Die Autorin sucht in ihren Aufsatz anhand der Reform- und Öffnungspolitik der KP China wesentliche innere und äußere Entwicklungen der VR China zu erfassen und auf dieser Grundlage das Wesen des Transformationsprozesses der chinesischen Gesellschaft darzustellen.
Sie kommt dabei zu folgenden Erkenntnissen:
Die chinesische Transformation seit 1978 ist eine kapitalistische Revolution, eingeleitet und gesteuert durch die KP Chinas von oben. China hat sich vom Sozialismus verabschiedet und einen (staats-)kapitalistischen Charakter angenommen. Es profitiert von der neoliberalen Globalisierung und gewinnt als Wirtschaftsgigant an Bedeutung im globalen Kapitalismus. Darin liegt die Stärke, aber auch die Schwäche der chinesischen Wachstumsdynamik. „Chinas Wachstum, das der KP-Staat den ‚Sachzwängen‘ der neoliberalen Globalisierung getreu steuert, kann selbst Opfer jener Zwänge werden.“
Der Leser gewinnt zweifelsohne interessante Einblicke in verschiedene Aspekte der jüngsten ökonomisch-sozialen Entwicklung des Landes. Das trifft vor allem auf den Abschnitt „Die doppelte Prägung des Standorts China in der Weltwirtschaft“ zu. Nicht zu verkennen ist jedoch das Bestreben der Autorin, Zahlen und Fakten vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Beweisführung ihrer Thesen auszuwählen und darzustellen. Das beeinträchtigt die Objektivität der Darlegungen erheblich.
Der Aufsatz hätte wesentlich gewonnen, wenn die nationale Spezifik Chinas als eines Entwicklungslandes mit einer sozialistischen Zielsetzung berücksichtigt worden wäre. Ich hätte mir für den Disput auch die theoretische Fundierung der These über den Wechsel des Gesellschaftssystems gewünscht. So hat der Beitrag eher beschreibenden denn analytischen Charakter.
Ich möchte mich vor allem zu folgenden Aspekte kritisch äußern:
1. Der erste Streitpunkt, den ich hier vortrage, betrifft die Auslegung des Begriffs Staatskapitalismus. Die sich darauf aufbauende Kernthese der Autorin, China hätte sich mit der Reform- und Öffnungspolitik vom Sozialismus abgewandt und zum Kapitalismus gewandelt, widerspricht den Tatsachen.
Die Autorin setzt den Begriff Staatskapitalismus gleich Kapitalismus in Sinne einer Gesellschaftsordnung. Diesen Standpunkt teilt nicht einmal die bürgerliche Ökonomie. Staatskapitalismus gibt es z.B. in der VR China wie im kapitalistischen England, nämlich als eine vom jeweiligen Staat dominierte spezielle kapitalistische Eigentumsform im Gesamtensemble des Eigentums an Produktionsmitteln. Der Charakter und damit die Aufgabe des Staatskapitalismus In der VR China sind andere als in England, weil der Charakter der politischen Macht in China sich von der in England grundsätzlich unterscheidet.
Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob in China der Sozialismus als Gesellschaftsordnung bereits existiert, ob dort der Sozialismus gerade errichtet wird oder ob es erst darum geht, die zivilisatorischen Voraussetzungen und Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus zu schaffen. So lange die politische Macht in China sozialistischen Charakter (als Bewegungsform) trägt, wird der dortige Staatskapitalismus nicht für die Entfaltung kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse, sondern für die Schaffung von Voraussetzungen des Sozialismus genutzt.
Das Problem, das die Autorin augenscheinlich nicht zur Kenntnis nimmt, ist die Spezifik des Sozialismus in einem Entwicklungsland wie China. Sie hätte bei Deng Xiaoping nachlesen können, dass China, um den Sozialismus aufbauen zu können, den materiellen wie den geistigen Fortschritt der menschlichen Zivilisation im Kapitalismus „nachholen“ und dafür das Kapital als Vehikel nutzen muss. Dabei sind eben Marktwirtschaft, Kapital und Staatskapitalismus nicht gleich dem Kapitalismus als gesellschaftliche Ordnung. Offen bleibt natürlich, wer letztlich über wen obsiegt.
Die Autorin hätte dem Leser auch vermitteln müssen, dass die KP Chinas nach wie vor am Aufbau des Sozialismus festhält und dieses Ziel in der Verfassung des Landes verankert ist. Die Partei sieht in der Reform- und Öffnungspolitik das Mittel und den Weg, in China schneller und besser als zuvor einen modernen und zivilisierten Sozialismus zu entwickeln. Bei allen ernsten Schwierigkeiten und Widersprüchen, die es in China gibt, dies hätte im Aufsatz vermerkt werden müssen.
Der staatliche Sektor der Volkswirtschaft ist in China die hauptsächliche ökonomische Basis der sozialistischen Bewegung, wenn er auch mit vielen Problemen befrachtet ist. Fakt ist, dass der staatliche Sektor heute mit rd. 25 Prozent Anteil an der Erzeugung des BIP die entscheidenden Wirtschaftsbereiche kontrolliert, in Form von Aktiengesellschaften in- und ausländisches Kapital zu seiner Modernisierung aufnimmt, eigene moderne und international konkurrenzfähige Multis nach westlichen Beispiel entwickelt. In diesem Prozess ist das staatliche Kapital in einer neuen Art mobil geworden.
2. Mein zweiter Kritikpunkt: Die Dialektik zwischen gesellschaftlichem Sein einerseits und Politik der KP Chinas als Reaktion/Aktion auf dieses Sein spielt in dem Beitrag keine Rolle (eine gewisse Ausnahme bildet der letzte Abschnitt).
Die Autorin beschränkt sich im Wesentlichen auf die Darlegung der ökonomischen und teilweise auch der sozialen Politik, ohne diese in ihrer Verknüpfung mit den gesellschaftlichen Problemen und Widersprüchen zu sehen. So erfährt der Leser nicht, warum die Partei zur Reform- und Öffnungspolitik übergegangen ist und weshalb die Entscheidung zugunsten der „sozialistischen Marktwirtschaft“ fiel und mit welchem Ziel sie getroffen wurde (beschleunigte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ in der Sowjetunion und in Osteuropa!). Er erfährt nicht, dass der neoliberale Mainstream unter den chinesischen Ökonomen unter westlichem Einfluss aufkam und welche Auswirkungen er auf den „Wachstumstotalitarismus“ (Formulierung der Autorin; eine Art l’art pour l’art) seit Mitte der 1990er Jahre hatte. Im Aufsatz erfahren wir nicht, dass der neoliberal beeinflusste Wirtschaftsaufschwung die Gesellschaft instabil werden ließ. Gänzlich unerwähnt bleiben die Schritte und Maßnahmen nach dem 16. Parteitag zur Korrektur des Wirtschaftskurses seit Mitte der 1990er Jahre. Eine objektive Darstellung dieser Dialektik hätte dem Beitrag gut getan, sicher aber auch die Kernthese der Autorin ins Wanken gebracht.
3. Gesichtspunkt: Die Darlegungen über die Reform- und Öffnungspolitik von 1978 bis in die unmittelbare Gegenwart speisen sich offenbar im wesentlichen nur aus Untersuchungen der Autorin über den begrenzten Zeitraum von den 1990er Jahren bis Anfang des 21. Jahrhunderts.
Ihre Ausführungen über die Reform- und Öffnungspolitik bis Anfang der 1990er Jahren sind fehlerhaft. So stand auf der 3. Tagung des 13. ZK der KPCh Ende 1978 die Problematik der Marktwirtschaft und der marktwirtschaftlichen Anreize noch nicht auf der Tagesordnung. Die Auseinandersetzungen in der chinesischen Führung über die Beziehungen zwischen Plan und Markt, zwischen „Planwirtschaft“ (staatliche Kommandowirtschaft) und Marktwirtschaft begannen erst im Verlaufe der 1980er Jahre in den Vordergrund zu treten. Um die Wende zu den 1990er Jahren war die Frage dann zugunsten der Marktwirtschaft entschieden. Die chinesische Führung brauchte sich 1989/90 folglich nicht angesichts eines „Chaos“ neu zu orientieren. Die Einschätzung, dass die Reformen im ersten Jahrzehnt wenig Erfolg hatten und dieses Jahrzehnt „mit einem schweren ökonomischen und politischen Chaos“ endete, entspricht auch nicht den Tatsachen. Die Autorin lässt außer acht, dass sich die Grundzüge der Reform- und Öffnungspolitik im Verlaufe der 1980er Jahre in einer Art „Trial and Error“ („von Stein zu Stein über die Furt tasten“) erst auszuprägen begannen und nicht Weniges aus der Vergangenheit nachwirkte (z.B. die Gleichmacherei). Im Unterschied zur Zeit nach Mitte der 1990er Jahre gelangten noch alle Teile des Volkes in den Genuss der Reformergebnisse. Die kritische Situation in der Wirtschaft, die nach dem Parteitag 1987 entstand, zwang zur Zurücknahme übereilter marktwirtschaftlicher Reformen (z.B. marktregulierte Preise) und zu einer zweijährigen Stabilisierung der Wirtschaft, verursachte in dem Sinne aber kein Chaos. Die militärische Unterdrückung der politisch differenzierten Protestbewegung 1989 führte ebenfalls nicht ins Chaos, bewirkte jedoch ein weiteres Zurückbleiben der politischen hinter der wirtschaftlichen Reform und schädigte das Ansehen der Partei ernsthaft. Schließlich hätte die Autorin erwähnen sollen, dass der Übergang zur „sozialistischen Marktwirtschaft“ 1992 auf dem Hintergrund des Zusammenbruchs des „realen Sozialismus“ in der Sowjetunion und Ost-/Mitteleuropas erfolgte und in Zusammenhang mit der neuen Überlegung Deng Xiaopings über die Entwicklungspotenzen des Kapitalismus gestanden hat.
In den Ausführungen über die Zeit der neoliberal beeinflussten Wirtschaftspolitik, die sich insbesondere im Vorgehen der Lokalregierungen widerspiegelte, wird zwar das hohe Wachstumstempo der Wirtschaft hervorgehoben, dem übermäßigen Preis, der dafür zu zahlen war (Zuspitzung gewichtiger gesellschaftlicher Probleme und Widersprüche wie soziale Polarisierung), schenkt die Autorin jedoch so gut wie keine Aufmerksamkeit. Keine Beachtung findet, dass die eingeleitete Lösung dieser Probleme und Widersprüche seit 2004 mit einem tendenziellen Zurückdrängen neoliberaler Einflüsse auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik verbunden ist.
4. Der Aufsatz lässt vermuten, dass die Autorin wenig Erfahrungen im Umgang mit der chinesischen Literatur und der Auslegung von Orientierungen in der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik hat. (So wird in den Quellengaben des Aufsatzes lediglich eine Quelle aus der VR China angeführt, die zudem eine Sekundärquelle ist und für oft ungenaue Übersetzungen bekannt wurde.)
Dafür einige Beispiele.
Cho schreibt im Zusammenhang mit dem Beschluss der 3. Tagung des 13. ZK der KP Chinas 1978, dass „alle Aspekte in den Beziehungen zwischen Produktion (von mir hervorgehoben – H. P.) und Überbau, die diesem Ziel (Nutzung marktwirtschaftlicher Anreize, siehe oben – H. P.) im Wege stehen, entscheidenden Veränderungen unterzogen werden“ sollten. Dazu zwei Anmerkungen: Zum einen orientierte die KPCh darauf, die Widersprüche „zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen Basis und Überbau“ durch die Reformen zu lösen. Zum anderen findet sich diese Formulierung noch nicht im Beschluss der erwähnten Tagung.
Die Entwicklung der Wirtschaft ist zumindest in den Dokumenten der KPCh immer mit dem Ziel verbunden worden, den materiellen und kulturellen Lebensstandard des Volkes ständig zu verbessern. Diese Zielsetzung wird nicht erwähnt.
Die Autorin charakterisiert das „maoistische Sozialismus-Projekt“ als „sozialrevolutionäres Gleichheitsideal“. Dieses Ideal war die absolute Gleichmacherei (vgl. z.B. das Bild der „blauen Ameisen“ in den ideologisch ausgerichteten Massenkampagnen des „großen Sprungs nach vorn“). Was war daran „sozialrevolutionär“?
Die von Deng Xiaoping ausgehende Orientierung der KP Chinas, ein Teil der Menschen und Regionen solle zuerst wohlhabend werden und dann den anderen helfen, ebenfalls zu Wohlstand zu gelangen, wird von Cho verkürzt und variiert mit „einige sich zuerst entwickeln lassen“ übersetzt.
Ich fasse meine Anmerkungen zusammen:
In dem Aufsatz geht es nicht nur darum, dass eine Auffassung vertreten wird, die sich deutlich an bekannte westlich-bürgerliche Interpretationen anlehnt. Mindestens ebenso kritisch sehe ich Mängel hinsichtlich der notwendigen Objektivität und Sachlichkeit wissenschaftlicher Arbeit sowie in der Auswertung der chinesischen Primär- und Sekundärliteratur.