weltwirtschaftspolitik Schritt zu halten. Einige wenige dieser internationalen Institutionen (wie die ILO, die OECD) haben korporatistische Strukturen, lassen also neben den Nationalstaaten auch Vertreter von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden zu Wort und Einfluss kommen – aber das sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
Nach konventioneller Weisheit ist dies System der „Bretton Woods” Institutionen in den 1970er Jahren zerbrochen. Keineswegs. Diese Institutionen sind alle noch da und sie sind heute stärker als je zuvor. Die bemerkenswerteste Neuerung in der Weltwirtschaftspolitik seit der Gründung der UNCTAD 1964 (als Interessenvertretung und Forum für die Entwicklungsländer), die Gründung der Welthandelsorganisation 1995, ist nichts anderes als die sehr verspätete Realisierung eines wesentlichen Bestandteils der neuen Weltwirtschaftsordnung, wie sie 1944/45 gedacht war. Damals scheiterte die Gründung einer Internationalen Handelsorganisation trotz Annahme der Havanna-Charta am Widerstand des US-Kongresses, das Provisorium des GATT-Abkommens (und der entsprechenden Verhandlungs-runden) blieb übrig. Im Tumult der frühen 1990er Jahre, den weltweiten Siegeszug des Kapitalismus vor Augen, wurde der Sprung zu einer Welthandelsorganisation als Hüter und zugleich Forum der Weltmarktordnung, einer Institution mit erweiterten Befugnissen, mit einer Art von internationaler Schiedsgerichtsbarkeit für Welthandelskonflikte, mit einer eigenen, internationalen Bürokratie (vergleichbar der Weltbank und dem IWF) möglich.[8] Inzwischen sind mit dem Beitritt Chinas und Vietnams fast alle wichtigen Welthandelsländer in die WTO integriert (142 insgesamt).
Die wichtigste Neuerung, damals spektakulär, heute selbstverständlich, war die Gründung eines informellen Gentleman-Clubs der kapitalistischen Großmächte – der G-7, die mit dem ersten Gipfel von Rambouillet, im Juni 1975 zustande kam. Damit wurde ein Forum der Welt(wirtschafts)politik eingerichtet, das keinerlei völkerrechtliche Grundlage hat. Wie die Pentarchie (Herrschaft der großen Fünf) im Europa des 19. Jahrhunderts haben wir also seit 1975 wieder ein informelles Konzert der Groß- und Weltmächte – und zwar neben den Vereinten Nationen, deren Autorität offiziell nicht in Frage gestellt wird. Die G-7 (mittlerweile, mit der Aufnahme Russlands als Vollmitglied im Januar 2003, G-8, und demnächst, mit der zu erwartenden Aufnahme Chinas, G-9) ist ein informeller Club der kapitalistischen Hauptländer; der sich vornehmlich mit der Koordination nationaler Wirtschaftspolitiken befasst und sich als eine Art von kollektiver Führung in der Weltwirtschaftspolitik versteht.[9] In diesem Club dominieren bislang die USA – mit wechselnden Juniorpartnern (mal Großbritannien, mal Japan, mal Deutschland). Das wird so bleiben, so lange diese Form der „Internationalisierung” der Weltwirtschafts- und -währungspolitik sich auf Nationalstaaten beschränkt. Nur die Aufnahme der EU als neue, transnationale Großmacht – an Stelle Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands und Italiens – könnte daran etwas ändern. Heute wie gestern haben wir also eine altbekannte Hierarchie in der Staatenwelt, die informelle Ordnung der Großmächte, Mittelmächte und Kleinstaaten. Nach wie vor wird die Weltpolitik von Allianzen oder Konzerten der Großmächte bestimmt; die Ungleichheit zwischen den völkerrechtlich formell gleich souveränen Nationalstaaten prägt auch die Struktur der Vereinten Nationen bis zum heutigen Tag. Die Ungleichheit der Nationen, die Ungleichheit zwischen „reichen” und „armen”, „starken” und „schwachen” Staaten hat in den letzten dreißig Jahren gewaltig zugenommen. Zweifellos haben einige Nationalstaaten in der vormals Dritten Welt ihre Weltmarktposition verbessern, ihre Kapitalisten bereichern, ihren Staat stärken können – es gibt etliche „developmental states” (Entwicklungsstaaten), die nach allen konventionellen Maßstäben sehr erfolgreich waren. Sie sind inzwischen stark genug, um Allianzen zu bilden, die (wie die G-20+, die weit stärker ist als ihr Vorläufer, die G-77) die Politik der WTO beeinflussen und den kapitalistischen Großmächten, selbst der EU, Zugeständnisse abtrotzen können. Dennoch befinden sich die „schwachen” und „armen” Staaten, die nichts haben außer einigen natürlichen Ressourcen und Heerscharen billiger Arbeitskräfte, nach wie vor im globalen „Süden”. Die Weltökonomie und -politik spielt sich im Club der „reichen” Länder ab (der OECD- und OPEC-Länder, mittlerweile erweitert um einige erfolgreiche Schwellenländer), der nach wie vor hierarchisch gegliedert ist.
Anfang der 1990er Jahre wurde eine neue, neoliberal geprägte Weltordnung verkündet. Von Konsens konnte beim so genannten „Washington Konsensus” keine Rede sein. Es handelte sich um ein Patentrezept der Wirtschafts- und Finanzpolitik mit universalem Anspruch, hinter dem als Modell die US-amerikanische Variante des Kapitalismus steckte, genauer genommen die ideologische Vorstellung, die sich die US-amerikanischen Eliten davon machen. Der Rest der Welt war keineswegs begeistert. Immerhin machten die US-Eliten damit klar, dass sie ihrem Staat die Rolle der Weltordnungsmacht zudachten: Am vorbildlichen US-Kapitalismus sollte die Welt genesen. Seither können wir mit Fug von einer Politik der „Globalisierung” sprechen, vom Projekt einer ökonomischen und sozialen Weltordnung aus einem Guss. Dazu gehört eine „Politik mit der Globalisierung”, d.h. das weltweit betriebene Propagandaspiel mit den unübertrefflichen Tugenden und wohltätigen Wirkungen „freier Märkte” und „freier Konkurrenz” für alles und jeden.[10] Der Internationale Währungsfonds hat mit seiner Politik der Strukturanpassungsprogramme (SAPs) den schwachen Staaten dies Einheitsmodell wieder und wieder aufzuzwingen versucht. Regelmäßig mit verheerenden Folgen. Daher ist er jüngst von der harten Linie neoliberaler „Reform”politik abgerückt. Aber „Reform” im Sinne der neoliberalen Utopie eines ungebremsten Kapitalismus, unregulierter freier Märkte, entfesselter Konkurrenz allerwege, wird heute von den Regierungen aller Länder eingefordert – keineswegs nur von der politischen Klasse der USA, sondern ebenso lautstark von privaten Unternehmen, von multinationalen Medienkonzernen und deren Lohnschreibern und -rednern, von internationalen Rating-Agenturen (von denen es weltweit 25 gibt, davon 20 in den USA), von den privat finanzierten Stiftungs-Think-tanks, von den Heerscharen der Unternehmensberater, die längst die Politikberatung als einträgliches Geschäft entdeckt und in weiten Teilen okkupiert haben, von den Gurus der offiziellen Universitätsökonomie, die weltweit den Einheitsdenkstil der Neoklassik predigen. Dank dieses formidablen Arsenals an allzeit bereiten Bundesgenossen und Hilfstruppen können die USA, eine Supermacht im Niedergang mit eklatanten Schwachstellen, ihren hegemonialen Feldzug für die „Globalisierung” einstweilen fortsetzen. Diese Politik der „Globalisierung”, der aktiven Propaganda für ein Kapitalismusmodell, das weder vorbildlich noch überlegen ist und mehr Krisen produziert als es bewältigen kann, betrieben von einer höchst altmodischen (wenn auch technologisch führenden) Militärmacht, die spätestens seit 1968 ständig über ihre Verhältnisse, d.h. auf Kosten des Rests der Welt lebt, darf man durchaus „imperialistisch” nennen. Nicht-territoriale Handels- und Finanzimperien, die sich um staatliche Grenzen und Hoheiten wenig scheren, kennt der moderne Kapitalismus seit dem frühen 16. Jahrhundert; das britische Empire war in seinen Hochzeiten alles andere als ein klassisches Kolonialreich (anders als z.B. das holländische Imperium), Britannia herrschte lieber informell und indirekt, ohne Anspruch auf territoriale Oberhoheit, die sich auf die Kernländer des Empire beschränkte. Vom „King Cotton” (der Baumwollökonomie) zu schweigen, einem Imperium, das sich auf die enge, transatlantische (interkontinentale) Verflechtung verschiedener Produktions- und Handelszweige in verschiedenen Staaten bzw. deren Kolonien gründete.
Die USA waren es, die in den letzten Jahren für die Wiederkehr der angeblich so ganz veralteten internationalen Politik, des Kampfs der Nationalstaaten um Territorien, um Ressourcen und Märkte, um Einflusszonen gesorgt haben. Der einstige Hegemon der kapitalistischen Nachkriegsordnung hat schon früh, in den 1970er Jahren, eine radikale Wende zur strikt nationalen, an den Interessen des nationalen Kapitals ausgerichteten Wirtschaftspolitik vollzogen. Seither betreiben sie eine klassische Freihandelspolitik nach britischem Muster: Selektive Marktöffnung plus Protektionismus für die eigenen Industrien, Druck auf alle anderen Länder, ihre Märkte für US-Exporte, etwa die Produkte der massiv subventionierten US-Agroindustrie, zu öffnen.[11] Unter der Bush-Regierung haben die USA die Wendung zu einer offen imperialen Politik vollzogen – mit dem erklärten Willen und der Fähigkeit zur militärischen Intervention überall und jederzeit, wo immer amerikanische Interessen bedroht seien, mit dem ausgesprochenen Willen, jeden Rivalen rechtzeitig auszuschalten. Eine Weltmacht, die bereit und imstande ist, Länder und Regionen der Erde, die für sie (z.B. für ihre Energieversorgung oder für ihren Handel) wichtig sind, zu besetzen und neu zu ordnen, die Protektorate, Dominions, Vasallenstaaten einrichten kann und will, fällt nicht mehr unter die Kategorie des „nicht-territorialen Imperiums”.[12]
Es gibt also gute Gründe, mit der Rede von der Internationalisierung oder Transnationalisierung „des Staates” vorsichtig zu sein. Wenn nicht mehr gemeint ist als eine gewachsene (und höchst asymmetrische) Interdependenz der kapitalistischen Staaten und Nationalökonomien untereinander, sollte man das auch sagen. Von „Globalisierung” des Staates kann im Ernst keine Rede sein (Shaw 2000). Einen Weltstaat gibt es so wenig wie ein globales Kapital. Gemeint ist das informelle US-Imperium. Das stößt allerdings gerade dank der „Internationalisierung” der Politik überall an seine Grenzen, da die übrigen kapitalistischen Staaten, die Schwellenländer voran, sich keineswegs widerspruchslos dem Willen der USA beugen. Im Gegenteil: Innerhalb der internationalen Organisationen formieren sich oft genug Allianzen schwächerer Staaten gegen die USA und ihre Juniorpartner, wie die jüngste Doha-Verhandlungsrunde der WTO wieder einmal gezeigt hat.
3. Nachrichten von der Impotenz des Staates und der Politik sind reichlich übertrieben
Die „Globalisierung” hat dem Nationalstaat keineswegs den Garaus gemacht. Nicht alle Staaten sind dem „globalen Kapital” machtlos ausgeliefert, die Staaten in den Kernländern der weltwirtschaftlichen Triade sind es sicher nicht. Vom neoliberalen Ideal des schlanken und allein den Eigentümern dienstbaren Staates sind wir noch weit entfernt. Die klassische Trias der Staatsfunktionen – Rechtsstaat, Steuerstaat, Sozialstaat – hat sich keineswegs aufgelöst, weder die repressive noch die infrastrukturelle Macht des Staats ist geschwunden, ganz im Gegenteil. Grenzen sind nach wie vor wichtig, ebenso wie räumliche Distanzen und Territorien.[13] Die klassischen Staatsmonopole – der Kern der Souveränität im modernen Sinn (Gewaltmonopol, Rechtsmonopol, Steuermonopol, Geldmonopol und das Politikmonopol im weiteren Sinn) – sind trotz Privatisierung zahlreicher Staatsaufgaben immer noch da. Alle hier und heute relevanten „Grenzen der Globalisierung” sind politischer Art, von souveränen Staaten gesetzt, die unterschiedliche Rechtssysteme, unterschiedlich ausgeformte Märkte, unterschiedliche „Formen des Kapitalismus” voneinander absetzen.[14] Manche Staaten sind besser imstande, der „Globalisierung” Grenzen zu setzen als andere (z.B. ist sind die EU-Länder äußerst erfolgreich im Abschotten ihrer Außengrenzen gegen unerwünschte Zuwanderer, viel erfolgreicher als die Staaten im globalen „Süden”, in denen sich die Migration heute zum allergrößten Teil abspielt).
Gegen den Mythos vom „machtlosen” alten Staat sprechen viele Gründe und etliche Fakten, auch statistische Fakten, die man kennen sollte:
Erstens beruht die Vorstellung vom machtlosen Staat auf der Phantasievorstellung eines goldenen Zeitalters, in dem die Staaten ungeteilte Souveränität genossen und alles unter Kontrolle hatten, was sich auf ihren Territorium bzw. an ihren Grenzen abspielte, also in jeder Hinsicht mächtiger waren als heute. Dem war nie so, weder der Weltmarkt noch die Nationalökonomien unterlagen je einer vollständigen Staatskontrolle. Vom Mythos eines „Westfälischen Systems” der souveränen Nationalstaaten, das angeblich von 1648 an bestand und erst vor kurzem untergegangen sei, kann und soll man sich verabschieden (vgl. Teschke 2003). Weder war die Souveränität der Staaten je absolut, noch herrschte im Staatensystem reine „Anarchie”; die moderne Weltpolitik war und ist geprägt von „Weltordnungen”, die von einigen Groß- und Weltmächten gemacht wurden. Im Blick auf die Geschichte des Weltmarkts gilt: Souverän ist der Staat, der andere zum Welthandel zwingen, ihnen seine Wirtschafts- und Sozialordnung aufzwingen oder schmackhaft machen kann. Solche Staaten gab es selten.
Zweitens waren es die politischen Eliten der kapitalistischen Hauptländer, der großen Industrie- und Handelsstaaten, die sich im eigenen, nationalen Interesse für einen Kurswechsel der Politik entschieden haben, um der Krisen Herr zu werden, in denen die kapitalistische Welt seit 1973/74 steckte. Das geschah nicht ohne heftige politische Kämpfe, die Hegemonie des Neoliberalismus fiel nicht vom Himmel, die politische Klasse hatte durchaus eine Wahl. Es waren keineswegs die „Technologie” oder die Weltmärkte oder das „globale” Kapital (das es damals so wenig gab wie heute), was die Regierungen in diesen Ländern zu einer Politik der Öffnung ihrer nationalen Ökonomien für Waren, Geld und Kapital zwang.[15] Die Regierungen entschieden sich für eine anscheinend neue Politik (der Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung) im eigenen, nationalen Interesse. Bis heute ist diese Politik in den kapitalistischen Hauptländern nicht vollständig durchgeführt worden – nach wie vor handeln alle Regierungen, auch die EU als Ganze, selektiv protektionistisch, wiederum im Interesse ihrer eigenen, nationalen Industrien. Die internationale Konkurrenz ist auch heute keineswegs eine unwiderstehliche Kraft, der sich jeder Nationalstaat beugen muss. Es sind die schwachen Staaten, die sich beugen müssen – und zwar nicht dem Druck des anonymen Weltmarkts allein. In aller Regel sind einige starke Staaten, kapitalistische Großmächte, mit von der Partie, wenn es um das Öffnen und Erschließen von Märkten geht.
Eins und zwei zusammen gedacht, ergibt drittens: Die Staaten sind nicht gleich, sie waren es nie, und sie sind in jüngster Zeit noch ungleicher geworden. Nach wie gilt die alte Weisheit: Alle Staaten sind souverän (so die altehrwürdige Maxime des Völkerrechts), aber manche sind souveräner als andere. In der Tat war die Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, der Schwenk zur neoliberalen Politik-Agenda der universellen Patentrezepte, nicht die freie Entscheidung aller Regierungen aller Länder, vielen ist sie aufgezwungen worden – aber nicht vom Kapital, von der Technologie, sondern von kombinierten politischen Aktionen – Aktionen der US-Regierung und der zahlreichen internationalen Organisationen, die wie der IWF von den USA dominiert und als Instrument ihrer Weltmachtpolitik benutzt werden.
Viertens kann von einem Schrumpfen des Staats im Ernst nicht die Rede sein. Wenn wir den konventionellen Maßstab für die Größe und das ökonomische Gewicht eines Staates nehmen, das Volumen seiner Ausgaben (schulden- und steuerfinanziert), dann zeigen uns die verfügbaren Daten der internationalen Statistik (z.B. der OECD oder der Weltbank oder des IWF), dass das Volumen der gesamten Staatsausgaben in allen kapitalistischen Ländern seit 1970 ständig gestiegen ist und weiter steigt – mit wenigen Ausnahmen. Es gibt nach wie vor erhebliche nationale Unterschiede und es gibt eine merkliche Verlangsamung des Wachstums der Staatsausgaben in den meisten kapitalistischen Ländern nach 1985, aber nichts kann die Rede von einem Rückzug oder Schrumpfen des Staates rechtfertigen (vgl. Tanzi/Schuknecht 2000). Im Gegenteil: Eine der am besten bestätigten Hypothesen in der politischen Ökonomie besagt, dass der Umfang des öffentlichen Sektors bzw. des Staatsanteils an der gesamten nationalen Ökonomie umso größer ist, je „offener” die Ökonomie des betreffenden Landes, d.h. je stärker sie vom Weltmarkt abhängig ist (vgl. z.B. Rodrik 1998). Wie es aussieht, geht die wachsende internationale Mobilität des Kapitals wenigstens in den OECD-Ländern einher mit wachsenden, nicht sinkenden Staatsausgaben (vgl. Quinn 1997). Ab 1995 lässt sich eine Verlangsamung des Wachstums der Staatsausgaben in den kapitalistischen Hauptländern konstatieren – d.h. nachdem in diesen Ländern bereits seit vielen Jahren eine neoliberal inspirierte Sparpolitik getrieben wurde. Die einzige statistische Korrelation, die die Daten (vor allem der Weltbank) hergeben, besagt: Je mehr Liberalisierung des Welthandels und der Finanzmärkte (also je mehr „Politik der Globalisierung”), desto langsamer das Wachstums der gesamten Staatsausgaben.
Aber sie wachsen nach wie vor. Und zwar wächst der Staat nicht nur als Sozialstaat (siehe unten), sondern vor allem in seinen klassischen Funktionen. Sehen wir vom nach wie vor eindrucksvollen Wachstum der altmodischen „warfare states” (der staatlichen Militärmaschinerien) ab, dann ist der Staat als „Sicherheits“- und Überwachungsstaat (vulgo als Polizeistaat) nie zuvor so groß, so teuer und so mächtig gewesen wie heute. Selbst die entschiedensten Verkünder der Lehre vom Autoritätsverlust des Staates (z.B. Strange 1996) können nicht bestreiten, dass Ausmaß und Intensität der staatlichen Regulierung privater ökonomischer Aktivitäten in jüngster Zeit zu- und nicht abgenommen haben. Da ohne Staat kein Markt zu machen ist, kann man sich einen erweiterten Weltmarkt mit heftiger internationaler Konkurrenz ohne stärkere Staaten schwerlich vorstellen (vgl. Krätke 1995).[16] Zumal die jüngste Revolution des Weltmarkts in vielen Teilen der Welt dem Erfolg zahlreicher „Entwicklungsstaaten” (developmental states) zu verdanken ist, die ihre jeweiligen Nationalökonomien erfolgreich in den Export und die Weltmarktkonkurrenz getrieben haben.
Fünftens ist der Staat als Steuerstaat keineswegs schlanker oder schwächer geworden, im Gegenteil. Keine der üblichen Behauptungen stimmt. Obwohl es einen Steuerwettbewerb, sogar einen Steuersenkungswettlauf um die Gunst des mobilen Kapitals gab und gibt, sind die gesamten Steuereinnahmen in den EU- und OECD-Ländern seit 1980 unablässig gestiegen – auf heute gut 40 Prozent des BIP im OECD-Durchschnitt. Die Steuerstruktur hat sich keineswegs radikal verändert, nicht einmal die Steuern auf Unternehmensgewinne und Vermögen sind gesunken, im Gegenteil, ebenso wenig wie das Aufkommen der persönlichen Einkommensteuer, allen spektakulären Steuersenkungen zum Trotz, gesunken ist (vgl. z.B. Hobson 2003). Offensichtlich haben die Staaten ihre Steuergewalt (power to tax) keineswegs eingebüßt. Die „Globalisierung”, der Steuerwettbewerb der Nationen (soweit er stattfindet) haben die finanzpolitischen Handlungsspielräume der Staaten zugleich vergrößert und beschränkt, aber nicht generell herunter gebracht.
Sechstens ist es ein von interessierter Seite verbreitetes Märchen, dass der Staat als Sozialstaat insgesamt schwächer geworden sei und sich weltweit auf dem Rückzug befinde. Mitnichten. Seit 1980 sind die Sozialausgaben in allen entwickelten kapitalistischen Ländern unablässig gestiegen, aller „Globalisierung”, aller neoliberalen Spar- und „Reform”politik zum Trotz. Zwar ist das Ausgabenwachstum verlangsamt worden, da die meisten Sozialstaaten die Sozialleistungsempfänger heute strikter und umfassender kontrollieren als je zuvor und die Sozialleistungen, in erster Linie für die Arbeitslosen und Armen, reduziert haben. Insgesamt sind die Sozialstaaten weniger großzügig, aber nicht weniger kostspielig geworden; von einem radikalen Sozialabbau kann nur in wenigen Fällen die Rede sein. Sozialleistungen sind gekürzt und teilweise privatisiert worden, in den meisten Ländern stiegen die Soziallasten für alle, ausgenommen die Privatunternehmen; aber auch die Soziallöhne sind (netto und real) in den meisten Sozialstaaten in den letzten fünfzehn geringfügig, aber doch gestiegen (vgl. Swank 2003). In Deutschland wie in anderen Exportnationen lässt sich der Zusammenhang zwischen gewachsener Weltmarktabhängigkeit und steigenden sozialpolitischen Kompensationsleistungen leicht nachweisen.
Siebtens spricht viel gegen die allseits beliebte These von der „Diktatur der Finanzmärkte”, vor der sich jeder Staat, wie groß und finanzkräftig auch immer, beugen müsse. Alle modernen Staaten sind dauerhaft verschuldet, aber sie sind deshalb nicht im gleichen Masse abhängig von ihren Gläubigern. Die internationalen Finanzmärkte behandeln die einzelnen Staaten sehr unterschiedlich, aber gerade die hochverschuldeten und reichen kapitalistischen Hauptländer, die die Weltmärkte dominieren, haben keinerlei Schwierigkeiten, ihre Staatsschuldpapiere an den Mann zu bringen.[17] Die schwachen Staaten armer Länder haben dagegen große Schwierigkeiten, bezahlbare Kredite zu bekommen und werden von den Finanzmärkten gerne schikaniert. Den Regierungen der meisten OECD- und EU-Länder dagegen bleibt nach wie vor ein beträchtlicher Spielraum für eigene politische Entscheidungen, anders als den Regierungen der Entwicklungs- und Schwellenländer, die regelmäßig unter Druck gesetzt werden und mit finanziellen Sanktionen rechnen müssen (vgl. Mosley 2003). Darüber brauchen sich deutsche oder schweizerische Regierungen als erstklassige Schuldner, die sie sind, keine Sorgen zu machen.
Last but not least: Die oft behauptete „Konvergenz” der nationalen Kapitalismen hat bislang nicht stattgefunden. Die Staaten der Welt haben sich keineswegs dem US-amerikanischen Modell angenähert, ganz im Gegenteil. Daraus folgt, dass die Regierungen eben nicht überall genau die gleiche Art Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik machen. Sie wären nicht einmal imstande, die gleiche Politik zu machen, auch wenn sie es wollten. Denn die gewachsenen, institutionell fest verankerten Unterschiede der nationalen Kapitalismen, eng verflochten mit der politischen Struktur und durchdrungen von der besonderen politischen Kultur der verschiedenen Länder, lassen das nicht zu.[18] Selbst die weit fortgeschrittene Integration der nationalen Ökonomien innerhalb der EU hat diese institutionellen Unterschiede – z.B. des Arbeitsmarkts, der Finanz-märkte, der Unternehmensformen – nicht zum Verschwinden gebracht.
4. Der Kampf um den Weltmarkt – gibt es eine linke
Weltwirtschaftspolitik?
Wer eine andere Welt, eine andere Weltwirtschaftsordnung für möglich und wünschenswert hält, sollte dem Märchen vom „machtlosen” Staat und „allmächtigen” Kapital mit gesundem Misstrauen begegnen. Eine andere Politik ist möglich, gerade weil uns die „Globalisierung” einen größeren und stärkeren Staat beschert hat. Für eine andere Politik braucht es einen intelligenteren Staat, mit erweiterten Kapazitäten und Kompetenzen, der die Dummheit der politischen Klasse und ihrer Ideologen in Schach halten kann.
Für alles, was die globalisierungskritische Linke weltweit propagiert, braucht es einen starken Staat. Eine Strategie der „Deglobalisierung” und Entschleunigung, wie sie z.B . Walden Bello für den „Süden” propagiert, ist ohne starke Nationalstaaten im „Süden” undenkbar. Im alten Europa ist eine Renationalisierung der Politik im Zeichen der „Standortkonkurrenz” und der „Erhaltung der Arbeitsplätze” im Gange. Es sind die nationalen Eigeninteressen der Mitgliedsstaaten, die Konflikte zwischen „reichen” und „armen” Ländern innerhalb der EU, der wütende Konkurrenzkampf auf dem und um den EU-Binnenmarkt, der die EU einstweilen hindert, ihr Potential als konkurrierendes, nicht-territoriales Imperium des europäischen Kapitals in der Weltökonomie und -politik zum Tragen zu bringen. Die europäische Linke steckt daher in einem Dilemma: Sie braucht für jede andere Wirtschafts- und Sozialpolitik den starken Staat, die Renationalisierung der Politik muss sie fürchten, den EU-Imperialismus im Kampf um den Weltmarkt kann sie nicht wollen.
Auf der Linken gibt es durchaus Vorstellungen von einer anderen, nicht- und nachkapitalistischen Weltwirtschaftsordnung (vgl. Alternatives 2002). Eine andere Wirtschafts- und Sozialpolitik ist auch in Zeiten der „Globalisierung” noch möglich (vgl. die Beiträge in Baker u.a. 1998 und die Euromemoranden, zuletzt das Euromemorandum 2005). Aber die Linke, zumal die Bewegungslinke braucht mehr, wenn sie über den nationalstaatlichen oder EU-Rahmen hinaus denken und gehen will. Wir haben nicht zu viel, wir haben zu wenig „global governance”, die überdies von den falschen Institutionen betrieben und von einer Vielzahl von privaten, selbsternannten Gentleman’s Clubs der ökonomischen „Eliten” beeinflusst und teilweise auch dominiert wird.[19] Die EU ist keineswegs die einzige transnationale Organisation, die ein erhebliches Demokratie-Defizit aufzuweisen hat, Reformbedarf gibt es auch bei der OECD, bei der WTO, beim IWF, bei der Weltbank usw. Mit der Aufnahme einiger NGO’s als Beobachter ohne Stimmrecht (so wie in einigen UN-Unterorganisationen und mittlerweile auch in der WTO gebräuchlich) ist es nicht getan. Eine debattierende Gegenöffentlichkeit zur offiziellen Welt der global governance gibt es bereits in Gestalt der Sozialforen. Aber die sind von einer politisch handlungsfähigen neuen „Internationale” noch weit entfernt.
Nach dem Zerfall des „Washington Konsensus”, mit dem es außerhalb der so genannten Eliten auch nie weit her war, brauchen wir einen neuen Anlauf für eine Weltwirtschaftsordnung, ein neues „Bretton Woods”. Auf zentralen Gebieten der heutigen Weltwirtschaftspolitik fehlen uns legitime und politisch handlungsfähige Institutionen. Ein neues „Bretton Woods” ohne eine neue Organisation, die sich mit der Kontrolle und Regulierung der internationalen Finanzmärkte befasst, ohne eine Weltsteuerbehörde (World Tax Agency), ohne eine weltweit aktionsfähige Clearing-Union, ohne eine Welt-Migrationsbehörde, ohne eine neue UN-Organisation, die sich mit der Kontrolle über die multinationalen Konzerne befasst, ohne Weltumweltbehörde wäre ein Witz. Einige altehrwürdige Institutionen wie die ILO könnten eine Erweiterung ihrer Kompetenzen, ein „empowerment” wohl vertragen, andere, wie der IWF und die Weltbank und die WTO müssten gründlich, an Haupt und Gliedern reformiert und der Autorität der UNO unterstellt werden – was sie im Moment de facto nicht sind. Auf eine Denkpause, eine vom lieben Gott gesandte Windstille im Weltwirtschaftskrieg darf niemand hoffen, also gilt es, das Schiff auf hoher See, ohne sicheren Hafen, neu zusammen zu bauen und neu zu bemannen.
Die Linke, zumal die gewerkschaftliche Linke steht überall, in allen kapitalistischen Ländern unter dem gleichen Druck – dem Druck der ständigen Abwanderungs- und Verlagerungsdrohungen des mobilen Kapitals. Da das Kapital weit weniger mobil ist als seine Ideologen verkünden, sind längst nicht alle diese Drohungen ernst zu nehmen. Aber sie wirken. Daher wäre es ein schon ein gewaltiger Fortschritt, wenn sich die Linke, wenigstens innerhalb EU-Europas, auf die Grundzüge einer Alternative zur gnadenlosen Konkurrenz der Proletarier aller Länder gegeneinander verständigen könnte. Es sind nicht die niedrigen Löhne, es sind die fehlenden oder mangelhaften Rechte, Koalitionsrechte, soziale Rechte, Arbeitsschutzstandards, gesetzliche Arbeitszeitnormen, die die Proletarier Osteuropas oder der vormaligen Dritte-Welt-Länder zu gefährlichen Konkurrenten machen. Der Wettlauf nach unten (race to the bottom) bei Löhnen, Arbeitsbedingungen, sozialen Rechten ist aufzuhalten, wenn sich die Linke zu einem Kampf für die elementaren Rechte der Arbeiter in allen kapitalistischen Ländern, in Europa ebenso gut wie in China und in Indien aufraffen kann. Es gibt Konzepte, es gibt sogar Strategien für eine Neuordnung der Weltwirtschaft von links und nach links. Vorausgesetzt, dass die Linke den Köhlerglauben an die alles überwältigende Naturgewalt der „Globalisierung” aufgibt und begreift, dass es um Politik geht – Weltpolitik mit dem hohen Anspruch, eine andere, bessere Weltwirtschaftsordnung und -sozialordnung gegen die heutige, von den USA dominierte „Politik der Globalisierung” zu setzen.
Literatur
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[1] Sobald die ersten Atom-U-Boote, bestückt mit Interkontinentalraketen mit einer Reichweite von ca. 5000 km in Dienst gestellt waren, veränderte sich das militärische Szenario noch einmal radikal. Da keine der größeren Städte der Erde mehr als 2000 km von der nächsten Küstenlinie entfernt war und ist, gab und gibt es keinen wichtigen Ort der Erde, der nicht jederzeit mit Atomraketen angegriffen werden könnte. Militärische Sicherheit im Sinne von Unangreifbarkeit ist spätestens seit Mitte der 1960er Jahre eine Illusion.
[2] Die Angst vor der unkontrollierbaren Macht der Multis führte sogar zur Gründung einer eigenen UN-Agentur, der Commission on Transnational Corporations Anfang der 1970er Jahre.
[3] In der längst vergessenen Imperialismus-Debatte, die Anfang des 20. Jahrhunderts geführt wurde, hatte man das schon differenzierter gesehen. Einige immerhin bestanden auf dem Zusammenhang gegenläufiger Prozesse der „Internationalisierung” und „Nationalisierung” – nicht nur des Kapitals (vgl. z.B. Bucharin 1929). Für heutige Denkgewohnten, getrimmt auf Schwarz-Weiss, ist das schon zu viel Dialektik.
[4] Henri Lefebvre hat diese erstaunliche Karriere des Nationalstaats bereits Mitte der 1970er Jahre in seinem Buch über den Staat klar beschrieben – er bezeichnete genau diesen Prozess als „mondialisation de l’état” (vgl. Lefebvre 1976).
[5] Dem aufmerksamen Zeitungsleser wird nicht entgangen sein, dass vor kurzem wieder ein selbständiger Nationalstaat, nämlich Montenegro, seine Unabhängigkeit proklamiert und damit die Aufnahme in die internationale Staatengemeinschaft beantragt hat. Im Verlauf weniger Jahre, mit dem Zerfall der sozialistischen Empires, ist selbst das alte Europa um fast ein Dutzend Nationalstaaten reicher und bunter geworden.
[6] Der klassische Goldstandard ist, trotz einiger internationaler Konferenzen, ganz informell zustande gekommen und kam ohne besondere Institutionen aus. De facto regulierte eine nationale Zentralbank, die Bank von England, die internationalen Geld- und Kapitalströme, weil sich der mit weitem Abstand größte und wichtigste internationale Finanzmarkt, das finanzielle Zentrum der kapitalistischen Welt, in London befand und weil die gesamte kapitalistische Welt britische Staatspapiere kaufte.
[7] Bis dahin kannte die Geschichte der kapitalistischen Weltwirtschaft nur wenige kurzlebige Beispiele solcher regionaler Zusammenschlüsse von Nationalstaaten und -ökonomien, in der Regel Währungsunionen. Nach 1989/90 sind zahlreiche solcher regionaler Zusammenschlüsse von Nationalstaaten überall auf der Welt entstanden; keiner geht wesentlich über eine Freihandelszone hinaus, keiner hat auch nur entfernt ein Niveau der grenzüberschreitenden Verflechtung und Integration der Nationalökonomien erreicht wie in der EU.
[8] Damit sind bilaterale Handelsverträge als Instrument der Welthandelspolitik keineswegs verschwunden. Aber es sind in erster Linie die kapitalistischen Groß- und Weltmächte wie die USA und die EU, die sich diese Politik der selektiven Vorzugsbehandlung einzelner Handelspartner leisten können.
[9] Je nach Agenda wird der innere Kreis des Clubs erweitert – z.B. zur G-10 oder G-11, in der auch einige Mittel- oder Kleinstaaten wie die Niederlande oder die Schweiz mitmischen, weil sie zu den großen Finanzmächten gehören. Die diversen Dollarkrisen seit 1971 haben die G-7 (und die erweiterten Clubs) hauptsächlich beschäftigt, die Dollar-Diplomatie fand im wesentlichen hier statt und wurde immer wieder mit feierlich verkündeten Abmachungen und Vereinbarungen besiegelt (die völkerrechtlich den Status von unverbindlichen Gentlemen’s agreements hatten und mangels Gentlemen rasch gebrochen wurden).
[10] Das Erheiterndste an der Sache sind die linken Intellektuellen, die in höchst kritischer Absicht die Mythen der Globalisierung, die Märchen von der Allmacht des globalen Kapitals und der Ohnmacht des Staates wiederkäuen und nicht merken, welche Rolle sie in welchem Spiel spielen.
[11] Die USA waren bis zum Vorabend des zweiten Weltkriegs in erster Linie ein Agrarexporteur, der größte der damaligen kapitalistischen Welt. Sie sind heute noch der weltgrößte Agrarexporteur – daher ihr Dauerkonflikt mit den Ländern der vormaligen Dritten Welt, deren Ressourcen sie ausbeuten, deren Märkte sie nutzen, deren Produkte sie aber nicht haben wollen. Von den USA aus gesehen sollen diese Länder nützliche Mitglieder des informellen US-Imperiums sein und bleiben, d.h. ihre Ressourcen an US-Unternehmen verkaufen oder verpachten und mit den Dollars, die sie dafür erhalten, Produkte der US-Exportindustrie kaufen. Dafür konnte bisher noch jedes autokratische Regime auf den Schutz des US-Staates rechnen – bis hin zur militärischen Intervention.
[12] Das hören die politischen Eliten hüben und drüben gar nicht gern. „Ich bitte Sie, die Vereinigten Staaten sind doch kein Imperium”, so das Credo des Joschka Fischer.
[13] Transport- und Kommunikationskosten sind insgesamt dank mehrerer technologischer Revolutionen erheblich geschrumpft, nicht aber die „Transaktionskosten” für grenzüberschreitende Geschäfte insgesamt. Die sind, etwa für Finanzmarkttransaktionen, immer noch bedeutend höher als die Transaktionskosten innerhalb der jeweiligen Nationalökonomien – innerhalb der EU beträgt die Relation 1: 4, weltweit 1: 10. Es ist ein Ammenmärchen, dass räumliche Distanzen ökonomisch bedeutungslos geworden seien. Bei Distanzen von bis zu 1.000 km gibt es in der Tat keinen messbaren Effekt auf das Volumen von Handel, Direkt- und Portfolioinvestitionen, jenseits dieser Schwelle dagegen sehr wohl. Bei Distanzen von mehr 4.000 km verschwinden bereits 82 Prozent des Handelsvolumens, 44 Prozent der Direkt- und 70 Prozent der Portfolioinvestionen (vgl. Venables 2001). Der Einfluss räumlicher Distanzen erklärt also, warum der relativ kleine Raum Europa die am stärksten integrierte ökonomische Region der Welt bildet.
[14] Die meisten Globalisierungskritiker sehen daher die Grenzen der „Globalisierung” völlig falsch, bzw. nehmen nur solche Grenzen wahr, die mit dem aktuellen Stand der Dinge und der Entwicklung in den nächsten 10 bis 20 Jahren nichts zu tun haben.
[15] Für die kritische Kritik in der internationalen politischen Ökonomie gilt leider nach wie vor: Kratzt den Marxisten und der technologische bzw. ökonomische Determinist kommt zum Vorschein, der von historischen Konjunkturen und wirklichen politischen (Klassen)kämpfen nichts wissen will, auch wenn er sie ständig im Mund führt. Unsere marxistischen Freunde haben bis heute nicht begriffen, dass die „Globalisierung” in erster Linie ein politisches Phänomen ist, ebenso wie die „Internationalisierung” oder „Multinationalisierung” des Kapitals.
[16] Eine „Inter-“ oder „Transnationalisierung” von Teilen dieser Regulierung und Kontrolle bedeutet keineswegs, dass die klassisch nationalstaatlichen Agenturen dadurch nichts mehr oder auch nur merklich weniger zu tun hätten, im Gegenteil.
[17] Obwohl die USA die mit weitem Abstand größte Defizitökonomie der Welt sind, beruht das gesamte Weltwährungs- und Finanzsystem, in dem der US-Dollar die Rolle des Weltgeldes für die Finanz- und für die wichtigsten Warenmärkte spielt, auf der ungebrochenen Bereitschaft der internationalen Finanzmarktakteure, jederzeit und überall US-Treasury Bonds zu kaufen und zu halten.
[18] Dies war das Hauptargument, das Linda Weiss schon Ende der 1990er Jahre gegen die These vom „machtlosen Staat” ins Feld geführt hat (vgl. Weiss 1998).
[19] Ich nenne nur das World Economic Forum und die G-30, die nicht aus Repräsentanten von Staaten besteht, sondern aus Vertretern der internationalen Hochfinanz bzw. der Expertokratie und sich, ebenso wie die vergleichbaren privaten Clubs auf EU-Ebene, sehr erfolgreich in die Politik der Regulierung der Finanzmärkte einmischt.