Staat – Imperialismus – Ideologie

Die USA und das Öl

Das amerikanische Energieproblem, der Cheney-Report und die US-Außenpolitik

Dezember 2006

I

Als die Regierung George W. Bush 2001 ihre Arbeit begann, waren ihre intern abgesprochenen Prioritäten nicht der Kampf gegen den Terrorismus oder die Suche nach Massenvernichtungswaffen, oder irgendein anderes der Ziele, die Bush nach dem Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 noch so erklärt hatte, sondern etwas ganz anderes, ausgesprochen Praktisches: Die Sicherstellung und Erhöhung des regelmäßigen Zuflusses von Erdöl aus ausländischen Fördergebieten in die Vereinigten Staaten von Amerika. Dabei handelte es sich nicht allein um die Bedienung begehrlicher Profitinteressen der mit Bush eng vernetzten Petroleumindustrie, sondern um ein durchaus rationales nationales Anliegen. In den Monaten unmittelbar vor Bushs Amtsantritt hatten die USA eine ganze Reihe von unangenehmen bis peinlichen Energieversorgungs-Engpässen erleben müssen, die in Kalifornien zum Teil zu längeren Stromabschaltungen geführt hatten. Einige Wochen lang musste Strom zu erhöhten Preisen über das nordamerikanische Verbundnetz aus Kanada eingeführt werden – was dort (aufgrund von NAFTA-Regeln) zeitweilig ebenfalls die Strompreise in die Höhe trieb. Und all dies vor dem Hintergrund einer ominösen statistischen Wendemarke: In den späten neunziger Jahren kletterte der Anteil von importiertem Öl am nationalen Ölverbrauch zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten über die 50%-Marke. Es gab also durchaus berechtigte Anlässe zur Sorge, dass irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft die Energieversorgung der US-Bevölkerung prekär werden könnte.

George W. Bush kündigte praktisch mit seiner Amtsübernahme an, dass das offensive Angehen der nationalen „Energiekrise“ die wichtigste Aufgabe seiner Regierungszeit werden würde. Er und seine Berater (hauptsächlich rekrutiert aus dem Project for the New American Century) waren zu der festen Ansicht gelangt, dass eine Absicherung der kontinuierlichen Versorgung bis etwa zur Jahrhundertmitte absolut unerlässlich sei – erst dann sei mit der Massenverfügbarkeit alternativer Energiequellen, vor allem für den Individualverkehr, zu rechnen. Bis dahin sei die Verfügbarkeit von billigem Erdöl unverzichtbar nicht nur für die wirtschaftlichen Interessen großer amerikanischer Industrie- und Dienstleistungskonzerne, sondern darüber hinaus für das Wohlergehen und den sozialen Frieden der gesamten Nation.[1] Sie rechneten vor, wie Engpässe in der Energieversorgung verheerende Auswirkungen haben würden auf die Automobilindustrie, die Luftfahrtgesellschaften, die Bauindustrie, die petrochemische Industrie, die private Mobilität, das Transportwesen und nicht zuletzt auch auf die Landwirtschaft. Mit zwei Fünfteln hat das Erdöl den größten Anteil an Amerikas Gesamtenergieverbrauch – und es ist dann natürlich auch besonders deswegen wichtig, weil das Öl die bei weitem größte Energiequelle für das Transportwesen und den privaten Autoverkehr ist. Nebenbei hatten die Planer natürlich auch im Blick, das das Öl eine ganz zentrale Rolle für die „nationale Sicherheit“ spielt, nämlich als unersetzbarer Treibstoff für Amerikas riesige Flotte an Panzern, Kampfflugzeugen, Hubschraubern und Kriegsschiffen, die das harte Rückgrat der amerikanischen Kriegsmaschine bilden.

Knapp zwei Monate nach Bushs Amtsantritt, am 19. März 2001, fand in Washington unter Vorsitz von Energieminister Spencer Abraham ein Nationales Energie-Gipfeltreffen (National Energy Summit) statt, eine Art teach-in mit Vertretern aus Regierung, Wirtschaft und Wissenschaft. Auf diesem Treffen erklärte Abraham u.a.: „Amerika steht vor einer größeren Energieversorgungskrise irgendwann in den nächsten 20 Jahren. Wenn es uns nicht gelingt, diese Herausforderung zu meistern, dann wird unser Wohlstand ernsthaft bedroht sein, unsere nationale Sicherheit wird gefährdet sein und wir werden im wahrsten Sinne des Wortes unseren Lebensstil von Grund auf ändern müssen.“[2]

Als eine der ersten Maßnahmen nach seinem Amtsantritt setzte Bush eine nur ihm zuarbeitende Arbeitsgruppe für Energiepolitik ein, die National Energy Policy Development Group (NEPDG). Sie wurde bestückt mit hochrangigen Regierungsbeamten, denen der Auftrag erteilt wurde, einen langfristigen strategischen Plan für eine amerikanische Energiepolitik zu entwickeln. Vorsitzender dieser Arbeitsgruppe wurde Bushs engster politischer Kumpan und Ratgeber, Vizepräsident Dick Cheney. Cheney war bekanntlich Verteidigungsminister in der Regierung Bush Sr. und während der Clinton-Zeit langjähriger Vorstandsvorsitzender der Ölindustrie-Zuliefererfirma Halliburton. Die Herkunft aus diesem Stall, wenn man so sagen kann, führte u.a. dazu, dass Cheney als hauptsächliche Experten und Fachberater für die Arbeit seiner Kommission vornehmlich Manager und Vorstandsvorsitzende aus großen Energiekonzernen auswählte, wie z.B. von der Enron Corporation.

Ausgangspunkt für die Arbeit der Kommission war die anerkannte Einsicht der Kommissionsmitglieder, dass die Vereinigten Staaten für ihre zukünftige Energiepolitik die Wahl zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Möglichkeiten habe. Die erste war: das Land könne einfach so weitermachen wie bisher, jedes Jahr den Petroleumverbrauch weiter steigern und sich damit – angesichts der Tatsache, dass die inländische Ölförderung sich bereits unwiderruflich auf dem absteigenden Ast befand – zunehmend in Abhängigkeit zu ausländischen Ölproduzenten begeben. Zweitens könne das Land aber auch einen ganz anderen Weg einschlagen: Es könnte massiv die Nutzung erneuerbarer Energiequellen fördern und dadurch schrittweise den Verbrauch von Petroleum reduzieren.

Nun ist es natürlich ganz klar, dass jede der beiden Möglichkeiten entscheidende Konsequenzen für die Gesellschaft, die Wirtschaft und für die nationale Sicherheit, sprich: das Militär der Vereinigten Staaten haben würden. Eine Entscheidung für So-weiter-wie-bisher würde das Schicksal und die Prosperität der Vereinigten Staaten noch enger als bisher an die Ölstaaten des Persischen Golfs und andere reiche Förderregionen ketten, mit entsprechenden Konsequenzen für die nationale Sicherheitspolitik. Eine Entscheidung für den alternativen Weg würde wiederum gewaltige Investitionen in neue Energie- und Transporttechnologien erforderlich machen, was gewaltige Eigentumsverschiebungen zur Folge haben würde und kurzfristig die Existenz ganzer Industriezweige in Gefahr bringen könnte. Aber: Wie auch immer die Entscheidung ausfallen würde: Die Dynamik und Struktur der ganzen US-Wirtschaft würde davon betroffen werden, das Land und seine Bevölkerung würden in jedem Fall deren Auswirkungen in ihrem täglichen Leben erfahren. Niemand – weder in den Vereinigten Staaten noch sonst wo in der Welt – würde von den Auswirkungen der Energiepolitik der USA in den nächsten 20 Jahren unbehelligt bleiben.[3]

Die NEPDG machte sich ihre Entscheidung nicht so einfach, wie sich das vielleicht mancher US-skeptische Europäer vorstellt; die Gruppe rang ernsthaft um eine Lösung dieses Dilemmas und erwog verschiedene Kompromissvarianten. Im April 2001 verabschiedete sie schließlich ihren Bericht, der dann nach kurzer Prüfung von Präsident Bush praktisch unverändert übernommen und als offizielle National Energy Policy am 17. Mai 2001 der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Auf den ersten Blick scheint der Bericht – nach dem Namen des Kommissionsvorsitzenden auch Cheney-Report genannt – der langjährigen Politik der Ölabhängigkeit den Kampf anzusagen und statt dessen für erneuerbare Energiequellen zu werben. Zur publizistischen Flankierung verbreitete Präsident Bush eine Menge ökologische Rhetorik.[4] Jedoch, bei genauerem Hinsehen sieht – bei aller rhetorischen Schmiere für alternative Energie, energiesparendes Verhalten etc. – die National Energy Policy keinerlei konkrete, umsetzbare Politik für eine systematische Reduzierung des Ölverbrauchs vor. Dafür erwägt sie – um die Abhängigkeit von ausländischen Produzenten zu reduzieren – die verstärkte Ausbeutung der verbliebenen nationalen Ölreserven, einschließlich solcher in Naturschutzgebieten, in denen das Bohren nach Öl bislang gesetzlich verboten war.

So war es das wohl wichtigste und die Öffentlichkeit am meisten erregende Detail der National Energy Policy, das Arctic National Wildlife Refuge (ANWR) für das Bohren nach Öl öffnen zu wollen. Das ANWR ist ein riesiges, bisher von menschlich-zivilisatorischen Eingriffen unberührtes Gebiet im Nordosten Alaskas, in dem hauptsächlich Cariboos, Wölfe und Grizzly-Bären leben. Dieser Vorschlag provozierte einerseits eine erbitterte innenpolitische Debatte zwischen Umweltschützern und Industriefreunden, erweckte aber zumindest vor der Öffentlichkeit den Anschein, dass die Regierung ernsthaft daran interessiert sei, die Abhängigkeit von ausländischem Öl zu verringern. Da man wissen musste, dass er erbitterte Debatten hervorrufen würde, kann man ihn getrost als Alibirhetorik interpretieren. Denn als wesentliche und in ihrer politischen Umsetzbarkeit einzige ausführlich entfaltete harte Handlungsempfehlung des Cheney-Plans wird die Suche nach und die Sicherstellung von zusätzlichen und zuverlässigen Öl-Lieferanten außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika vorgeschlagen.

Mit anderen Worten: Die Bush-Regierung war und ist sich der prekären Situation in Bezug auf die mittelfristige Energieversorgung der USA voll bewusst gewesen und traf dann angesichts der zur Auswahl stehenden Handlungsmöglichkeiten eine ganz klare Entscheidung: In vollem Bewusstsein darüber, dass auf längere Sicht die heimische Ölförderung immer geringer werden wird, und bei gleichzeitigem Unwillen, an den amerikanischen Verbrauchsgewohnheiten und Verbrauchsmustern irgend etwas Substanzielles zu ändern, entschied sie sich dafür, einstweilen auf dem gewohnten Weg einer ständig wachsenden Abhängigkeit von ausländischen Ölquellen weiter zu gehen.

II

Erst im achten und letzten Abschnitt der National Energy Policy – überschrieben: Strengthening Global Alliances, also „Stärkung weltweiter Bündnisse“ wird die Katze richtig aus dem Sack gelassen. Der Tonfall ändert sich schlagartig. Von artigen und unverbindlich-verwaschen formulierten Bekenntnissen zu nachhaltiger Energiegewinnung, zum Sparen durch Energieeffizienz und so weiter schlägt die Sprache schlagartig um in unmißverständlichen Klartext, in dem ohne wenn und aber die Notwendigkeit betont wird, ausländische Ölquellen in größerem Umfang sicherzustellen, und zwar nicht für „den freien Energiemarkt“ oder auch nur „den Westen“, sondern ganz klipp und klar für die nationalen Bedürfnisse der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Abschnitt beginnt mit folgenden Sätzen: „Die nationale Energiesicherheit der USA hängt ab von ausreichender Energieversorgung für die Unterstützung des amerikanischen und des globalen wirtschaftlichen Wachstums… Wir können unsere eigene Energiesicherheit und die allgemeine Prosperität der Weltwirtschaft dadurch stärken, dass wir eng mit anderen Staaten zusammenarbeiten, um die Weltproduktion von Energieträgern zu erhöhen. Wir sehen es als unseren Auftrag, die Schaffung von Energiesicherheit zur obersten Priorität unserer Außenhandels- und Außenpolitik zu erheben.“[5]

Das Papier ist sehr zurückhaltend mit Aussagen über die Menge an ausländischem Öl, die in den nächsten Dekaden benötigt würde. Der einzige Hinweis ist indirekt: Eine Schautafel, auf der die erwartete Entwicklung des US-Ölverbrauchs in Beziehung zur inländischen Ölproduktion gesetzt wird. Nach dieser Tafel wird die US-Inland-Förderung von ca. 8.5 Mill. Barrel pro Tag im Jahr 2002 auf ca. 7.0 Mill. Barrel pro Tag im Jahr 2020 sinken. Der Verbrauch dagegen wird im gleichen Zeitraum von 19.5 Mill. Barrel pro Tag auf ca. 25.5 Mill. Barrel pro Tag steigen. Das würde bedeuten, dass der Anteil von direkten Öl-Importen oder von Öl, das aus anderen Quellen gewonnen wird, z.B. aus flüssig gemachtem Gas, Ölschiefer o.ä., von 11 Mill. Barrel am Tag auf ca. 18.5 Mill. Barrel am Tag steigen muss. Die Mehrzahl der Empfehlungen im Abschnitt 8 laufen darauf hinaus, diese zusätzlichen 7.5 Mill. Barrel pro Tag durch Öl-Direktimporte abzudecken.[6]

Ein gutes Drittel dieser Empfehlungen betreffen Ratschläge, wie man Zugang zu ausländischen Ölquellen gewinnen kann. Viele der Empfehlungen sind länderspezifisch, mit der Betonung auf die Beseitigung politischer, gesetzlicher, ökonomischer und logistischer Hindernisse. Zum Beispiel gibt der Cheney-Report ausdrücklich die Empfehlung an die Minister für Handel, Energie und Auswärtige Politik (bzw. Secretaries of Energy, Commerce and State), „den kommerziellen Dialog mit Kasachstan, Aserbeidschan und anderen Staaten der kaspischen Region so zu vertiefen, dass ein offenes, stabiles und für energieindustrielle Infrastrukturprojekte förderliches Klima entsteht.“[7]

Die National Energy Policy ist die zentrale Richtlinie der offiziellen Strategie für die amerikanische Außenpolitik in den verbleibenden Jahren der Bush-Regierung und wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei einem Regierungswechsel weiter bestimmend bleiben. Auch unter einem demokratischen Präsidenten werden Amerikas Diplomaten mit ausländischen Regierungen zu diesem Zweck Verhandlungen aufnehmen und Investitionen vermitteln und anregen müssen, die die Förderung und die reibungslose Ausfuhr von Petroleum gewährleisten. Sie müssen weiterhin dafür Sorge tragen, dass Kriege, Regierungswechsel oder Bürgerkriege nicht den reibungslosen Ablauf von Förderung und Export in die Vereinigten Staaten gefährden. Diese strategischen Imperative werden vor allem für die Beziehungen der USA mit den Golf-Staaten, der Kaspischen Region, sowie mit bestimmten Staaten in Afrika und Lateinamerika von bestimmender Bedeutung sein.[8]

Daraus ergibt sich aber ein gravierendes politisches Problem. Es besteht darin, dass in den meisten der ölfördernden Staaten die allgemeine politische Stimmung eher anti-amerikanisch ist. Eine Sicherung des Ölexports durch Stationierung von US-Truppen, z.B. zur Verhinderung von Revolutionen oder für die USA ungünstigen Machtwechsel, wird in fast allen diesen Staaten diese anti-amerikanischen Stimmungen nur noch verstärken, da sie als Kolonialismus bzw. Imperialismus empfunden wird. Besonders kompliziert ist die Situation natürlich in der Nahost-Region, wo die USA einerseits aus vielen arabischen Staaten Öl importiert und das verstärkt weiter tun will, andererseits aber auch als unerschütterlicher Patron von Israel auftritt. Israel verfolgt dabei eigene Interessen, aber erfüllt dabei ebenso die Funktion eines militärischen Statthalters und vorgeschobenen Bullys in der Nahost-Region. Es darf von Zeit zu Zeit in eigener expansionistischer Absicht in seiner arabisch-muslimischen Nachbarschaft wüten.[9] Für die Ölstrategen der USA besteht die Rationalität der bedingungslosen Unterstützung dieses ansonsten untragbaren Verhaltens vor allem in einem dadurch vermittelten Nebeneffekt: Der Widerstandswillen der auf dem Öl hockenden „Eingeborenenbevölkerung“ wird getestet, ihre Moral gebrochen und ihnen immer wieder aufs Neue das Bewusstsein ihrer Unterlegenheit gegenüber „dem Westen“ ins Auge gerieben. Gleichzeitig jedoch birgt diese Taktik die Gefahr des Umschlagens ins Gegenteil: Die Erniedrigungen und Einschüchterungen schaffen Einigkeit und wecken Hass und Widerstandswillen der Betroffenen ebenso wie Kritik und Missbilligung der Verbündeten, vom Rest der Welt zu schweigen. Das Bewußtsein über die wachsende Prekarität und die mittelfristigen Kosten und Risiken dieser reinen Gewaltstrategie für die Interessen der USA hat inzwischen den amerikanischen mainstream erreicht. Es ist daher mit Sicherheit kein Zufall, dass in diesem Jahr (2006) zum ersten Mal seit vierzig Jahren die vermeintlich irrationale Nibelungentreue der USA zu Israel nicht nur von linker Seite, sondern direkt aus dem Zentrum des konservativen akademischen Milieus kritisiert wird, auch wenn es den renommierten Verfassern nicht gelang, ein amerikanisches Publikationsorgan für die Erstveröffentlichung zu gewinnen.[10]

III

Gegenwärtig kommt nur 18 Prozent des von den USA importierten Öls aus dem Gebiet des Persischen Golfs. Aber Washington hat ein besonderes strategisches Interesse an der Sicherung dieses Gebiets, weil die anderen großen Industrienationen des Westens und Haupt-Geschäftspartner der USA total abhängig sind von Importen aus dieser Region. Darüber hinaus hat der schlichte Umfang des Ölexports aus der Golfgegend die Welt-Ölpreise jahrelang relativ niedrig gehalten, was ein großer Vorteil für die westlichen Ökonomien war. Angesichts der unaufhaltsam fallenden inländischen Fördermengen weist der Cheney-Report nachdrücklich darauf hin, dass die „Golf-Region von vitaler Wichtigkeit für die US-Interessen bleiben“[11] werde.

Die USA haben seit langer Zeit in dieser Region ihre politischen Hände im Spiel. Eine special relationship wurde zu Saudi-Arabien aufgebaut. Bereits während des Zweiten Weltkriegs schmiedete Präsident Roosevelt ein Bündnis mit dem Gründer der modernen Saud-Dynastie, Abdul-Aziz Ibn Saud: Die USA verpflichteten sich, für den Schutz der Saudis gegen externe wie interne Feinde zu sorgen, als Gegenleistung erwarten sie privilegierten Zugang zu saudiarabischem Öl.[12] In späteren Jahren etablierten verschiedene US-Regierungen ganz analoge identische Beziehungen z.B. mit dem Schah von Persien, sowie den jeweiligen politischen Führern von Kuwait, Bahrain, und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Diesen Ländern wurden immense Quantitäten an Kriegsmaterial geliefert, in einigen Fällen auch Truppen zum Schutz geschickt. Der schwerste Einbruch in dieses wechselseitige Abhängigkeitssystem fand bekanntlich 1979 statt, als der Schah von Persien, einer der wichtigsten und auch treuesten Klienten der USA, von einer „islamistischen“ Revolution aus dem Land geworfen wurde, woraufhin er in die USA flüchten musste.

Die amerikanische Politik in Bezug auf die Region Persischer Golf war stets eindeutig und kompromisslos: Wann immer eine Unterbrechung der Ölexporte durch eine politische Krise oder ähnliches drohte, bemühten sich die USA mit allen denkbaren Mitteln, den Fluss des Öls zu sichern. Diese Politik ist übrigens auch älter als die besonderen Beziehungen zu Israel, denen ja kürzlich von John Mearsheimer und Stephen Walt zugeschrieben wurde, dass sie prägend für die US-Nahostpolitik seien. Seit 1980, also dem offiziellen Jahr des Schah-Sturzes, hat diese Politik sogar einen offiziellen Namen: Carter-Doktrin. Der damalige demokratische Präsident Carter hatte das Eingreifen der SU in den afghanischen Bürgerkrieg zum Anlass genommen, die Golf-Region für ausschließlich amerikanisches Interessengebiet zu erklären; er bzw. sein Sicherheitsberater Brzezinski behaupteten dass der „Einmarsch“ der Sowjet-Truppen in Afghanistan der unauffällige Beginn eines langen Marsches sei, an dessen Ende die Besatzung der Golf-Region durch sowjetische Truppen stehen solle. In ausdrücklicher Anwendung der „Carter-Doktrin“ setzten die USA 1987 und 1988 Truppen ein, um kuwaitische Öltanker vor iranischen Raketenangriffen zu schützen, und ebenso 1990 im ersten Golfkrieg, um die irakischen Truppen wieder aus Kuwait zu vertreiben.[13]

Anlässlich des ersten Golfkriegs erklärte der damalige Verteidigungsminister Cheney im September 1990 vor dem Senate Armed Services Committee. „Unsere strategischen Interessen in der Golf-Region sind allgemein bekannt, aber verdienen es durchaus, dass man sie hier noch einmal wiederholt…“ Und dann erklärte er in Bezug auf Saddam Husseins Angriff auf Kuwait: „Nachdem Saddam sich Kuwait angeeignet und dort eine so große Streitmacht, wie die irakische nun einmal ist, stationiert hat, ist er eindeutig in einer Position, von der aus er die Zukunft der Energiepolitik auf der Welt praktisch diktieren kann, und das gibt ihm faktisch die Möglichkeit, unsere und die meisten anderen Volkswirtschaften in der Welt im Würgegriff zu halten.“ Irak selbst besitze 10 Prozent der gesicherten Welt-Ölreserven und habe gerade weitere 10 Prozent durch die Annexion Kuwaits hinzugewonnen. Und diese Besetzung Kuwaits bedeute ferner, dass die irakische Armee nunmehr wenige hundert Meilen entfernt sei von weiteren 25 Prozent, die sich unter dem Wüstenboden des östlichen Saudi-Arabiens befänden. Cheney machte dem Kongresskomitee klar, dass die USA gar keine andere Wahl hätten, als hier militärisch einzugreifen, um Saudi Arabien und andere befreundete Staaten in der Region zu verteidigen. [14]

Nachdem die Iraker aus Kuwait vertrieben worden waren, verfolgten die USA eine Politik der „Eindämmung“ gegenüber dem Irak, verbunden mit strengen ökonomischen Sanktionen, mit no-fly-zones über Nord- und Süd-Irak etc. Gleichzeitig verstärkte Washington seine militärische Präsenz in der Golfregion, um eventuelle zukünftige militärische Sanktionen in der Region zu erleichtern. Das Pentagon begann, gigantische Mengen von Munition und anderem Kriegsmaterial in Kuwait und Katar einzulagern, damit US-Truppen bei zukünftigen Operationen in der Region nicht Wochen oder Monate auf die Ankunft ihres schweren Materials warten müssten.

Offiziell galt dann der Angriff auf den Irak 2003 der Suche nach Saddam Husseins „Massenvernichtungswaffen“. Dass diese Begründung von Anfang an nur vorgeschoben war, wird heute auch in den USA von so gut wie jedermann anerkannt. Zu der Erkenntnis, dass die wirklichen, harten Gründe für die Invasion des Iraks aber von Beginn solche der Ölsicherung waren, hätte man bereits während der Kriegsvorbereitungen gelangen können, nämlich durch aufmerksames Zuhören, wann immer Dick Cheney den Mund aufmachte. So erklärte er z.B. in seiner viel zitierten und kommentierten Rede vom 26. August 2002 auf der Jahresversammlung des amerikanischen Veteranenverbandes: „Sollten Saddam Husseins ehrgeizige Bestrebungen (nach Massenvernichtungswaffen) von Erfolg gekrönt sein, würde das ungeheure Auswirkungen auf die USA und den Rest der Welt haben. Ausgerüstet mit diesen Terrorwaffen und in Besitz von 10% der Welt-Ölreserven, Saddam Hussein wäre dann in der Lage, Dominanz über den gesamten Nahen Osten auszuüben, die Kontrolle über einen Großteil der globalen Energiewirtschaft auszuüben und direkten Druck auf Amerikas Freunde in der Region auszuüben.“[15] Während der Zeit der Kriegsvorbereitungen, die ja offiziell allein der Suche nach den „Massenvernichtungswaffen“ galten, ließ „ein hoher Pentagon-Offizieller“ verlauten, dass „General Tommy Franks und seine Mannschaft Strategien konzipiert haben, die es uns erlauben werden, so schnell wie möglich (die Ölfelder) zu sichern und vor möglichen Angriffen zu schützen.“[16]

Dieser Offizielle war mit allergrößter Wahrscheinlichkeit Paul Wolfowitz, mittlerweile mit neuem Auftrag als Chef der Weltbank tätig. Er erklärte, dass es allererste Priorität der US-Truppen sei, die Ölfelder zu besetzen und vor der Zerstörung zu retten, um dadurch Revenue-Quellen für den Wiederaufbau des Irak zu sichern. Unter dem Hussein-Regime war der Irak lange Zeit einer der größten Öllieferanten der Vereinigten Staaten. Noch im Jahr 2002 lieferte das Land im Schnitt ca. 566.00 Barrel pro Tag, immerhin etwa 5 Prozent des Gesamtimports. In Washington hoffen nun viele, in Zukunft weit mehr als diese Menge aus dem Irak beziehen zu können. Nach Angaben des Energieministeriums besitzt der Irak gesicherte Reserven von über 112 Milliarden Barrel, das ist die zweitgrößte Menge nach Saudi-Arabien, und Experten vermuten weitere 200 Milliarden in bisher unentwickelten Feldern. Mit anderen Worten: Irak könnte einer der ergiebigsten Öllieferanten in den kommenden Dekaden werden – vorausgesetzt, ein kooperatives Regime erlaubt US-amerikanischen Firmen die Erschließung bisher unangezapfter Reserven.

Nach über drei Jahren Krieg und Besetzung des Landes steht es bisher keineswegs fest, dass dieses Vorhaben gelingt. In diesem Sinne ist die militärische Aktion gegen den Irak ein ausgesprochener Fehlschlag gewesen. Das ist der wahre, gewissermaßen operationale Hintergrund für die wachsende Kritik und aufkommende Unzufriedenheit mit der Bush-Regierung im allgemeinen und der Kriegführung im Irak im besonderen. Deswegen sehen die Strategen des State Department es inzwischen als ihre strategische Hauptaufgabe an, Saudi-Arabien und andere Golfstaaten dazu zu bringen, die Ölförderung kontinuierlich weiter hochzufahren, um die wachsende internationale Nachfrage und die Nachfrage von Seiten der USA zu befriedigen. Damit ist die Aufgabe, gegen deren Scheitern man sich ja durch den Irak-Krieg und die Sicherung alternativer Großvorräte gerade absichern wollte, erneut gestellt: das instabile und daheim äußerst unbeliebte Regime der Saudis gegen seine inneren Feinde zu beschützen.[17]

Die Anforderungen an die Saudis werden ungeheuer sein. Nach Angaben des Energieministeriums soll Saudi-Arabiens Netto-Förderung über die nächsten 25 Jahre um ca. 133 Prozent wachsen, von 10.2 Mill. Barrel pro Tag auf 23.8 Mill. Barrel pro Tag im Jahr 2025, um die wachsende Weltnachfrage zu befriedigen. Die Erweiterung der saudischen Kapazität um 13.6 Mill.-Barrel pro Tag – das ist soviel wie die heutige Gesamtmenge des in den USA und Mexiko zusammen geförderten Öls – würde Hunderte Milliarden Dollar an Investitionen erfordern. Der einfachste Weg dahin wäre, wenn die Saudis amerikanischen Firmen gestatten würden, in Saudi-Arabien in großem Umfang zu investieren. Genau dazu rät der Cheney-Report. Eine solche Lösung wäre aber mit Sicherheit tödlich für das Saudi-Regime. Es hat 1970 seine Ölvorräte nationalisiert, und jeder Ausverkauf an US-Firmen, noch dazu wenn vorher politischer Druck aus Washington ausgeübt würde, hätte mit Sicherheit mit erheblichem Widerstand in Saudi-Arabien selbst zu rechnen.[18] Soviel islamische „Terroristen“ gibt es gar nicht auf der Welt, als dass die Saudis sich durch deren finanzielle Unterstützung dann noch die Duldung durch ihre eigene islamistische Opposition erkaufen könnten.

IV

Gerade weil die Vereinigten Staaten noch lange Zeit abhängig von der Golfregion bleiben werden, streben sie umso entschiedener nach einer „Diversifizierung“ ihrer Bezugsquellen. Um diese Über-Abhängigkeit zu vermeiden, sind die USA gegenwärtig mit Macht dabei, die Erweiterung der Ölförderung in einer Reihe von Staaten außerhalb der Golf-Region anzuregen. Dazu gehören die Westküste von Afrika, Lateinamerika und, last but not least, die Region um das Kaspische Meer.

Die interessanteste hier ist zweifellos die Öl-Region um das Kaspische Meer. Dazu gehören die Länder Aserbeidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan, sowie angrenzende Gebiete in Russland und dem Iran. Nach Angaben des US-Energieministeriums befinden sich auf diesem Gebiet sichere Reserven (definiert als 90 Prozent wahrscheinlich) von 17 bis 33 Milliarden Barrel, und mögliche Reserven (definiert als 50 Prozent wahrscheinlich) von 233 Millionen Barrel. Sollten sich diese Schätzungen als korrekt herausstellen, dann wären das die zweitgrößten bisher unerschlossenen Reserven nach der Golf-Region, also noch größer als die des Irak.

Um den ungehinderten Strom von einem Großteil dieses Öls in die Autos, Wohnungen und Fabriken westlicher Verbraucher sicherstellen zu können, hat die US-Regierung in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, um in der Region die Infrastrukturen und das Distributionssystem zu verbessern. Diese Bemühungen begannen bereits unter der Clinton-Regierung. Da das Kaspische Meer ein Binnenmeer ist, müssen das Öl und das Erdgas aus dieser Region mit Pipelines in andere Gegenden, vornehmlich solche mit Meereshäfen geleitet werden. Mit anderen Worten: Die Erschließung der Ressourcen dieses Gebiets macht gleichzeitig den Aufbau von Langstrecken-Exportwegen unerlässlich.

Die Clinton-Regierung sah es überhaupt nicht gern, dass das in der Kaspischen Region geförderte Öl in seinen Pipelines auf dem Weg nach Westeuropa russisches Gebiet durchqueren sollte. Das würde Moskau – immer noch mehr gesehen als potentieller Rivale denn als solidarischer G8-Verbündeter – zur Möglichkeit einer gewissen Kontrolle über den Energienachschub ins verbündete Europa verhelfen. Die Durchleitung durch den Iran war qua Gesetz verboten, da der Iran Feindesland ist. Deshalb unterstützte Clinton den Bau einer Pipeline für Öl und Gas von Baku in Aserbeidschan nach Ceyhan in der Türkei über Tblissi in der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien. Einer von Clintons letzten Amtshandlungen war die Unterzeichnung des Vertrages über den Bau der 3-Mrd.-Dollar-Baku-Tblissi-Ceyhan-Pipeline (BTC) in Ankara.

Während sich die Clinton-Regierung auf die juristischen und logistischen Aspekte des Ölgeschäfts mit den Ländern der Kaspischen Region konzentrierte, sorgte sie sich gleichzeitig aber auch darum, dass die Stabilität und Sicherheit der Region fragil sein könnte. Um möglichen politischen Unruhen, Aufständen, separatistischen Umtrieben etc., die die Ölwirtschaft gefährden könnten, vorzubeugen, begann Clinton ein umfangreiches militärisches Hilfsprogramm für die Staaten der Region. Es bestand aus Waffenlieferungen, der Entsendung von militärischen Beratern und Ausbildern sowie der Abhaltung gemeinsamer Manöver mit US-Truppen.

Aufbauend auf Clintons Fundament, versuchte dann die Bush-Regierung, den Ausbau der kaspischen Förder- und Transportkapazitäten zu beschleunigen. Das National Energy Policy-Paper geht darauf folgendermaßen ein: „Ausländische Investoren und Technologie sind von zentraler Bedeutung für die schnelle Entwicklung von neuen, wirtschaftlichen Exportwegen. Weitergehende Entwicklung auf diesem Gebiet wird sicherstellen, dass die wachsenden Fördermengen aus der Kaspischen Region wirksam in die Welt-Ölwirtschaft integriert werden können.“[19] Der Cheney-Report weist dann noch mal ausdrücklich auf die Wichtigkeit der BTC-Pipeline hin. Ebenfalls betont wird die notwendige Beteiligung von US-Firmen an kaspischen Energieprojekten. Die Bush-Regierung bemüht sich auch um den Bau einer weiteren Pipeline von Kasachstan und Turkmenistan am Ostufer des Kaspischen Meers nach Baku am Westufer, um noch mehr Öl und Gas aus Zentralasien in das BTC-System einspeisen zu können.

Vor dem 11. September 2001 bestand das amerikanische Engagement am Kaspischen Meer und in Zentralasien im wesentlichen darin, wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen aufzubauen sowie Militärhilfeabkommen zu schließen. Im Kontext des dann beginnenden „Kampfes gegen den Terror“ wurden in Kirgistan und Usbekistan Militärbasen errichtet und einige zehntausend Mann Kampftruppen dort für den Einsatz gegen AL Quaeda und die Taliban in Afghanistan stationiert. Die Regierung musste später aus Usbekistan ihre Truppen wieder abziehen, aber offensichtlich ist eine permanente militärische Präsenz in diesem Teil der Welt vorgesehen. In der Verlautbarungspolitik sollen sie natürlich als lokale Basen für den Kampf gegen den „Terrorismus“ dienen, aktionspolitisch als Wachmannschaften für die Sicherung des Ölexports. Die Bush-Regierung schickte auch militärische Berater und Ausbilder nach Georgien, die dort Spezialeinheiten im Anti-Guerilla-Kampf unterweisen sollen, zum Schutz des georgischen Abschnitts der Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline.

Das Weiße Haus setzt große Hoffnungen in die Entwicklung von neuen Förderkapazitäten im Kaspischen Meer-Gebiet und Zentralasien. Allerdings sind die mittelfristigen Probleme, die sich daraus für die USA ergeben, im Prinzip nicht anders als in der Golf-Region. Auch in Mittelasien sind die politischen Verhältnisse eher instabil. Jeder Versuch, einen dauerhaften und stabilen Exportfluss sicherzustellen, wird mittelfristig das gleiche Maß an militärischer Absicherung erforderlich machen wie in der Golfregion. Und hier wie dort trägt gleichzeitig gerade eine offene, permanente Anwesenheit US-amerikanischer Soldaten nicht unbedingt dazu bei, den inneren politischen Frieden und damit in letzter Instanz auch die Zuverlässigkeit des Ölflusses zu fördern.

V

Eine andere Weltregion, die von der Bush-Regierung als vielversprechender zukünftiger Öl-Lieferant gesehen wird, ist Westafrika. Obwohl bislang nur etwas über 10 Prozent der Welt-Ölförderung aus afrikanischen Ländern kommt, werden es nach den Prognosen des amerikanischen Energieministeriums im Jahr 2020 etwa 25 Prozent sein. Anders gesagt: Man erwartet eine Erhöhung der Produktion um 8.3 Mill. Barrel pro Tag. Der Cheney-Report stellt fest: „Wir erwarten, dass West-Afrika einer der wachstumsstärksten Zulieferer von Rohöl und Gas für den amerikanischen Markt werden wird.“[20]

Die Regierung plant, sich dabei hauptsächlich auf Nigeria, dessen unmittelbare Nachbarstaaten im Golf von Guinea und auf Angola zu konzentrieren. Auch Nigeria ist ein Land mit erheblichen innenpolitischen Spannungsfeldern, insbesondere ethnisch inspirierte Auseinandersetzungen über das Fördergebiet im Delta des Niger, an denen sich auch westliche Umweltschutzorganisationen beteiligt haben. Lokale Aktivisten haben in ihrem Kampf um Anteile an den Öl-Gewinnen häufig die Fördertätigkeit temporär lahmgelegt. Auch normale Kriminalität und Vandalismus erschweren in Nigeria häufig den reibungslosen Ablauf der Geschäfte.

Trotz dieser Umstände ist es nicht wahrscheinlich, dass die Vereinigten Staaten in West-Afrika Truppen stationieren werden. Das ist dann doch eine für die Weltöffentlichkeit allzu delikate Gegend, und der Vorwurf des Kolonialismus würde mit Sicherheit massenhaft erhoben werden, nicht zuletzt auch von Seiten der westeuropäischen Verbündeten oder zumindest von deren Öffentlichkeit. Aber Washington ist sehr wohl bereit, die Militärhilfe für „befreundete Regimes“ in der Gegend drastisch zu erhöhen. Angola und Nigeria erhielten von 2002 bis 2004 jeweils etwas 300 Millionen Dollar pro Jahr, ein erheblicher Zuwachs verglichen mit der vorausgegangenen Dreijahres-Periode. 2004 erhielten Angola und Nigeria auch erstmalig Zweithand-Kriegsmaterial nach dem Excess Defense Article (Überschusswaffen) – Programm des Pentagon. Als jüngste Maßnahme hat das Pentagon damit begonnen, sich um die Rechte zur Errichtung von Marinebasen in der Region zu bemühen, vornehmlich in Nigeria und auf den Sao Tome e Principe Inseln.[21]

Last but not least fordert der Cheney-Plan eine signifikante Erhöhung der Öl-Liefermengen aus Lateinamerika. Die USA beziehen bisher schon einen großen Teil ihrer Energie-Importe aus dieser Region. Venezuela ist inzwischen der drittgrößte ausländische Öl-Lieferant, nach Saudi-Arabien und Kanada. Mexiko ist der viertgrößte und Kolumbien ist siebenter. Auch diese Region wird daher verstärkt gesehen in Zusammenhang mit der amerikanischen Energieversorgung. In den Worten von Energieminister Abraham: „Präsident Bush erkennt nicht nur die Notwendigkeit höherer Energieimporte, sonder er sieht auch die kritische Rolle, die die (westliche) Hemisphäre für die Energiepolitik der Regierung spielen wird.“[22]

Auf der Fifth Hemispheric Energy Initiave Ministerial Conference (5. Ministerkonferenz der hemisphärischen Energie-Initiative) im März 2001 in Mexico City sagte Abraham: „Unser Ziel ist es, Beziehungen zu unseren Nachbarn aufzubauen, die zu unserer aller Energiesicherheit beitragen werden: es geht um angemessenen, verlässlichen, umweltverträglichen und preiswerten Zugang zu Energiequellen.“[23] Wie kooperationsbereit sich diese schönen Sätze auch immer anhören mögen, im Kern geht es allein darum, ständig wachsende Anteile der lateinamerikanischen Ölforderung für den Verbrauch in den Vereinigten Staaten abzuzweigen.

Der Cheney-Plan betont die Notwendigkeit zusätzlicher Liefermengen aus Mexiko und Venezuela. In den Worten des Reports: „Mexiko ist eine führende und verlässliche Quelle für den Import von Öl. Seine großen Reserven, ungefähr um ein Viertel umfangreicher als unsere eigenen Reserven, machen Mexiko sehr wahrscheinlich zu einer Quelle erhöhter Fördermengen über die nächsten zehn Jahre.“[24]

Venezuela wird ebenfalls für ein ganz wichtiges Bezugsland angesehen, weil dort neben konventionellem Öl noch riesige Mengen sogenannten schweren Öls zu finden sind, eines schlammartigen Stoffes, der allerdings mit Hilfe eines kostspieligen Prozesses in konventionelles Öl verwandelt werden kann.

Aber auch hier stehen den USA ähnliche Schwierigkeiten bevor wie in den zuvor erwähnten Weltregionen. Nicht zuletzt aufgrund einer jahrhundertelangen Geschichte kolonialer und imperialistischer Erfahrungen haben sowohl Mexiko als auch Venezuela ihre Energiereserven unter staatliche Kontrolle gestellt, mit strikten gesetzlichen Auflagen für ausländische Beteiligungen an der heimischen Ölförderung. Während diese Länder mit Sicherheit von ihrem Ölreichtum profitieren wollen und deshalb auch an die USA verkaufen werden, werden sie andererseits auch jede tiefere Einmischung US-amerikanischer Konzerne in die heimische Ölindustrie verhindern und sicherlich auch einer signifikanten Erhöhung der Ölfördermengen nicht ihre Zustimmung geben.

Die National Energy Policy verpflichtet die Minister für Energie, für Handel sowie das Department of State, in den nächsten Jahren geduldige Lobbyarbeit zu leisten, damit die lateinamerikanischen Staaten ihre „restriktive“ Ölförderpolitik aufgeben oder wenigstens abschwächen. Die Erfolgsaussichten sind eher gering. In Mexiko zum Beispiel hat der Kongress alle Versuche, den Eintritt ausländischer Konzerne in die mexikanische Ölförderung zu erleichtern, mit großen Mehrheiten abgelehnt. Und in Venezuela besteht seit 1999 ein Gesetz, das die Beteiligung ausländischen Kapitals oder ausländischer Firmen in der venezolanischen Ölindustrie strikt verbietet, und im Jahr 2003 feuerte Staatspräsident Hugo Chavez einige Manager aus der staatlichen Ölindustrie, weil sie eine Zusammenarbeit mit ausländischen Firmen befürwortet hatten.

VI

Auf ihrer unermüdlichen und (von amerikanischem Standpunkt aus) unerlässlichen Suche nach verlässlichen und immer ergiebigeren Ölquellen mischen sich die Vereinigten Staaten ständig in die inneren Angelegenheiten der ölproduzierenden Länder ein. Dabei ergibt sich für sie ein immer größeres Risiko, selbst in lokale und regionale Konflikte verwickelt zu werden. Dass dies wirklich so ist, hat die jüngere Vergangenheit in dramatischer Weise schon gezeigt.

Der Cheney-Report bzw. die Richtlinien für die Nationale Energiepolitik gehen auf diesen Umstand bzw. auf diese Gefahren einerseits mit keinem Wort ein. Sie werden einfach verdrängt. Statt dessen wird seitenlang über die wirtschaftlichen und diplomatischen Dimensionen dieser Politik gefaselt. Allerdings wissen die Architekten der US-Ölpolitik auch, dass die Sicherung der Ölimporte aus einigen der anvisierten Quellen ohne den Einsatz militärischer Mittel mittelfristig unmöglich sein wird. Diese „Einsicht“ kommt dann zum Ausdruck in den Dokumenten zur Militärdoktrin und Strategie. So las man in dem vor dem 11. September 2001 verfassten, aber erst nachher veröffentlichten ersten Defense Review Report der Bush-Regierung: „Die Vereinigten Staaten müssen die Fähigkeit erhalten, ausreichend bewaffnete und logistisch gut unterstützte Streitkräfte zum Einsatz an kritischen Punkten in Schlüsselgegenden dieser Welt zu entsenden, wann immer es nötig ist und auch, wenn feindlicher Widerstand zu erwarten ist.“[25]

Es bedarf keiner großen Fähigkeiten, zwischen den Zeilen zu lesen, um zu verstehen, dass mit den hier gemeinten möglichen „kritischen Punkten“ ölexportierende Länder gemeint sind. Ob die Verbindung bewusst von der Bush-Regierung so gemeint war oder nicht – jedenfalls gibt es objektiv eine ominöse Gleichzeitigkeit von energiepolitischer Betonung auf den verstärkten Import aus instabilen Weltregionen und einem unüberhörbaren Rufen nach einer Verstärkung und Flexibilisierung der amerikanischen Streitkräfte.

Diese Kombination wird die Außenpolitik der USA in den nächsten Jahren stärker bestimmen als jede andere strategische oder taktische Doktrin: Auf der einen Seite ungebremste Fortsetzung der überkommenen Energiepolitik plus Beibehaltung des gewohnten Lebensstils, auf der anderen Seite, damit notwendig verbunden, zunehmende Entschlossenheit, ohne Rücksicht auf die Meinung der „Weltgemeinschaft“ diese Interessen mit Hilfe des eigenen Militärs auch gegen Widerstände durchzusetzen. Von den Ländern der EU werden dabei Knappendienste erwartet. Allerdings formiert sich dort dagegen Widerstand. Es sieht so aus, dass der ins Auge gefasste Angriff auf den Iran zum Zwecke des regime change an diesem Widerstand scheitern wird.

Richtig interessant, oder besser gruselig wird es erst dann, wenn – wie zu erwarten – irgendwann in den nächsten 20 Jahren die explodierende neue Wirtschaftsmacht China und andere nachholende Großnationen der ehemaligen „Dritten Welt“ versuchen werden, ihrerseits ihre rechtmäßigen Ansprüche auf einen angemessenen Anteil am Rest der fossilen Brennstoffe dieser Welt durchzusetzen, ohne die USA vorher artig um Erlaubnis zu fragen. Wir können sicher sein, dass das amerikanische Militär dafür schon Operationspläne auf ihren Festplatten hat. Für die europäische Politik besteht die delikate Hauptaufgabe der nächsten Dekade darin, unauffällig auf eine Kräfte-Umverteilung in der Welt hinzuarbeiten, die die politischen Führer der USA davor zurückschrecken lässt, diese Operationspläne umzusetzen.

[1] Vgl. hierzu Michael Klare, Blood and Oil. The Dangers and Consequences of America’s Growing Petroleum Dependency, London 2005, s.xii-xiv. Der ganze Artikel stützt sich im wesentlichen auf die Arbeiten von Klare, dem Friedensforscher und Korrespondenten für Verteidigungspolitik der Zeitschrift The Nation.

[2] The Honorable Spencer Abraham, Secretary of Energy, Keynote Luncheon Keynote Address, US Chamber of Commerce, National Energy Summit, March 19-21, 2001, Washington, D.C., www.uschamber.com/events

[3] Klare, S. 58 f.

[4] Siehe hierzu David E. Sanger, Bush Shows His Green Side to Sell Agenda, in: The New York Times, 18. 5. 2001.

[5] National Energy Policy Development Group (NEPDG), National Energy Policy, Washington, D.C.: White House, May 17, 2001, Chap. 1, S. 3-4.

[6] Siehe Klare, a.a.O., S. 63

[7] NEPDG, NEP 2001, Chap. 8, S. 6.

[8] Das NEP-Papier erwähnt speziell acht Länder außerhalb der Persischen Golf-Region, deren Reserven von großer Bedeutung für die USA werden könnten: Mexiko, Venezuela, Kolumbien, Russland, Aserbeidschan, Kasachstan, Nigeria und Angola. Siehe Klare, a.a.O., S. 115-116.

[9] Seymour Hersh hat im New Yorker beweiskräftig enthüllt, was jeder aufmerksamen Beobachter amerikanischer Nahostpolitik auch schon vorher vermutet hatte: dass der Angriff Israels auf den Libanon lange vorher mit der US-Regierung geplant wurde, und zwar als Testlauf für einen größeren Feldzug gegen den Iran. Dieser Großplan ist durch den für Israel und die USA durchaus unbefriedigenden Verlauf des Libanon-Kriegs vorerst wohl gescheitert. Vgl. Seymour Hersh, „Ein Probelauf für Iran“, in: Der SPIEGEL, No.34/2006, S. 114-117.

[10] Es handelt sich dabei um den Aufsatz der beiden bekannten Politikwissenschaftler „neo-realistischer“ Provenienz, John Mearsheimer und Stephen Walt, The Israel Lobby, in: London Review of Books, Vol. 28, No.6, 23 March 2006. Mearsheimer/Walt vertreten hier die Ansicht, dass die „Israel Lobby“ und die Likud-Partei praktisch den Kurs der amerikanischen Nahost-Politik bestimmten, Öl wird kaum erwähnt. Dazu wurde mit Recht kritisch angemerkt, dass im wirklichen Leben der Schwanz nicht mit dem Hund wedele. Allerdings handelt es sich eben schon um ein und dasselbe Tier.

[11] NEPDG, NEP 2001, Chap.8, S. 5.

[12] Siehe Klare, a.a.O., S. 26-55. Die beste Gesamtdarstellung der Geschichte des Öls in der westlichen Zivilisation findet man immer noch bei Daniel Yergin, The Prize. The Epic Quest for Oil, Money and Power, New York 1991 (deutsch: Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht, Frankfurt/M. 1991).

[13] Siehe hierzu Michael A. Palmer, Guardians of the Gulf, New York 1992, S. 106 – 110.

[14] Zitiert nach Klare, a.a.O., S. 50.

[15] Zitiert nach Michael Klare, Bush-Cheney Energy Strategy: Procuring the Rest of the World’s Oil, in: Foreign Policy in Focus, January 2004, S. 22.

[16] US Department of Energy, Energy Information Administration, Annual Energy Outlook 2004, Washington, D.C., S. 133-35.

[17] Zur besonderen Beziehung der USA zu Saudi-Arabien siehe Yergin, a.a.O., Abschnitt IV, sowie David E. Long, The United States and Saudi Arabia, Boulder, CO. 1985.

[18] Klare, Bush-Cheney Energy Strategy, a.a.O., S. 25.

[19] Zitiert nach Klare, Bush-Cheney Energy Strategy, a.a.O., S. 22.

[20] NEPDG, National Energy Policy 2001, Chap. 8, S. 11.

[21] Klare, Blood and Oil, S. 144.

[22] Klare, Bush-Cheney Energy Strategy, a.a.O., S. 23

[23] Klare, ebda.

[24] NEPDG, National Energy Policy 2001, Chap. 8, S. 9-14.

[25] U.S. Department of Defense, Quadrennial Defense Review Report. Washington , D.C., 30.9. 2001, S. 4.