Vorbemerkung von Eike Kopf
Man müsse das wissenschaftliche System von Karl Marx begreifen, um es kritisieren zu können, forderte knapp ein Jahr nach der Niederschlagung der Herrschaft der Pariser Commune der führende Vertreter der preußisch-deutschen Geschichtsschreibung Prof. Heinrich von Sybel im März 1872![1] Er spreche von einem Mann, „der schon 1859 die Grundzüge seines Systems in kleineren Abhandlungen der Oeffentlichkeit vorgelegt[2], und seitdem in einem größeren, höchst lesenswerthen Buche: Das Capital (ein dicker Band ist erschienen, zwei andere sollen folgen), die Anschauungen und Begehren seiner Partei in ausführlicher Gründlichkeit entwickelt hat. Marx ist, wie Lassalle, durchaus kein Proletarier“ und „hat ... mit einem unermüdlichen Fleiße die Verhältnisse der englischen Industrie, die Entstehung und das Heranwachsen ihrer einzelnen Zweige, die Lage der verschiedenen Arbeiterclassen, die Wechselbeziehungen zwischen Industrie und Ackerbau studirt. Er hat dann diese Forschungen weit zurück in die Vergangenheit ausgedehnt, die Umwälzung der dortigen Lebensumstände durch die großen Entdeckungen des 15. und 16. Jahrhunderts untersucht und so den Ursprung der heutigen Verhältnisse in großem historischem Zusammenhange aufzufassen vermocht. Dabei ist er einer der gründlichsten Kenner der volkswirthschaftlichen Literatur in allen Ländern Europa’s, so daß er sowohl von der theoretischen als von der praktischen Seite mit einer ganz seltenen Vorbereitung seine Aufgabe ergriffen hat. Sein Styl ist nicht eben erfreulich; als guter Hegelianer strebt er die ungeheuren Massen seines Stoffes auf die Entwicklungs-Momente eines einzelnen Grundbegriffs zurückzuführen und wird dadurch in seinem Raisonnement oft unerträglich weitschweifig, oft in lästiger Weise schwerfällig. Bündig aber und geschlossen ist seine Erörterung im höchsten Grade; wer ihm die ersteren Sätze zugibt, wird unwiderstehlich zur Anerkennung der letzten Folgerungen genöthigt.“[3]
Grundsätzlich hatte Sybel nach seinem Studium von Marx’ erstem Band des „Kapital“ vorausgeschickt: „Die Forderungen der modernen Socialisten beziehen sich in erster Linie auf eine Umgestaltung des industriellen Lebens. Zugleich aber suchen sie ihre Berechtigung nachzuweisen durch eine neue Auffassung der Grundlagen alles menschlichen Daseins, des Rechtes und des Staates, der Geschichte und der Philosophie.“[4]
Das bedeutet, dass einer der berühmtesten Historiker des 19. Jahrhunderts nach gründlichem Studium von rund 790 Seiten der ersten Auflage des ersten Bandes des „Kapitals“ (1867 erschienen) begriffen hatte: Die politischen Schlussfolgerungen der neuen Anschauung von der Welt beruhen auf gründlichen ökonomischen Analysen, denen eine neue philosophische Betrachtung des Weltganzen zu Grunde liegt; die philosophischen, ökonomischen und politischen Zusammenhänge sind von Marx jeweils in ihrer Geschichte, also in ihrer Entstehung und den Hauptetappen ihrer Entwicklung studiert worden.
In den nachfolgend abgedruckten Texten aus der zentralen Zeitung der deutschen Sozialdemokratie „Vorwärts“ von 1894 und 1895 geht es um einen bemerkenswerten Überblick über die drei ersten Bücher des Marxschen „Kapital“, worin die wesentlichen Zusammenhänge der Herstellung (Produktion)[5], des Kreislaufs zwecks Realisierung (Zirkulation)[6] und der Verteilung (Distribution) des Mehrwerts in kapitalistischen Gesellschaften[7] dargestellt werden, bevor er von den entsprechenden sozialen Klassen und Schichten verzehrt (konsumiert) werden kann.
Das vierte Buch des „Kapital“, das die Theorien über den Mehrwert in geschichtlicher Abfolge darstellt, wurde zum ersten Mal 1905-1910 von Karl Kautsky in drei Teilen herausgegeben.[8] Wenn etwa bis zum Jahre 2007 auch die Bände II/4.3, II/11 und II/13 „das Licht der Welt erblickt haben“, wird die Zweite Abteilung „’Das Kapital’ und Vorarbeiten“ als erste der vier Abteilungen der MEGA komplett seit 1975 erschienen sein.
Dann werden also interessierte Theoretiker zum ersten Mal in der Geschichte der Marx-Engels-Forschung die Möglichkeit haben, nicht nur die theoretische, die logische Struktur, sondern auch die Entstehung und Entwicklung der Politischen Ökonomie von Marx und auch von Friedrich Engels studieren zu können, ohne dazu Spezialarchive aufsuchen und schwer lesbare Handschriften entziffern zu müssen.
Was man dann also solide ediert studieren kann, entspricht faktisch der von Marx 1859 so genannten ersten von sechs geplanten Rubriken des Systems der bürgerlichen Politischen Ökonomie.[9] Wie täglich praktisch die sich entwickelnden widerspruchsvollen Zusammenhänge zeigen, enthalten die drei Bände des „Kapital“ noch immer die rationalste Darstellung der wesentlichen, inneren, allgemeinen und unter ähnlichen Voraussetzungen ähnlichen Folgeentwicklungen von Zusammenhängen des Wirtschaftlebens.
Diese Bände sind nach wie vor die wichtigste theoretische Grundlage auch für Länder in der Übergangsperiode vom kapitalistischen zum sozialistischen Gesellschaftszustand. Betriebsleiter, Genossenschaftsvorsitzende, Außenhändler, Einkäufer, Verkäufer, Kombinats- und Bankdirektoren usw. z. B. der Deutschen Demokratischen Republik und anderer Länder haben das praktisch und mit viel „Lehrgeld“ erfahren. Sie mussten in ihrem praktischen Wirken auch Probleme der „Rubriken“ zwei bis sechs, also alle ökonomischen Beziehungen innerhalb und auch außerhalb des Landes durchschauen und möglichst erfolgreich gestalten (was ja auch tatsächlich unter konkreten historischen Bedingungen Jahrzehnte hindurch gelang).
Alle, die es jetzt und in Zukunft auf sich nehmen, öffentlich im Sinne des Menschheitsfortschritts wirken zu wollen, kommen weniger als je zuvor ohne ein gründliches Studium der sich im Vergleich zu Marx’ und Engels’ Lebzeiten vielfältig und vielschichtig veränderten kapitalistischen Gesellschaftsordnung aus. Nachfolgend wird ein mehr als 100 Jahre „alter“ Überblick zum theoretischen System der Politischen Ökonomie von Marx und Engels abgedruckt, der auch heute noch nützliche Anregungen zum eigenen kritischen Studium – nun unter Einbeziehung der entsprechenden Bände der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) – geben kann.
I.
2. Beilage zum „Vorwärts“
Berliner Volksblatt.
Nr. 287. Sonntag, den 9. Dezember 1894
Der III. Band des „Kapitals“
Es ist ja richtig, wenn gesagt wird, daß unsere Partei auch ohne das Vorhandensein theoretischer Bücher entstanden wäre, weil Mehrwerth-Produktion, Ausbeutung des Volkes, ständiges Hinabsinken aus den mittleren Volksschichten in die Reihen des Proletariats, wachsende Verbitterung der Lohnarbeiter, – weil alle diese weltgeschichtlichen und weltumgestaltenden Erscheinungen im Leben der modernen Völker eingetreten wären, on nun der Gang dieser Entwicklung und die zu Grunde liegenden Gesetze theoretisch ergründet und in gelehrten Büchern dargestellt worden waren, oder ob dies nicht geschehen war. Aber immerhin findet das moderne, im Klassenkampf geeinte Proletariat (abgesehen von dem unbefangenen Interesse der reinen Wissenschaft, das Wahre zu erforschen,) in diesen Büchern sein „theoretisches Rüstzeug“, werden viele seiner Glieder erst durch die von diesen Büchern gewährte verstandesgemäße Ueberzeugung in die Reihe des kämpfenden Proletariats geführt, werden dem Proletariat Ziele, Wege und Mittel gewiesen.
Das bedeutendste und unentbehrlichste dieser Bücher ist „Das Kapital“ von Karl Marx. Auch dem größten Theoretiker Marx selbst war es leider nicht beschieden, sein Lebenswerk selbst zu vollenden. Er hat nur den ersten Band gedruckt in die Welt hinausgehen sehen, und mußte dann die Ausarbeitung der Entwürfe für die folgenden Bände als Erbschaft seinem vieljährigen Freunde Friedrich Engels überlassen. Den zweiten Band des „Kapitals“ konnte Engels nach langen Studien und Vorarbeiten im Jahre 1885 erscheinen lassen, und vor wenigen Tagen ist nun, nach neunjähriger Arbeit, dem zweiten auch der dritte Band gefolgt, dessen sachlicher Inhalt in diesen Spalten noch von berufener Feder eingehend gewürdigt werden soll. Den vierten und letzten Band wird Engels, wie er in der Vorrede des eben erschienenen verspricht, sobald wie möglich bearbeiten.
In einer Biographie seines Freundes Marx erzählt Engels von dem ungeheuren Fleiß, der unendlichen Sorgfalt, die Marx auf die Ausarbeitung seines „Kapitals“ verwandte, wie er sich noch in seinen letzten Lebensjahren für die Vorarbeiten zu dem eben erschienenen Band in tiefe Studien über Urgeschichte, Agronomie, russische und amerikanische Grundbesitzverhältnisse und andere Wissenschaften versenkte; wie er, um die ganze vorhandene Literatur heranziehen zu können, zu den germanischen und romanischen Sprachen, die er alle kannte, auch noch altslavisch, russisch und serbisch dazulernte, – bis ihm dann im Jahre 1883 der Tod aus seinen Studien und Arbeiten herausriß.
So erzählt Engels. Von dessen eigener Arbeitslast aber, die er sich freiwillig durch Uebernahme der wissenschaftlichen Erbschaft seines Freundes Marx aufbürdete, hat noch kein Fremder erzählt, und er selbst, der jetzt schon ins 75. Lebensjahr geht, macht darüber nur in den Vorreden der von ihm herausgegebenen Bände dürftige Angaben, soweit es ihm die literarische Pflicht zu gebieten scheint. So theilt er jetzt, in der Vorrede des dritten Bandes, mit, daß er bei Herausgabe des zweiten, im Jahre 1885, geglaubt habe, der dritte werde wohl nur technische Schwierigkeiten machen, mit Ausnahme freilich einiger sehr wichtigen Abschnitte. Von den Schwierigkeiten jedoch, die gerade diese, die wichtigsten Abschnitte des Ganzen, ihm bereiten würden, habe er damals doch keine Ahnung gehabt, ebenso wenig wie von den sonstigen Hindernissen, die die Fertigstellung des Buches so sehr verzögern sollten.
Zunächst und zumeist, so erzählt er, störte mich eine anhaltende Augenschwäche, die meine Arbeitszeit für Schriftliches Jahre lang auf ein Minimum beschränkte, und auch jetzt noch nur ausnahmsweise gestattet, bei künstlichem Licht die Feder in die Hand zu nehmen. Dazu kamen andere, nicht abzuweisende Arbeiten: Neuauflagen und Uebersetzungen früherer Arbeiten von Marx und mir, also Revisionen, Vorreden, Ergänzungen, die ohne neue Studien oft unmöglich u. s. w. Vor allem die englische Ausgabe des ersten Buchs, für deren Text in letzter Instanz ich verantwortlich bin, und die mir daher viel Zeit weggenommen hat.
Dazu habe ihm das Anwachsen der internationalen Arbeiterbewegung viele neue Pflichten auferlegt. Von den ersten Tagen unserer öffentlichen Thätigkeit an, so heißt es, war ein gutes Stück der Arbeit der Vermittlung zwischen den nationalen Bewegungen der Sozialisten und Arbeiter in den verschiedenen Ländern auf Marx und mich gefallen; diese Arbeit wuchs im Verhältniß der Erstarkung der Gesammtbewegung. Während aber bis zu seinem Tode auch hierin Marx die Hauptlast übernommen hatte, fiel von nun an die stets anschwellende Arbeit mir allein zu. Nun ist inzwischen der direkte Verkehr der einzelnen nationalen Arbeiterparteien unter einander zur Regel geworden und wird es glücklicher Weise von Tag zu Tag mehr; trotzdem wird noch weit öfter, als mir im Interesse meiner theoretischen Arbeiten lieb ist, meine Hilfe in Anspruch genommen. Wer aber wie ich über 50 Jahre in dieser Bewegung thätig gewesen, für den sind die hieraus entspringenden Arbeiten eine unabweisbare, augenblicklich zu erfüllende Pflicht.
Der Umstand, daß ich in London wohne, bringt es nun mit sich, daß dieser Parteiverkehr im Winter meist brieflich, im Sommer aber großentheils persönlich stattfindet. Und daraus, wie aus der Nothwendigkeit, den Gang der Bewegung in einer stets wachsenden Anzahl von Ländern und einer noch stärker wachsenden Anzahl von Preßorganen zu verfolgen, hat sich die Unmöglichkeit für mich entwickelt, Arbeiten, die keine Unterbrechung dulden, anders als im Winter, speziell in den ersten drei Monaten des Jahres fertig zu stellen. Wenn man seine siebzig Jahre hinter sich hat, so arbeiten die Meynert’schen Assoziationsfasern des Gehirns mit einer gewissen fatalen Bedächtigkeit; man überwindet Unterbrechungen in schwieriger theoretischer Arbeit nicht mehr so leicht und so rasch wie früher. Daher kam es, daß die Arbeit eines Winters, soweit sie nicht vollständig zum Abschluß geführt hatte, im nächsten Winter größtentheils wieder von neuem zu machen war.
Engels macht dann aufmerksam auf die Schwierigkeit seiner Aufgabe, da für den dritten Band von Marxen’s Hand nur ein äußerst lückenhafter erster Entwurf vorgelegen habe. In der Regel, sagt er, waren die Anfänge jedes einzelnen Abschnitts ziemlich sorgfältig ausgearbeitet, auch meist stilistisch abgerundet. Je weiter man aber kam, desto skizzenhafter wurde die Bearbeitung, desto mehr Exkurse über im Lauf der Untersuchung auftauchende Nebenpunkte enthielt sie, wofür die endgiltige Stelle späterer Anordnung überlassen blieb. An mehreren Stellen verrathen Handschrift und Darstellung nur zu deutlich das Hereinbrechen und die allmähligen Fortschritte eines dieser aus Ueberarbeit entspringenden Krankheitsfälle, die dem Verfasser selbständiges Arbeiten erst mehr und mehr erschwerten und endlich zeitweilig ganz unmöglich machten. Und kein Wunder. Zwischen 1863 und 1867 hatte Marx nicht nur die beiden letzten Bücher des Kapitals im Entwurf, und das erste Buch in druckfertiger Handschrift hergestellt, sondern auch noch die mit der Gründung und Ausbreitung der Internationalen Arbeiter-Assoziation verknüpfte Riesenarbeit gethan. Dafür stellten sich aber auch schon 1864 und 65 erste Anzeichen jener gesundheitlichen Störungen ein, die Schuld daran sind, daß Marx an das II. und III. Buch nicht selbst die letzte Hand gelegt hat.
Engels’ Arbeit begann damit, daß er das ganze Manuskript aus dem, selbst für ihn nur mühsam zu entziffernden, Original in eine leserliche Kopie hinüber diktirte, was schon eine ziemliche Zeit wegnahm. Erst dann konnte die eigentliche Arbeit beginnen, die Friedrich Engels so lange Jahre beschäftigt hat.
Die Leser sehen wohl, daß es nicht leicht ist, ein Buch von der Bedeutung des „Kapitals“ zu schreiben, und das Proletariat kann nur dankbar sein, daß sich ernste Männer bereit gefunden haben, das ganze Leben an die Erfüllung dieser Aufgabe zu setzen. M.P.
II.
2. Beilage zum „Vorwärts“
Berliner Volksblatt.
Nr. 21. Freitag, den 25. Januar 1895
Der Dritte Band des „Kapitals“*)
Mit dem dritten Bande des „Kapitals“ liegt der Schluß des Werkes vor, welches eine Revolution in der Nationalökonomie bedeutet.
Sein wissenschaftlicher Werth beruht vor allem darauf, daß es ein abgeschlossenes System darstellt, das heißt eine wissenschaftliche Analyse aller Haupterscheinungen auf dem Wirthschaftsgebiete. – Bisher kannte die Wissenschaft zwei solche Systeme, den Merkantilismus und den Physiokratismus. Der erste wandte sich vor allem praktischen Fragen zu, von einer wirklich auf den Grund gehenden Erforschung der sich darstellenden Probleme konnte gar nicht die Rede sein. Der Physiokratismus entstand während des Einbruchs der kapitalistischen Aera und unter dem Einfluß der rationalistischen Philosophie. Wie Rousseau standen die Schöpfer der physiokratischen Doktrin in dem Banne des Wortes Natur. Es galt die „natürlichen“ Gesetze der Wirthschaft zu finden. Die Natur, welche alles schafft, schafft auch den Reichthum der Völker. Der Ackerbau, welcher unmittelbar dem Boden die Früchte abringt, ist also die Grundlage der Volkswirthschaft; die Produkte werden dann unter die Bevölkerung nach gewissen Gesetzen vertheilt. Die Ackerbauer sind also die einzige produktive Klasse. Die Natur hat aber auch den Menschen mit „Trieben“ ausgestattet, welche man nur frei walten lassen muß, dann macht sich alles von selbst. – Trotz des Grundfehlers des Raisommenents, in welchem das werthschaffende Element der Arbeit verkannt wurde, hat dies System den Vorzug, daß es alle zu jener Zeit auftauchenden Fragen, wenn auch in einer vor der Kritik nicht stichhaltigen Form, beantworten konnte, daß es eben ein abgerundetes Ganzes darstellt.
Die sogenannte klassische Nationalökonomie begann mit einer Kritik des physiokratischen Systems durch Adam Smith. Er war der erste, welcher den Grundsatz zur Geltung brachte, daß Arbeit die Quelle des Werthes sei, wobei er allerdings nur ein Ameriko, kein Columbus war, denn schon hundert Jahre vor ihm hatte William Petty den Satz ausgesprochen: „Die Arbeit ist der Vater, das thätige Prinzip, die Erde die Mutter der Reichthümer.“ Der Grundsatz war richtig, aber um alle Erscheinungen auf Grund desselben zu erklären, brauchte es noch einer Riesenarbeit, welche nicht geleistet wurde. Zwar ging Ricardo weiter, erklärte den Profit als Resultat der unbezahlten Arbeit des Lohnarbeiters, aber auch er scheiterte an der Schwierigkeit, welche die Erklärung der komplizirten Probleme machte. – Das ganze Gebiet der Nationalökonomie ließ sich mit den Mitteln der „klassischen Schule“ nicht erklären, daher die Konzession, die man den Physiokraten machte.
Die Nachfolger der Smith’schen Schule haben auch nicht im entferntesten versucht, die Theorie zu entwickeln, sie verzeichneten sie höchstens. Die einzige Leistung eines Theiles von ihnen bestand in einer Ansammlung reichhaltigen, verschiedenartigen Thatsachen-Materials, welches zu verwerthen sie außer stande waren und sind.
Da trat Marx auf. Er setzte dort ein, wo die Klassiker Schiffbruch gelitten hatten, indem er mit einer gründlichen Analyse des einfachsten Problems begann. – Eine Menge Waare A = einer anderen Menge B. Warum diese Gleichsetzung? Hier galt es, festzustellen, welche Arbeit, wie und warum den Werth bestimmt. Indem Marx die spezielle konkrete Arbeit, die Arbeit des Schusters, Schneiders, Schlossers, als die Quelle des Gebrauchswerthes, die unterschiedslose, abstrakte Arbeit, die Arbeit als Verausgabung der menschlichen Arbeitskraft, welche sich nach Intensität und Zeit messen läßt, als Quelle des Tauschwerthes erklärte, hatte er die Frage beantwortet. Das war die Werththeorie.
Auf dem Markte wird nun aber nicht nach dem objektiven Werthe der Waaren gefragt, sondern nach ihrem Preise, dem Geldausdruck für den Werth. Es galt also die Bedeutung des Geldes als Werthmesser zu untersuchen. Dabei ergab es sich, daß die bürgerlichen Oekonomen den Liebling des Bürgerthums, das schöne blanke Geld, recht gründlich mißverstanden hatten. So entstand die Geldtheorie, die heute allgemein schweigend anerkannt wird, wobei es geradezu ergötzlich ist, daß manche Nationalökonomen die Marx’sche Geldtheorie, nicht aber die Werththeorie anerkennen wollen, während doch die erste eine konsequente Folge der letzten ist.
Nun galt es die Frage zu klären: wie entsteht der Mehrwerth, wie kann aus Geld mehr Geld gemacht werden? Wenn gleiche Werthe ausgetauscht werden, kann niemand gewinnen oder verlieren. Gelegentlich kann wohl der Käufer den Verkäufer übers Ohr hauen oder umgekehrt; aber das sind eben nur Zufälle. Es galt zu zeigen, daß trotzdem die Waaren im allgemeinen nach dem Werthe ausgetauscht werden, es möglich ist, Mehrwerth, unbezahlten Werth in die Tasche zu stecken. Dies geschah, indem der spezielle Charakter einer Waare, der Waare Arbeitskraft untersucht wurde. Der Werth der Arbeitskraft wie der Werth jeder Waare ist gegeben durch die Arbeit, welche nothwendig ist, um diese Waare herzustellen. Die Herstellungskosten sind der Unterhalt des Arbeiters. Wenn der Arbeiter in 6 Stunden Arbeit einen Werth geschaffen hat, welcher gleich ist dem Werth alles dessen, was er an materiellen Gütern braucht (für sich und seine Familie, denn die Arbeitskraft muß auch für die Zukunft erhalten werden), so hat er einen Gegenwerth geschaffen. Nun arbeitet er aber 10, 12, 14 Stunden und schafft also in 4, 6, 8 Stunden neuen Werth, aber Werth nicht für sich, sondern für den, welcher seine Arbeitskraft gekauft hat.
Um die profitable Waare, die Arbeitskraft, verwerthen zu können, braucht aber der Käufer derselben noch andere Dinge, Maschinen, Rohstoffe, Gebäude. Die vulgäre Oekonomie hatte diese Dinge Kapital genannt. Für sie existirte aber kein Unterschied, außer dem technischen, zwischen dem Werkzeuge des Wilden und der Maschinerie einer modernen Fabrik. Marx wies nach, daß diese Unterstellung absurd, daß durch dieselbe jede Untersuchung verwirrt werden muß und daß nur unter bestimmten historisch gegebenen Umständen das Produktionsmittel zum Kapital wird. Nämlich nur dann, wenn diese Produktionsmittel in die Hände der einen Klasse der Kapitalisten übergegangen sind und dazu dienen, aus der Klasse der Arbeiter Mehrwerth auszupumpen, denn da diese Klasse nichts anderes verkaufen kann, ist sie gezwungen ihre einzige Waare – Arbeitskraft zu verkaufen, die Mehrwerth für andere schaffende Waare.
Die Schilderung des historischen Prozesses, durch welchen eben einerseits die Produktionsmittel zu Kapital werden und anderseits die große Masse des Volkes von denselben „befreit“ wird, bildet den Abschluß des ersten Bandes des Werkes, das im Jahre 1867 in erster Auflage erschien, um bald in alle Sprachen der zivilisirten Welt übersetzt zu werden.
Die Wirkung, welche das Buch hervorbrachte, war unermeßlich. Die ganze Nationalökonomie war auf den Kopf gestellt. Den wissenschaftlichen Vertretern der Bourgeoisie fuhr ein Schrecken durch die Glieder. Zwar hatte schon Ricardo den Profit einfach als unbezahlte Arbeit dargestellt, doch war damit nur eine Thatsache konstatirt, die nicht abzuleugnen war. Der nüchterne Engländer erklärte einfach, so ist es und so müsse es bleiben, eine andere Produktionsform könne es gar nicht geben und gut oder schlecht müsse sich die menschliche Gesellschaft damit einzurichten suchen. Die Träumereien der sogenannten „egalitären Sozialisten“, die aus seiner Theorie Schlüsse zu ziehen suchten, wie man es einrichten könne, damit der konstatirte Mehrwerth in die Taschen der Arbeiter käme und so die Gerechtigkeit hergestellt würde, brauchte man nicht zu fürchten. Marx dagegen hatte nachgewiesen, wie die spezifische Form der kapitalistischen Produktion entstanden sei und wie sie nothwendig Zustände entwickele, welche ihr das Grab graben. Er hatte gezeigt, wie mit Naturnothwendigkeit aus der kapitalistischen Ordnung heraus sich neue Kräfte entwickeln, wie ein Proletariat entsteht, das absolut und konsequent der Klasse der Kapitalisten gegenüber steht, ein Proletariat, welches um das nackte Leben ringen muß mit der Klasse, in deren Hand sich der Mehrwerth anhäuft, einer Klasse, die sich selbst verschlingt, indem mit der Entfaltung der inneren Kräfte der Produktion die kleinen Unternehmer von den großen vernichtet werden müssen, und daß zwischen diesen zwei ringenden Gewalten die Klasse der Kleinproduzenten, der selbständigen Handwerker und Kaufleute zerrieben wird. Nicht nach frommen Wünschen wurde hier eine neue Weltordnung prophezeit, nein, aus den Gesetzen des Kapitalismus heraus wurde sie mit unheilvoller Schärfe deduzirt. So lange sie nur im Namen der Gerechtigkeit forderten, war die Sache nicht gefährlich. Wenn sie aber auf grund der Lehren, welche ihnen die Wissenschaft lieferte, ihren Kampf organisirten, so wurde die Sache ernst. Daher galt es denn auch, diese Theorie zu bekämpfen, bis aufs Messer.
Das Todtschweigen nützte nichts, man versuchte Einwände; das Marxvernichten wurde zur Spezialität. Was an positiver Kritik geleistet wurde, war herzlich schwach, so schwach, daß Marx es unter seiner Würde hielt, auch nur mit einem Worte auf die läppischen Spiegelfechtereien einzugehen. Man verschanzte sich denn auch bald hinter ein sicheres Bollwerk: Was Marx gesagt hat, das konnte man ausbeuten. Die komplizirten Erscheinungen des Geldmarktes, der Konkurrenz, der Grundrente, darüber hatte Marx sich nicht ausgesprochen, hier war man also sicher, und konnte dreist behaupten, das ließe sich auf grund seiner Theorie nicht erklären. Man triumphirte. – Da kam der zweite Band und die Sozialistenfresser waren zum Theil geschlagen, ein weiteres Feld war ihnen entrungen.
Leider war es Marx nicht mehr vergönnt, diesen zweiten Band druckfertig zu machen. Seinem Freunde und Studiengenossen Engels wurde nach seinem Tode diese schwierige ehrenvolle Aufgabe zu theil.
Was hier zu behandeln war, war der „Zirkulationsprozeß des Kapitals“. Es galt zu prüfen, wie das Kapital, welches in der Produktion verbraucht und in größerem Umfange erzeugt wird und nun in neuer Produktion angewandt, sich in konstantes und variables Kapital theilen muß, d. h. in solches, welches in Produktionsmittel und in Arbeitslohn verausgabt wird. Es galt, weiter zu prüfen, inwiefern und wie die Umlaufszeit des Kapitals auf den Mehrwerth bezw. die Mehrwerthsrate (so nennt Marx das Verhältniß des variablen Kapitals zum Mehrwerth) einwirken muß. Weiter galt es, zu untersuchen das Verhältniß des fixen Kapitals, d. h. desjenigen Theils, welcher in Maschinen, Gebäuden u. s. w. festgelegt wird, zum zirkulirenden Kapital, das in Rohstoffen, Kohlen, Hilfsmitteln angelegt wird. Dies war gewissermaßen die industrielle Seite, jedes Kapital wurde hier als abgesonderter Theil betrachtet, seine Verwendung, sein Kreislauf verfolgt. Es trat auf als früher angeeignete Mehrarbeit die in Kapital und zwar in fixes, zirkulirendes und variables vertheilt wurde, um von neuem den Kreislauf zu vollbringen. Weiter aber galt es, „die Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesammtkapitals“ darzustellen. Hier gerade hatte die klassische Nationalökonomie die größten Fehler gemacht. Sie nahm einfach an, das Jahresprodukt eines Landes wird unter die Einwohner vertheilt als Lohn, Profit, Rente. Nun ist es aber klar, daß derjenige Theil, welcher in Produktionsmitteln angewendet wird, überhaupt nicht vertheilt werden kann. Soll der Prozeß weiter geführt werden, so muß das konstante Kapital zum mindesten bestehen bleiben. Was zur Vertheilung kommt ist nur der Arbeitslohn und der Mehrwerth. Da aber die Produktion nicht planmäßig vor sich geht, so ist ist die Produktion von Konsumtionsmitteln und die Reproduktion von Produktionsmitteln der größtmöglichen Verwirrung unterworfen, es müssen Reibungen eintreten und die Konkurrenz der Kapitalisten untereinander, weit entfernt alles in glattem Lauf zu halten, muß bald hier, bald dort Stockungen verursachen.
Dieser zweite Band hatte das Unglück, von den bürgerlichen Oekonomen recht gründlich mißverstanden zu werden, wo möglich noch gründlicher als der erste. Auch hier geschah das Unmögliche, daß einige dieser Herren den zweiten Band als hochwissenschaftliches Werk priesen, was sie dem ersten nicht zugestehen wollten, während doch die ganze Untersuchung sich auf die Wert- und Mehrwerth-Theorie direkt stützt. Gelesen wurde er jedenfalls viel weniger, denn während Marx in jenem ein reiches historisches Material aufgehäuft hatte, das tüchtig ausgeraubt wurde, war dieser Theil durchaus abstrakt gehalten.
Neun Jahre dauerte es, bis der dritte Band erscheinen konnte, und dieser bringt nun den Abschluß des Systems, indem er den Gesammtprozeß der kapitalistischen Produktion schildert.
(Schluß folgt.)
III.
2. Beilage zum „Vorwärts“
Berliner Volksblatt.
Nr. 23. Sonntag, den 27. Januar 1895
Der Dritte Band des „Kapitals“ (Fortsetzung)
In den ersten zwei Bänden wurde angenommen, daß der Austausch der Waaren sich thatsächlich nach dem Werthe vollzieht, also auch der Werth des Geldes, das gezahlt wird, mit dem Werthe der Waare übereinstimmt.
Wie aber alle ökonomischen Gesetze, ist dies nur ein „tendenzielles“ Gesetz, d.h. die Preise tendiren nur dahin, mit dem Werthe übereinzustimmen. Im einzelnen ist das nicht der Fall; im Gegentheil, da die Preise auf dem Markte durch die Konkurrenz hin und her gezerrt werden, so wird eine Waare im Einzelfalle bald unter, bald über dem Werthe verkauft werden. Es scheint also das Werthgesetz überhaupt nur ein Hirngespinst zu sein; und doch wird von Marx nachgewiesen, wie gerade dieser Widerspruch eine Konsequenz des Gesetzes selbst ist.
Die Preise werden auf dem Markte bestimmt, wobei jeder Kapitalist sucht, möglich viel Profit einzuheimsen. Diesen Profit berechnet er natürlich nach seinem Gesammtkapital, welches in der Produktion seiner Waare angewandt wurde. In der That nun kann der Profit nichts anderes sein, als Mehrwerth, dieser aber entsteht nicht aus dem Gesammtkapital, sondern, da er aus Mehrarbeit besteht, kann er nur im Verhältniß stehen zu dem Theile des Kapitals, welches zum Kauf der Arbeitskraft, also als Lohn, angewendet wurde. Es muß also ein Unterschied existiren zwischen der Rate des Profits, d. h. dem Verhältniß des Mehrwerthes zum Gesammtkapital, und der Mehrwerthsrate, dem Verhältniß des Mehrwerths zum variablen Kapital.
Marx untersucht nun, wie die Mehrwerthsrate sich zur Profitrate verhält, wobei er nachweist, daß mit Aenderung der Produktivität der Arbeit in einem Produktionszweige nicht nur das Verhältniß von bezahlter zu unbezahlter Arbeit, also des Mehrwerths zum variablen Kapital, sich ändert, sondern daß in diesem Falle auch das Verhältniß vom konstanten und variablen Theil sich ändern muß. Daß weiter die Umschlagszeit, in welcher das Kapital Mehrwerth nicht nur schaffen, sondern auch realisiren, in Geld umsetzen kann, von größter Bedeutung für die Profitrate ist; endlich wie die Profitrate gesteigert werden kann, indem Ersparnisse am konstanten Kapital gemacht werden. Und zwar werden diese auf mehreren Wegen gemacht. Erstens auf Kosten der Arbeiter, indem man so viel, wie irgend möglich, „spart“ bei Schutzvorrichtungen, Ventilation u.s.w. Zweitens durch Anwendung der Ergebnisse der Wissenschaft, indem man die Krafterzeugung besser ausnutzt, bei der Kraftübertragung möglichst Verluste vermeidet, und indem man die Nebenprodukte möglichst verwerthet.
Nachdem Marx weiter die Wirkungen der Preisschwankungen der Rohstoffe, welche Veränderungen in der Größe des zirkulirenden Kapitals verursachen, auf die Profitrate geschildert und als Beispiel die große Baumwollkrise von 1861-65 beschrieben hat, geht er über zur Untersuchung, wie auf grund der Konkurrenz eine Durchschnitts-Profitrate entstehen muß. Die Frage, die hier zu beantworten war, ist die: Würden sich die Waarenpreise thatsächlich nach dem Werth reguliren, so würden diejenigen Kapitalisten das beste Geschäft machen, welche einen verhältnißmäßig kleinen Theil in konstantem Kapital, in Produktionsmitteln, anlegen und einen großen in variablem, in Lohnarbeit, also diejenigen, welche mit dem geringsten Kapital die größte Zahl von Lohnarbeitern ausbeuten. Nun ist dem thatsächlich nicht so. Jedes Kapital bringt durchschnittlichen Profit, gleichviel, wie es zusammengesetzt ist, aus konstantem und variablem Theile. Diese Ausgleichung eben bringt die Konkurrenz zu stande. Denn, liefert ein Produktionszweig einen überdurchschnittlichen Profit, so strömen diesem Zweige neue Kapitale zu; geschieht dies, so werden mehr Waaren hergestellt, als zur Deckung der Nachfrage nothwendig. Ein Theil der Waaren würde dann gewissermaßen vergeudete Arbeit repräsentiren. Und da auf dem Markte jedes Stück gleich gilt, würde der Werth der einzelnen Waaren niedriger sein, und thatsächlich wären dann auch die Kapitalisten genöthigt, sie billiger loszuschlagen; der Preis würde sinken, mit ihm der Profit, und so würde das Gleichgewicht wieder hergestellt. Allerdings nicht ohne schwere Verluste für einige Kapitalisten, die dabei Haut und Haare lassen können, und nicht ohne Arbeitsstockungen, welche die Arbeiter brotlos machen. So sehen wir, daß der Preis nur selten genau dem Werthe entsprechen wird; denn dazu ist nothwendig, daß erstens das Kapital in einem gewissen Durchschnittsverhältniß in konstantes und variables zerfällt, und zweitens daß Angebot und Nachfrage sich das Gleichgewicht halten, was eben nur ausnahmsweise der Fall sein kann. Im allgemeinen müssen eben auf grund des Werthgesetzes Schwankungen eintreten.
Während so der einzelne Kapitalist bemüht sein muß, den Preis seiner Waare möglichst über den Werth hinaufzutreiben, möglichst viel von dem ganzen Mehrwerth, welcher durch die Gesammtarbeit hergestellt ist, in seine Tasche zu lenken, und im Kampf auf Leben und Tod mit allen anderen Kapitalisten steht, ergiebt sich ein ganz anderes Bild, wenn wir Kapitalisten und Arbeiter als Klassen einander gegenüberstellen. Hier kommt es nur darauf an, wie viel Mehrwerth überhaupt erzeugt wird; denn aus diesem allein kann der Profit entnommen werden. Deshalb ist jeder Kapitalist direkt interessirt an dem Exploitationsgrad der Arbeit, also daran, daß das Verhältniß von unbezahlter zu bezahlter Arbeit möglichst hoch sei. „Man hat also hier den mathematisch exakten Beweis, warum die Kapitalisten, so sehr sie in ihrer Konkurrenz unter einander sich als falsche Brüder bewähren, doch einen wahren Freimaurerbund bilden gegenüber der Gesammtheit der Arbeiterklasse.“
Eine weitere höchst wichtige Frage ist diese: Die Durchschnitts-Profitrate ist keine konstante Größe; sie hat die Tendenz zu fallen. Warum? Die Profitmasse wird bemessen nach dem Verhältniß des Profits zum Gesammt-Kapital. Zum Beispiel wenn in einer Fabrik 100 M. an Lohn gezahlt werden, während die Maschinen, Material und so weiter 50 M. kosten und der Profit 100 beträgt, so ist die Profitrate = 100/150; wenn jetzt dieselbe Arbeiterzahl bei gleichem Lohn, Maschinen und Rohmaterial im Werthe von 400 in Bewegung setzt und der Profit gleich bleibt, so ist die Profitrate = 100/500, also ist sie gefallen. Was bedeutet aber, daß dieselben Arbeiter ein viermal größeres konstantes Kapital in Bewegung setzen? Nichts anderes, als daß die Produktivität der Arbeit gestiegen ist.
„Die progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigenthümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivität der Arbeit.“
Es zeigt sich also, daß mit der Entwickelung des kapitalistischen Systems ein stets größerer Theil des Kapitals in konstantem Kapital, ein stets kleinerer Theil in Arbeitslohn angelegt werden muß. Damit ist aber nicht gesagt, daß die Masse des Mehrwerths sinkt, im Gegentheil. „Die Anzahl der vom Kapital angewandten Arbeiter, also die absolute Masse der von ihm in Bewegung gesetzten Arbeit, daher die absolute Masse der von ihm aufgesaugten Mehrarbeit, daher die Masse des von ihm produzirten Mehrwerthes, daher die absolute Masse des von ihm produzirten Profits, kann also wachsen, und progressiv wachsen, trotz des progressiven Falles der Profitrate. Dies kann nicht nur der Fall sein. Es muß der Fall sein – vorübergehende Schwankungen abgerechnet – auf Basis der kapitalistischen Produktion.“
Dieses Fallen der Profitrate würde sogar viel rapider sein, wenn nicht verschiedene Umstände dem entgegen arbeiteten. Zu diesen gehört: 1. Daß der einzelne Arbeiter in stets höherem Maße exploitirt wird; 2. daß der Arbeitslohn unter seinen Werth heruntergedrückt wird; 3. Verwohlfeilerung der Elemente des konstanten Kapitals; 4. Die relative Ueberbevölkerung, welche dahin wirkt, daß die Verwandlung von Handarbeit in Maschinenarbeit nicht so schnell vor sich geht, als dies sonst eintreten würde; 5. Der auswärtige Handel, weil Kapitale nach weniger entwickelten Ländern geworfen werden, wo der Profit höher ist.
Aus dem Fall der Profitrate zieht Marx die Konsequenz, daß die kapitalistische Produktionsweise sich selbst eine Schranke setzt. „Die Schranke der kapitalistischen Produktionsweise tritt hervor:
1. Darin, daß die Entwicklung der Produktionskraft der Arbeit im Fall der Profitrate ein Gesetz erzeugt, das ihrer eigenen Entwickelung auf einem gewissen Punkt feindlich gegenübertritt und daher beständig durch Krisen überwunden werden muß.
2. Darin, daß die Aneignung unbezahlter Arbeit, und das Verhältniß dieser unbezahlten Arbeit zur vergegenständlichten Arbeit überhaupt, oder kapitalistisch ausgedrückt, daß der Profit und das Verhältniß zum angewandten Kapital, also eine gewisse Höhe der Profitrate über Ausdehnung oder Beschränkung der Produktion entscheidet, statt des Verhältnisses der Produktion zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen, zu den Bedürfnissen gesellschaftlich entwickelter Menschen. Es treten daher Schranken für sie ein schon auf dem Ausdehnungsgrad der Produktion, der umgekehrt unter der anderen Voraussetzung weitaus ungenügend erschiene. Sie kommt zum Stillstand, nicht wo die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern wo die Produktion und Realisirung von Profit diesen Stillstand gebietet.“
Damit sind die Erscheinungen des industriellen Kapitals erschöpft. Es giebt aber noch zwei weitere Kapitalformen, die untersucht werden müssen: das kaufmännische und das zinstragende Kapital.
(Schluß folgt.)
IV.
2. Beilage zum „Vorwärts“
Berliner Volksblatt.
Nr. 37. Mittwoch, den 13. Februar 1895
Der Dritte Band des „Kapitals“*) (Schluß.)
Bei dem kaufmännischen Kapital ist es klar, daß es keinen Mehrwerth schafft, denn dieser kann nur in der Produktion entstehen. Der Kaufmann beschäftigt wohl zuweilen Arbeiter, aber wir können uns sehr wohl Fälle denken, und thatsächlich kommen sie vor, daß durch bloßen Kauf und Verkauf ohne jede Speditions-, Vertheilungsarbeit etc. Profit eingeheimst wird. Wie geht das zu? Man könnte annehmen, daß der Kaufmann einen Aufschlag auf den Produktionspreis macht, zu welchem er die Waare von dem Fabrikanten erhält, und thatsächlich kommt das in einzelnen Fällen vor; aber im allgemeinen erklärt es sich viel einfacher, wenn man annimmt, daß der produzirende Kapitalist, um schneller zu seinem Gelde zu kommen, dem Kaufmann einen Theil seines Profits überlässt. Dies wird um so klarer, wenn wir bedenken, daß oft der produzirende Kapitalist direkt an die Konsumenten verkauft; dann stellt sich das Kaufmannskapital einfach dar als ein Theil des produktiven Kapitals. So kommen wir zu dem Schluß, daß Kaufmannskapital zwar nicht direkt Mehrwerth schafft, aber ein Mittel ist, durch andere Leute ausgebeuteten Mehrwerth sich anzueignen
Was nun die kaufmännischen Arbeiter anbetrifft, so sagt Marx folgendes über sie: „Der kommerzielle Arbeiter produzirt nicht direkt Mehrwerth. Aber der Preis seiner Arbeit ist durch den Werth seiner Arbeitskraft, also deren Produktionskosten, bestimmt, während die Ausübung dieser Arbeitskraft, als eine Anspannung, Kraftäußerung und Abnutzung wie bei jedem anderen Lohnarbeiter keineswegs durch den Werth seiner Arbeitskraft begrenzt ist. Sein Lohn steht daher in keinem nothwendigen Verhältniß zu der Masse des Profits, die er dem Kapitalisten realisiren hilft. Was er dem Kapitalisten kostet und was er ihm einbringt, sind verschiedne Größen. Er bringt ihm ein, nicht indem er direkt Mehrwerth schafft, aber indem er die Kosten der Realisirung des Mehrwerths vermindern hilft, soweit er, zum Theil unbezahlte, Arbeit verrichtet. Der eigentliche kommerzielle Arbeiter gehört zu der besser bezahlten Klasse von Lohnarbeitern, zu denen, deren Arbeit geschickte Arbeit ist, über der Durchschnittsarbeit steht. Indeß hat der Lohn die Tendenz zu fallen selbst im Verhältniß zur Durchschnittsarbeit im Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise. Theils durch Theilung der Arbeit innerhalb des Komptoirs; daher nur einseitige Entwickelung der Arbeitsfähigkeit zu produciren ist, und die Kosten dieser Produktion den Kapitalisten zum theil nichts kosten, sondern das Geschick des Arbeiters sich durch die Funktion selbst entwickelt, und um so rascher, je einseitiger es mit der Theilung der Arbeit wird. Zweitens, weil die Vorbildung, Handels- und Sprachkenntnisse u.s.w. mit dem Fortschritt der Wissenschaft und Volksbildung immer rascher, leichter, allgemeiner, wohlfeiler reproduzirt werden, je mehr die kapitalistische Produktionsweise die Lehrmethoden u. s. w. aufs Praktische richtet. Die Verallgemeinerung des Volksunterrichts erlaubt, diese Sorte aus Klassen zu rekrutiren, die früher davon ausgeschlossen, an schlechtere Lebensweise gewöhnt waren. Dazu vermehrt sie den Zudrang und damit die Konkurrenz. Mit einigen Ausnahmen entwerthet sich daher im Fortgang der kapitalistischen Produktion die Arbeitskraft dieser Leute; ihr Lohn sinkt, während ihre Arbeitsfähigkeit zunimmt. Der Kapitalist vermehrt die Zahl dieser Arbeiter, wenn mehr Werth und Profit zu realisiren ist. Die Zunahme dieser Arbeit ist stets Wirkung, nie Ursache der Vermehrung des Mehrwerths.“
Was nun das Leihkapital anbetrifft, für welches Zins gezahlt wird, so ist hier klar, daß dieser nur aus dem Profit, also aus dem Mehrwerth des industriellen Kapitals gezahlt werden kann. Aeußerst geistreich ist Marxens Auffassung des Zinses als Gebrauchswerth des Kapitals. „Wenn dieser Mann (der leitende) dem Eigner der 100 £str. am Jahresschluß vielleicht 5 £str. zahlt, d.h. einen Theil des produzirten Profits, so zahlt er damit den Gebrauchswerth der 100 £str., den Gebrauchswerth ihrer Kapitalfunktion, der Funktion 20 £str. Profit zu produziren.“
Die Frage des Zinses wird ungemein komplizirt durch die verwickelten Erscheinungen des Bankkredits, welche Marx einer gründlichen Analyse unterwirft.
Betrachtet man nun die Vertheilung des Mehrwerths, welcher von der gesammten Arbeiterklasse produzirt wird, so vertheilt sich derselbe als Zins und Profit auf das ganze von der Kapitalistenklasse in Handel und Industrie angewandte Gesammtkapital.
Der Kaufmann, der Fabrikant, der Wucherer sind aber nicht die einzigen, die ernten, wo sie nicht gesäet haben, es giebt noch die Klasse der Grundeigenthümer, welche ihr Einkommen aus der Grundrente beziehen.
Die Grundrenten-Theorie Ricardo’s lautet in ihrer allgemeinsten Form: Der Boden ist von verschiedener Fruchtbarkeit, die Preise der Produkte werden nach den Produktionskosten auf dem schlechtesten, unergiebigsten Boden berechnet, welcher noch zur Deckung des Gesammtbedarfs herbeigezogen werden muß, die Besitzer der besseren, ergiebigeren Böden erhalten somit einen Extraprofit, die Rente, – Marx behält im Grunde diese Auffassung bei, doch vertieft er sie, indem er die Grundrente nur als eine spezifische Form der Mehrwerthsaneignung betrachtet. – Der Werth wird bestimmt nach der gesellschaftlich nothwendigen Arbeitsmenge, die in einer Waare enthalten ist. Wenn nun Jemand in die Lage kommt, günstige Bedingungen zu monopolisiren, so kann er weniger als die durchschnittliche Arbeitsmenge aufwenden, und so entsteht ein Extraprofit. Marx erläutert das an einem vorzüglichen Beispiel: Nehmen wir an, in einem Lande werde die große Masse der Fabriken mit Dampfkraft betrieben. Wenn nun einer der Fabrikanten die Möglichkeit erlangt, seine Fabrik durch einen Wasserfall zu betreiben, was billiger ist, so macht er einen Extraprofit den anderen gegenüber. Nun fragt es sich, woraus ist dieser entstanden? Doch nicht einfach daraus, daß der Auserwählte eine Naturkraft anwendet, denn Dampfkraft ist ebensowohl Naturkraft wie die des Wasserfalls. Der Extraprofit entspringt aus der Anwendung einer Naturkraft, aber einer solchen, die nicht allen Kapitalisten zugänglich ist, aus einem Monopol.
Dasselbe gilt nun im Ackerbau. Der Besitzer eines Grundstücks überlässt dasselbe dem Unternehmer unter der Bedingung, ihm den Extraprofit, welchen er dabei macht, als Pacht zu zahlen. So wird das Eigenthum an einem Stück Erdoberfläche zum Mittel, einen Theil des Mehrwerths einzuheimsen.
Die Erscheinung wird komplizirt durch den Umstand, daß Kapitale, welche auf demselben Boden nacheinander angewendet werden, nicht im gleichen Maßstabe produktiv sind, woraus sich eine ganze Anzahl Kombinationen ergeben, auf welche wir hier natürlich nicht eingehen können. Es sei nur noch das ungemein interessante historische Kapitel erwähnt, in welchem Marx die „Genesis der kapitalistischen Grundrente“ schildert. Wie sie sich erst darstellt in Arbeitsrente, wobei der unmittelbare Produzent einen Theil der Woche für den Grundherrn arbeitete, indem er dessen Feld bestellte, wogegen ihm ein Acker zur Nutznießung angewiesen wurde. Hier also eignete sich der Grundherr kraft seines Hoheitsrechtes direkt Mehrarbeit des frohnpflichtigen Bauern an. Allmählig entstand die Produktenrente, bei welcher der Bauer das ganze Feld behielt, mit eigenem oder gutsherrlichem Ackervieh und Geräthen bearbeitete und dagegen einen Theil des Bodenertrages abliefern musste. Die entwickeltste Form ist die Geldrente: der Boden wird vom Grundeigenthümer an einen Unternehmer verpachtet, wobei die Pacht sich so berechnet, daß dem Pächter der Durchschnittsprofit bleibt.
Hiermit wären wir am Schlusse unseres kurzen Referats. – Einige Worte noch über die Form der Darstellung.
Wenn wir diesen dritten Band mit dem ersten vergleichen, so besteht leider ein nur zu großer Unterschied. Die oft packende Darstellung ist verloren gegangen, und nur selten tritt sie hervor in den Kapiteln, die vollständig ausgearbeitet waren. Man sieht nur zu deutlich, wahr, daß es Bruchstücke sind. Doch war dies nicht zu vermeiden, wenn, wie Engels sagt, das Buch „auch als ausschließliches Werk des Verfassers, nicht des Herausgebers“ dastehen sollte. Da vielfach nur Fragmente vorhanden sind, musste der Zusammenhang theilweise verloren gehen, was der Leser schmerzlich empfindet; und andererseits mußten sich Wiederholungen einstellen.
Aber selbst in dieser Form verhält sich das Buch zu vielen nationalökonomischen „Hand- und Nachschlagebüchern“ wie eine klassische Marmorbüste zu den Gipsfiguren des Trödlerladens. Ein mächtiger, durchdringender, alles umfassender Geist, steht Marx unerreicht da.
Daß Marx nicht alles ins Detail ausarbeiten konnte, wird hoffentlich ein Sporn sein für seine Schüler, freudig weiterzubauen im Sinne des Meisters zu Nutz und Frommen des kämpfenden Proletariats, das aus dem „Kapital“ von Karl Marx seine schneidigsten Waffen holt. J.B.M.
[1] Siehe Heinrich von Sybel: Die Lehren des heutigen Socialismus und Kommunismus. Zwei Vorträge, gehalten in Barmen. In: Kölnische Zeitung. Nr. 89. 29.3.1872, 3. Blatt; Nr. 90. 30.3.1872, 1. Blatt; Nr. 92. 2.4.1872, 3. Blatt; Nr. 93. 3.4.1872, 3. Blatt; Nr. 94. 4.4.1872, 3. Blatt; Nr. 95. 5.4.1872, 3. Blatt. Da es sich um eine rare Quelle handelt, seien hier einige längere Passagen zur Kenntnis gebracht.
[2] „Ich betrachte das System der bürgerlichen Oekonomie in dieser Reihenfolge: Kapital, Grundeigenthum, Lohnarbeit; Staat, auswärtiger Handel, Weltmarkt. Unter den drei ersten Rubriken untersuche ich die ökonomischen Lebensbedingungen der drei großen Klassen, worin die moderne bürgerliche Gesellschaft zerfällt; der Zusammenhang der drei andern Rubriken springt in die Augen.“ Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft. Berlin 1859. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), Bd. II/2, S. 99 bzw. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Bd. 13, S. 7.
[3] Heinrich von Sybel, a. a. O., Nr. 89. 29.3.1872, 3. Blatt.
[4] Ebenda.
[5] Siehe MEW, Bd. 23; in der MEGA sind die zu Lebzeiten von Marx und Engels erschienenen und jedes Mal veränderten vier deutschen Auflagen von 1867, 1872/73, 1883 und 1890 in den Bänden II/5, II/6, II/8 und II/10, die französische Ausgabe von 1872-1875 im Band II/7 und die englische Ausgabe von 1887 im Band II/9 ediert worden.
[6] Siehe MEW, Bd. 24; in der MEGA werden die Manuskripte und die Druckfassung des zweiten Buchs bzw. Bandes des „Kapital“ von 1885 in den Bänden II/11 (in Arbeit), II/12 (erschienen) und II/13 (in Arbeit) ediert.
[7] Siehe MEW, Bd. 25; in der MEGA wurden die seit 1871 erarbeiteten Manuskripte sowie Druckvorarbeiten zum Buch bzw. Band drei im Band II/14 und die erste Ausgabe des dritten Bandes des „Kapital“ von 1894 in Band II/15 ediert. Die drei hinterlassenen Rohentwürfe der „Kritik der politischen Ökonomie“, der Marx ab 1866 den Haupttitel „Das Kapital“ voranstellte, von 1857/1858, 1861-1863 und 1863-1867 wurden in den MEGA-Bänden II/1, II/3 und II/4 (wovon sich II/4.3 in Arbeit befindet) ediert.
[8] In der MEGA wurden sie in den Teilbänden II/3.2-II/3.4 ediert.
[9] Siehe Fußnote 1.
*) Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Von Karl Marx. Dritter Band (erster und zweiter Theil). Der Gesammtprozeß der kapitalistischen Produktion. Herausgegeben von Friedrich Engels. Verlag von Otto Meißner, Hamburg 1894. Preis 10 M., gebunden in zwei Halbfranzbänden 14 M.
*) Die beiden vorhergehenden Artikel siehe in den Nummern vom 25. und 27. Januar. Wegen beständigen Raummangels kann der Schlussartikel erst heute abgedruckt werden.