Gottfried Stiehler, von 1964 bis 1989 Professor für Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität, ist schon zu jener Zeit durch weiterführende Gedanken zu Kategorien des Historischen Materialismus bekannt geworden (z.B. zum Produktivkraftbegriff: Stiehler 1974, 46f), womit er über die Grenzen der DDR hinaus wirkte. Nach deren Beitritt zur BRD ist er mit zahlreichen weiteren Publikationen zur Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie hervorgetreten (z.B. Stiehler 1997), auch mit einer Reihe von Beiträgen zu dieser Zeitschrift. Sein neuestes Buch enthält eine Sammlung von Aufsätzen zu einer Philosophie des Subjekts, „philosophisch-politische Essays“, die eine Art Resümee seiner durch viele Jahrzehnte hindurch erarbeiteten Ideen darstellen dürften.
Subjekt und Subjektivität – zwei schwierige Begriffe
Es geht um die Theorie des Subjekts und der Subjektivität, die in vielfältigen Spielarten und Abwandlungen aus mancherlei Vorläufern im Gefolge der Descartesschen Vorstellung eines cogito ergo sum in der westlich-europäischen Philosophie bis hin zu Hegel entwickelt worden war. In ihrem Zentrum stehen die Ideen eines denkenden, sich selber wissenden und begründenden menschlichen Wesens, des Subjekts, das nicht nur die Welt, sondern auch sein eigenes Denken zu denken vermag, was seine eigentliche Eigenschaft, nämlich die Subjektivität ausmacht. Und es geht ferner um den Marxschen Versuch, dieses Subjekt vom Kopf auf die Füße zu stellen und es als ein Wesen zu begreifen, das sich zur Welt nicht nur interpretativ, sondern auch und vor allem praktisch verhält und dessen eigentliche Eigenschaft nicht ein Sich-Selber-Denken (immer noch ein hervorragendes Merkmal des Denkens der sog. Linken), sondern seine Gesellschaftlichkeit ist. Diese Ideen wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jh. unter anderem dadurch zu einem aktuellen philosophischen Problem, daß idealistische Theorien dieser Art sowohl wegen formaler Streitfragen als auch wegen materialer Gesichtspunkte von den verschiedensten Autor/inn/en kritisiert wurden. (Vgl. Gloy 1998, 15-20) Sie wurden ferner deshalb problematisch, weil die materialistische Version dadurch lädiert wurde, daß die Führungskräfte der sozialistischen Gesellschaften zu erreichen versucht hatten, „daß sich die Werktätigen unter Führung der Arbeiterklasse zum bewußten historischen Subjekt erheben und die objektiven Bedingungen ihres gesellschaftlichen Produktions- und Lebensprozesses immer besser zu leiten und zu beherrschen lernen“, hiermit jedoch keinen Erfolg hatten. (Klaus/Buhr 1975, 1192; vgl. auch Biard 1990; Barata-Moura 1990) Was nun?
Ich meine, daß es (da es ja nicht zuletzt darauf ankommt, die Welt richtig zu interpretieren) der Mühe wert ist zu fragen, wie die Begriffe Subjekt und Subjektivität, soweit sie dem Erkennen der Wirklichkeit förderlich sein können, durch Befunde einer realitätsorientierten Wissenschaft mit Inhalt gefüllt werden können. Und ich habe den Eindruck, daß Stiehlers Essays in seinem Buch über „Macht und Grenzen des Subjekts“ (aus dem im folgenden zitiert wird, wenn Seitenangaben ohne Verfasserangabe gemacht werden) eben dieses Ziel verfolgen, denn ihnen liegt die Auffassung zugrunde, daß „menschliche Erkenntnis [...] den Sinn und die Funktion [hat], die Realität, die äußere (und innere) Wirklichkeit sachgerecht [...] zu erfassen“. (81)
Gottfried Stiehler will den Subjektbegriff nicht aufgeben (13). Als Materialisten kann es ihm aber nicht darum gehen, eine Objektivierung des denkenden Subjekts durch Reflexionen über dessen Reflexionen zu erreichen, die sich in einem universellen System von Reflexionen selbst zu begründen scheinen. (So etwa Holz 2005, 519-522) Erst recht nicht kann er akzeptieren, das Konzept des denkenden und tätigen Subjekts (und seiner Subjektivität) dadurch zu destruieren, daß irgendwelche Interaktionen oder Relationen an dessen Stelle gesetzt werden wie beispielsweise im Muster des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas oder in der Konzeption sozialer Systeme von Niklas Luhmann. Denn davon ist er überzeugt: „Die Verabschiedung des Subjektbegriffs hat sozialpolitisch den Sinn, gesellschaftliche Emanzipation theoretisch auszublenden.“ (12f) Da ist etwas daran.
Deshalb bemüht Gottfried Stiehler, über eine philosophische Ehrenrettung des genannten Begriffs hinaus, sich um wissenschaftliche Umschreibungen vielfältiger Voraussetzungen, Bedingungen, Erscheinungsformen und Auswirkungen von Subjektivität, wovon die verschiedenen Essay-Titel einen ersten Eindruck vermitteln, z. B.: „Menschliches Wesen und Individualität“, „Das seiner selbst gewisse Ich“, „Ambivalenzen des Machtmenschen“, „Die Gewalt der Umstände“, „Erkennen: Subjekt – Objekt – Subjekt“, „Friedfertigkeit und Aggression“ oder „Demokratie und Humanität“. Es sind allesamt wissenschaftliche Konkretisierung eines – sonst abstrakt bleibenden (12) – Subjekt-Konzepts im Sinne eines Materialismus, der sich einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse bedient, u. a. aus den Gebieten der Historie, der Soziologie, der Psychologie, der Neurowissenschaften und der Paläoanthropologie. Man sieht an den Themen, daß Philosophie, wenn sie sich mit realitätsorientierter Wissenschaft verbindet, durchaus politische Bedeutung haben kann, auch wenn nicht alle Politologen das so sehen.
Gottfried Stiehler sieht das wirkende und erkennende „Subjekt und seine Umwelt [mit ihren Objekten] vor allem [als] sozial-geschichtliche Tatbestände“. (14) Dementsprechend lassen sich zwei Dimensionen der Konkretisierung des Subjekts und seiner Subjektivität charakterisieren, die in diesem Buch behandelt werden: diese scheinen mir durch die Kategorien „Menschliches Wesen /Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse /Arbeitsverhältnisse“ sowie „Evolution/Geschichte der menschlichen Gattung/Machtverhältnisse“ gekennzeichnet zu sein. (Die Themen „Selbstidentität/Selbstgewissheit“, auch „Moral“ bilden einen Sonderfall, auf den ich am Schluß zu sprechen komme.)
Mensch, Gesellschaft und Arbeit
Gottfried Stiehler erörtert den Themenkomplex „Menschliches Wesen/Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse/Arbeitsverhältnisse“ unter dem Gesichtspunkt der Gesellschaftlichkeit der einzelnen menschlichen Lebewesen und ihrer Subjektivität, wobei letztere durch „Bewusstsein begründet“ und „Attribut der Einzelheit des Menschen als gesellschaftliches Wesen“ sei. (10, 14) Die komplizierte Konstruktion der gleichzeitigen Individualität und Sozialität menschlicher Lebewesen und ihres Bewußtseins wird mit einem Rückgriff auf die Feuerbach-Thesen Marxens bewältigt, in denen es ja heißt, daß „das menschliche Wesen [...] in seiner Wirklichkeit das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse [ist]“. (MEW 3, 6) Die gesellschaftlichen Verhältnisse schließlich, von denen verschiedentlich „die materiellen Verhältnisse“ hervorgehoben werden (z. B. 104, 146), begreift Stiehler als vor allem durch „Arbeit im weitesten Sinn“ geprägte: durch „berufliche und außerberufliche Tätigkeit zur Erzeugung materieller und/oder ideeller Gegenstände und Leistungen“. (21) Hier vor allem „ist der Mensch Subjekt“ und kann es sein: er ist es, „indem er dem Arbeitsgegenstand und dessen gegenständlichen Bedingungen als Objekten seinen Willen aufdrückt“, und „in der Arbeit allgemein [...] bewährt sich das Subjekt als aktive Potenz der Erzeugung von Neuem bzw. der Erhaltung des Bestehenden“. (20, 22) Herrschaftliche Arbeitsbedingungen und massenhafte Arbeitslosigkeit „im gegenwärtigen Kapitalismus“ bestätigen „ex negativo den hohen Wert, den die Arbeit für die Subjektivität des Menschen [...] hat“. (23)
Es ist unmöglich, im Rahmen dieses Beitrags die vielfältigen Anregungen zu würdigen, die dieses Buch enthält. Aber zu den grundsätzlichen Vorzügen dieser Betrachtungen zähle ich zunächst: (1) das Bestreben, Subjektivität weder auf individuelle noch auf kollektive Träger zu reduzieren, sondern individuelle Subjektivität (und individuelles Bewußtsein) und kollektive Subjektivität (und kollektives Bewußtsein) aufeinander zu beziehen, ohne Hypostasierung abstrakter „Wir-Subjekte“, z. B. Klassen; (2) die weite Fassung des Begriffs der Arbeit als erzeugende menschliche Tätigkeit überhaupt, die es erlaubt, entsprechende Tätigkeiten überhaupt mit Denkvorgängen irgendwelcher Art zu assoziieren und zu einem bestimmten Begriff des zugleich denkenden und tätigen Umgangs von Menschen mit sich selber und ihren Umwelten zu gelangen.
Stiehlers Erörterung der Gesellschaft und der Arbeitsverhältnisse konzentriert sich freilich auf Beziehungen zwischen den Menschen, auch wenn er verschiedentlich hervorhebt, daß diese in der „Erzeugung materieller und ideeller Existenzmittel [...] sich die Natur aneignen und in den Rhythmus ihrer leiblich-geistigen Selbsterhaltung einbauen“. (20) Ansonsten aber ist „Natur“ kaum mehr als ein Gegenstand der Moral. (126) Das ist insofern eine problematische Perspektive, als die Gesellschaftlichkeit der Menschen nicht lediglich ihr Zusammenwirken zur Grundlage hat, sondern auch die Einbindung der jeweiligen Bevölkerung in den Naturhaushalt; ferner, weil Arbeit durch die Merkmale Gesellschaftlichkeit und Naturaneignung unzureichend gekennzeichnet ist, insofern von der arbeitsförmigen Vermittlung grundständiger materieller Interaktionen zwischen Bevölkerung und Naturhaushalt in der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion sowie von der Rolle materieller und ideeller Instrumente in diesem Prozeß abstrahiert wird. Die Verortung des Subjekts und seiner Subjektivität in diesem Begriffsrahmen ist somit mit einem Fragezeichen zu versehen. Es ist daher anzuraten, den Blick auf „Gesellschaft“ und „Arbeit“ zugleich auszuweiten wie zu schärfen und die Konstruktion von „Subjekt/Subjektivität“ entsprechend zu ergänzen. Aus Stiehlers Ansatz ergeben sich dann unter anderem folgende Forschungsbedarfe:
(1) Da Subjektivität durch Bewußtsein begründet und zugleich Attribut individueller wie kollektiver Subjekte sein soll, bedarf es der Ausarbeitung eines Begriffs des von mehreren Menschen geteilten Bewußtseins und seiner Entstehung. Reicht die Vorstellung einer sozial-interaktiven Genese solchen Bewußtseins aus (z. B. in entwicklungspsychologischen Konzeptionen wie derjenigen von Fonagy et al. 2004), oder müssen Mensch-Natur-Beziehungen, wie in den Begriff der Gesellschaft, auch in den Begriff eines geteilten Bewußtseins einbezogen werden (wie z.B. ansatzweise in der ökologischen Wahrnehmungstheorie von Gibson 1986)?
(2) Da Arbeit (in einem weiten Sinn gesellschaftlicher Tätigkeit) der Ort sein soll, wo sich das Subjekt als aktive Potenz von Veränderung und Bewahrung bewährt, was auch in bezug auf die gesellschaftlichen Arbeitsverhältnisse selber gelten muß, wäre die Ausarbeitung eines Begriffs der Planung gesellschaftlicher Arbeit, im Sinn ihres vorausgedachten Entwurfs und ihrer tätigen Steuerung, wünschenswert; dies in Verbindung mit einer Evaluierung möglicher Formen und Mittel solcher Planung, z. B. einer integrierten Planung und Leitung gesellschaftlicher Reproduktion unter Beachtung externer Effekte (ansatzweise entworfen in der Spätphase der DDR, vgl. hierzu Tjaden 2007) oder der Konzeption eines perspektivischen Inkrementalismus (in der Raumplanung in der BRD, vgl. Ganser in Selle 2006).
Evolution, Geschichte und Macht
Der Themenkomplex „Evolution/Geschichte der menschlichen Gattung/Machtverhältnisse“ betrifft die Geschichtlichkeit der verschiedenen menschlichen Lebewesen und auch die ihrer Subjektivität, insofern Stiehler eine „elementare Form“ der „aktiven Verarbeitung von Außenreizen als Grundlage geistiger Konstrukte“ „schon bei Tieren“ hervorhebt und zugleich betont, „die aktive Potenz [...] des Subjekts“ sei „Resultat einer langen Geschichte der menschlichen Erkenntnis“. (87f) Die wiederum komplizierte Konstruktion einer gleichläufigen Kontinuität und Diskontinuität in der evolutionär-historischen Entwicklung verschiedenartiger Lebewesen und ihres Bewußtseins wird mit dem traditionellen Argument einer spezifischen „Geschichte der Menschengattung“ (102) angegangen, in der es „von Anbeginn“ „den Impuls und den Zwang zur sachgerechten Erfassung der äußeren und der inneren Welt“ gegeben habe. (81) Diese Menschheitsgeschichte aber sei wesentlich durch Machtverhältnisse gekennzeichnet, ohne die keine Gesellschaft auskommen könne, schon deshalb, weil „jede Leitung gemeinschaftlicher Tätigkeit einen disziplinierenden, planenden Gesamtwillen voraussetzt“. (59) Das wirkende und erkennende Subjekt und seine Fähigkeiten sind deshalb hier verortet, weil „Macht [...] das Vermögen [ist], im Verhältnis zu anderen Menschen (oder auch zu Tieren) den eigenen Willen [...] durchzusetzen“. (137) „Ambivalenzen des Machtmenschen“, positive und negative gesellschaftliche Funktionen von Macht und ihre historischen Variationen werden eingehend betrachtet, vor allem mit Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse „moderner kapitalistischer“ wie „realsozialistischer“ Prägung. (57-70, 135ff)
Dieser Themenkomplex verweist auf weitere Vorzüge der Betrachtungen Gottfried Stiehlers, nämlich auf: (1) den genetischen Ansatz seiner Philosophie des Subjekts, der zugesteht, die Fähigkeiten des Wirkens und des Erkennens, wenn auch nur in Gestalt von Vorformen oder Ansätzen solcher Subjektivität (in der von ihm vorgetragenen Fassung des Begriffs), bereits frühen Hominiden-Formen und anderen Tieren zuschreiben zu können, sowie (2) die Einführung des Begriffs der Macht in die Theorie menschlicher Gesellschaften und ihrer Geschichte, welche es erlaubt, in dieser Theorie, außer den ökonomischen Klassenverhältnissen, auch andere, von Stiehler selber ansatzweise beschriebene Dimensionen gesellschaftlicher Macht-Ohnmacht-Verhältnisse zu beachten, so familiale und politische Gewaltverhältnisse.
Stiehlers Betrachtung der Geschichte und der Machtverhältnisse konzentriert sich allerdings auf die Geschichte einer abstrakten Menschengattung, nicht auf die Geschichte konkreter Gesellschaften. Dies ist so, auch wenn er einmal darauf hinweist, daß mit der Entstehung eines „privaten Eigentums an Produktionsmitteln, mit Geld und Reichtum für die Besitzenden die Möglichkeit entstand, andere Menschen auszubeuten, zu beherrschen und [...] und in Dienst zu nehmen“, wobei „verselbständigte Institutionen“ des Machtgebrauchs entstanden. (58) Aber in der Regel betrachtet er nicht solche Brüche und was daraus tatsächlich folgte, sondern Geschichte als „ein Kontinuum der Gattung überhaupt“. (72) Das ist aus zwei Gründen problematisch, weswegen auch hier eine Erweiterung und Verfeinerung der Perspektive anzuraten ist. Erstens ist es fachwissenschaftlich höchst streitig, was unter der menschlichen Gattung zu verstehen ist, weswegen auch die Grenzen zu anderen Tieren, falls es solche gibt, zumindest recht unscharf sind. Zweitens gibt es keinen lückenlosen Zusammenhang zwischen den Populationen der menschlichen Lebewesen in den Habitaten der verschiedenen Erdteile durch ihre Geschichte hindurch, ebenso wenig wie eine Machtprägung dieser Geschichte von den voreiszeitalterlichen Anfängen in Afrika an. Wohl aber gab es später jene (multiregionale) Genese gesellschaftlicher Ungleichheiten und institutionalisierter Macht-Ohnmacht-Verhältnisse. Beides dürfte für die evolutionär-historische Verortung und den Begriff des Subjekts und seiner Fähigkeiten Bedeutung haben. Folgende Forschungsbedarfe, die aus Stiehlers Überlegungen abgeleitet werden können, möchte ich hervorheben:
(1) Wenn elementare Formen einer aktiven Wahrnehmung und Behandlung der Umwelt und einer Verarbeitung dessen zu geistigen Gebilden auch nichtmenschlichen Tieren eigen sind, dann ist die Erarbeitung eines Begriffs der evolutionären Voraussetzungen bzw. Entwicklungsweise hominider Wirkungs- und Erkenntnisfähigkeiten wünschenswert, der der Körperlichkeit der Subjekte Rechnung trägt und der von Kontaminationen durch moderne geistesgeschichtliche Subjektkonstrukte freigehalten wird. Dabei geht es nicht einfach um Vergleiche entsprechender Wirkungs- und Erkenntnisvermögen des (modernen) Menschen mit solchen anderer Tiere, insbesondere von Menschenaffen, bei denen eine unterstellte Polarität von „Mensch und Tier“ durch das abstrakte Konstrukt eines „Übergangsfeldes“ überbrückt wird. Es geht vielmehr um ein konkretes Begreifen der Evolution und Historie solcher (mutmaßlicher) Vermögen von Vorfahren früher Menschenarten bis heute hin. Dazu gibt es verschiedene Ansätze, etwa aus kulturwissenschaftlich-psychologischer Sicht (so bezüglich einer „evolution of modern mind“, Donald 1991) oder in einer kognitionswissenschaftlichen Perspektive („on the evolution of thinking“, Gärdenfors 2003), deren Tragfähigkeit zu prüfen wäre.
(2) Wenn die Geschichte menschlicher Gesellschaften durch Institutionalisierungen verschiedenartiger Macht-Ohnmacht-Verhältnisse seit der Entstehung ökonomischer Klassenverhältnisse neue Prägungen erhalten hat und die Menschen hierdurch als erkennende und wirkende Subjekte ihre diesbezüglichen Fähigkeiten verändert haben oder neue Fähigkeiten erlangen konnten, bedürfte es der Erarbeitung eines Begriffs dieser verschiedenartigen gesellschaftlichen Gewalt- und Macht-Verhältnisse, der ihre historischen Umformungen sowie ihre Umsetzungen in Veränderungen der Attribute der Subjekte beachtet. Dabei kann es zeitlich begrenzte Detailanalysen geben (wie diejenigen über den Prozeß der Zivilisation seit dem europäischen Mittelalter von Elias 1969) oder Untersuchungen zur Gesamtentwicklung eines Zivilisationstyps (z. B. des west-europäischen, vgl. dazu meine Hinweise in Tjaden 2006)
Selbstidentität/Selbst- oder Ichgewissheit – wie weiter?
Wenn die oben angeregten Umbauten des theoretischen Rahmens, in dem Subjekt und Subjektivität begriffen werden, in die richtige Richtung weisen, dann bedarf es freilich auch einer Veränderung der Inhaltsbestimmung dieser Begriffe – womit wir dann auch zum Themenkomplex Selbstidentität/Ichgewissheit kommen. Es ist zu bedenken, daß „Subjekt“ bzw. „Subjektivität“, diese in der Philosophie des europäischen Westens in der Neuzeit ausgearbeiteten, aber in das Altertum zurückweisenden Begriffe, ein historisches Produkt sind, ebenso wie die Vorstellung der Interaktion zwischen Subjekt und Objekt, die Gottfried Stiehler in der „Aneignung und Umwandlung natürlicher Substrate“ begründet sieht. (81) Was liegt ihnen realhistorisch zugrunde? Ich denke, daß Momente der Appropriation und Transformation zwar stets in den gesellschaftlichen Mensch-Umwelt-Beziehungen (wie in ökosystemaren Beziehungen überhaupt) eine Rolle gespielt haben, daß sie aber als zentrale Aktivitäten einer systematischen Subsistenzstrategie geschichtlich verhältnismäßig spät institutionalisiert worden sind; und dies gilt eben auch für die bestimmte „Objekte“ approprierenden und transformierenden „Subjekte“, also diese Subjekt-Objekt-Interaktion, wenn nicht sogar für die Subjekt-Objekt-Dualität selber. Insofern möchte ich an Stiehlers Auffassung, daß „das [...] von Anbeginn der Menschengattung so [war...], allerdings mit wesentlichen Modifikationen“, vor allem die zweite, leicht einschränkende Aussage unterstreichen. (81) Die Beziehungen der Menschen zu ihren natürlichen Umwelten dürften erst durch das Betreiben von Ackerbau und Großviehhaltung als Hauptgrundlage des Lebensunterhalts einen stark gegensätzlichen Charakter erhalten haben, also seit den Anfängen der in Südwest-Asien entstandenen west-europäischen Zivilisation, in der sich (im Unterschied zu anderen Zivilisationstypen) ein aggressiv-exploitiver Umgang der Menschen mit ihrer Umwelt entwickelte. Man kann vermuten, daß das – freilich weit jüngere – theoretische Subjekt-Objekt-Konstrukt Erfahrungen dieser westlichen Zivilisationshistorie (die zugleich Historie antagonistischer Produktionsweisen ist) reflektiert. Auf dieser materiell-technischen Basis konnte sich die Gegensätzlichkeit in der Einheit von Mensch und Umwelt verstärken und als Entgegensetzung von „Subjekt“ und „Objekt“ erscheinen. „Subjekt“ und „Subjektivität“ waren Ausdruck eines Individuums bzw. seiner Attribute, das gegenüber seinem Milieu erfolgreich sich behauptet, indem es aktiv durch Denken und Tun dieses erfasst, umgestaltet und beraubt. Auf dieser Grundlage gedieh auch „die reflexive Beziehung des Individuums, vermittelt durch die Gruppe und die Gesellschaft, auf sein [...] eigenes Wesen“, die „das Selbst aus[macht]“, nach Stiehler ein besonderer Aspekt der Subjektivität. (32) Das „Selbst“ ist offenbar etwas, was nicht der sinnlichen Selbstwahrnehmung jenes Individuums entspringt, das (mit meinen Worten) das natürliche Milieu erfolgreich erfasst, umgestaltet und beraubt. Es ist vielmehr eine vom zivilisierten Individuum ausgedachte rechtfertigende Überhöhung seines Wesens, welches es gerne als identisches wahrnimmt, wobei Selbstidentität dann als „das seiner selbst gewisse Ich“ (36-43) erscheint. Das sogenannte Selbst – ein strittiger Begriff westlicher Wissenschaft – ist zunächst nur ein substantiviertes Adverb, mit dem eine angebliche Besonderheit des zivilisierten Individuums im Vergleich mit vorzivilisatorischen Menschen und anderen tierlichen Lebewesen ausgedrückt werden soll. Aber: „There is no particular reasons why the ‘self’ needs to be elevated to a regnant position in the human mind [...]. It is probably best seen as another example of need to see humans as some unique and exalted product of evolution, spirit, etc.“ (Mandler 2002, 69) Doch sind das „Selbst“ und das durch solche Exaltationen charakterisierte „Subjekt“ gleichwohl auch historisch existente Kategorien und als solche legitime Gegenstände von Wissenschaft. Es sind Begriffe, die, einer bestimmten kulturell-psychischen Verfassung menschlicher Lebewesen entsprechend, in einer entfremdeten und machtbestimmten Wirklichkeit bislang eine Rolle gespielt haben und weiter spielen und die als solche Objekt von Ideologiekritik sind. Wie in solcher Kritik das Moment des Emanzipativen, das Stiehler der Idee des Subjekts zuschreibt und das auch seine Prinzipien einer „Moral der Mitmenschlichkeit“ kennzeichnet, festgehalten werden kann: das bedarf eigener Untersuchungen.
Die Essays von Gottfried Stiehler enthalten viele weiterführende Überlegungen und sie führen zu vielen Fragen, die zu weiteren Untersuchungen anregen. Es ist ein sehr lesenswertes Buch.
Literatur
Barata-Moura, Jossé, 1990: Subjektivität. In: Sandkühler, Hans Jörg, [u.a.], Hrg., Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, S. 480- 483
Biard, Joël, 1990: Subjekt. In: Sandkühler, Hans Jörg, [u.a.], Hrg., Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, S. 474-480
Donald, Merlin, 1991: Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition, Cambridge, Mass., London
Elias, Norbert, 1969: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Bern, München
Fonagy, Peter, [et al.], 2002: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Stuttgart
Gärdenfors, Peter, 2003: How Homo Became Sapiens: On the Evolution of Thinking, Oxford
Gibson, James J., 1986: The Ecological Approach to Visual Perception, Hillsdale, N.J., London
Gloy, Karen, 1998: Bewusstseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, Freiburg, München
Holz, Hans Heinz, 2005: Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik, Stuttgart, Weimar
Klaus, Georg/Buhr, Manfred, Hrg., 1975: Philosophisches Wörterbuch, 11. Aufl., Leipzig
Mandler, George, 2002: Consciousness Recovered. Psychological functions and origins of conscious thought, Amsterdam, Philadelphia
MEW: Marx, Karl/Engels, Friedrich, Werke, Berlin (DDR)
Selle, Klaus, Hrg., 2006: Zur räumlichen Entwicklung beitragen. Konzepte, Theorien, Impulse, hrsg. v. Klaus Selle unter Mitwirkung von Lucyna Zalas, Dortmund (Planung neu denken, Bd. 1)
Stiehler, Gottfried, 1974: Gesellschaft und Geschichte. Zu den Grundlagen der sozialen Entwicklung, Berlin (DDR)
Stiehler, Gottfried, 1997: Werden und Sein. Philosophische Untersuchungen zur Gesellschaft, Köln
Tjaden, Karl Hermann, 2006: Arbeitspapier zur Zivilisationstheorie. In: Das Argument Nr 267 [im Erscheinen]
Tjaden, Karl Hermann, 2007: Natur, Mensch und Gesellschaft. Zur „Sozialistischen Reproduktionstheorie“ in der DDR. In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Hrg., Hermann Behrens/Jens Hoffmann, Bearb., Umweltschutz in der DDR, 3 Bde., München [oekom Verlag, im Erscheinen]