Chinas Wirtschaftswachstum. Beeindruckend. Ja doch. Aber ein Beitrag zu einer neuen, multilateralen Weltordnung? [1]Vielleicht, aber davon erfahren wir hier leider nichts – obwohl man es in diesem Themenschwerpunkt erwarten durfte. China nimmt eine Ausnahme-Stellung unter den „BRICS“-Staaten ein? Gewiß doch. Aber Cho zufolge besteht sie vor allem darin, daß China schon Erreichtes preisgibt, so jedenfalls interpretiert sie den Weg „vom Staatssozialismus zum Staatskapitalismus“ (76). Unsere letzte Hoffnung (wenn wir von der kleinen Insel dort irgendwo in der Karibik einmal absehen) also dahin? Die Sachlage, selbst in der von der Autorin vorgestellten Form, läßt auch ganz andre Schlüsse zu. [2]
Die Schattenseiten der seit 1990 forcierten Wirtschaftsreformen, wie zunehmende Massenarbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung, wachsende Diskrepanz zwischen arm und reich, sind nicht zu übersehen und werden von Cho gebührend hervorgehoben. Die Abkehr vom „sozialrevolutionären Gleichheitsideal“ (79) ist aber vor allem eins: die Abkehr von gleichmacherischen Tendenzen in der politischen Praxis – ihnen müssen wir keine Träne nachweinen, die „Kulturrevolution“ sollte reichen (von den Roten Khmer ganz zu schweigen). Aber Cho besteht darauf, dieser Weg sei zugleich der „Abschied vom Sozialismus“ selbst (79).
Man kann gewiß eine Reihe von kritischen Fragen an die KPCh stellen, die jedoch auch Gegenfragen herausfordern. Warum dieses enorme Wachstumstempo, warum nicht ein weniger forcierter Umbau? Galt hier die Devise: laßt uns die notwendigen sozialen Grausamkeiten ganz schnell begehen, dann wird’s nachher umso besser? Oder ließ das Wahnsinnstempo des westlichen „Turbokapitalismus“ keine andre Wahl? Hätte ein behutsameres Vorgehen zwar womöglich die sozialen Verwerfungen gemildert, aber die chinesische Wirtschaft damit den Anschluß an die führenden kapitalistischen Wirtschaftsmächte gänzlich verloren? Haben wir es hier schon mit einer Neuauflage des Kalten Krieges, diesmal gegen China, zu tun, dessen Ausgang man nur offen halten zu können glaubt, wenn man deutlich dagegen steuert, natürlich (auch!) mit Mitteln, die dem Arsenal des Gegners entnommen sind?
Ich selbst vermute, daß mit dem Weg hin zum „Staatskapitalismus“ in der Tat die Tage zumindest der Alleinherrschaft der KP gezählt sind. Auch darin sehe ich nicht zwangsläufig eine Abkehr vom Sozialismus. Gewiß ist nur eine Abkehr vom „Staatssozialismus“ alter Prägung, der immer mehr mit ökonomischer Ineffizienz und politisch desaströsen Zuständen einherging. Die KP-Führung Chinas macht womöglich das einzig Richtige; sie macht sich zunehmend überflüssig. Ein autoritäres Regime erleichtert zwar die radikale Neuausrichtung des Wirtschaftssystems. Aber in dem Maße wie sie gelingt, schafft und verlangt sie Bedingungen, die ein solches Regime unmöglich oder seine, womöglich gar gewaltsame, Aufrechterhaltung kontraproduktiv machen. Was an seine Stelle treten wird? Wer weiß. Vermutlich wird die entstehende Bourgeoisie auf Dauer sich nicht damit begnügen, im Windschatten der KP ruhig ihre Geschäfte zu betreiben. Aber auch die Masse der Lohnabhängigen wird nicht permanent für Hungerlöhne schuften wollen. Mittelfristig könnte sich ein Sozialstaat ähnlich wie bei uns herausbilden, vielleicht noch auf den Weg gebracht von der KP selbst, bei einem langsam ansteigenden materiellen Lebensstandard der Massen. Er dürfte allerdings noch lange weit hinter dem unsrigen zurückbleiben, auch wenn dieser weiterhin sinken wird.
Die chinesische KP-Führung selbst erklärt, sie halte am Sozialismus als Ziel fest. Um es zu erreichen, bedürfe es allerdings des „Umwegs“ Kapitalismus als einer sehr langen „Zwischenphase“, die man nicht überspringen könne; hundert Jahre und mehr veranschlagt sie dafür. Ihre neue Parole heute daher: „sich einige zuerst entwickeln lassen“ (79). Ja es scheint so, daß damit „frühkapitalistisch-ausbeuterische Arbeitsverhältnisse“ (79) einhergehen. Daß die KP-Führung das sozialistische Ziel aus den Augen verlieren, daß die immer selbstbewußter agierende Bourgeoisie sie davonfegen könnte – klar, diese Möglichkeit bleibt offen. Fragt sich nur, was sie stattdessen hätte tun sollen. Immerhin gelang ihr, was in Osteuropa mißlang: der geordnete Rückzug auf neue Positionen, und er war notwendig. Der „Staatssozialismus“ hatte einst beträchtliche Produktivkräfte freigesetzt. Sie machten die gesellschaftliche Alternative zur wenigstens zeitweiligen Realität im großen Maßstab, die wiederum außerordentliche Wirkungen nach außen zeitigte (in Hinblick auf die Entwicklung des Sozialstaats im kapitalistischen Zentrum und die der nationalen Befreiungsbewegungen in der Peripherie). Doch diese Produktivkräfte hatten sich weitgehend erschöpft. Der vormalige maoistische Weg hatte ganz offensichtlich ebenso in die Sackgasse geführt wie der osteuropäische Realsozialismus.
Das Ergebnis des Umsteuerns in China, man mag es „Staatskapitalismus“ nennen; jedenfalls war es nicht der Rückfall ins zuweilen pure Chaos. Verglichen mit den andren großen Schwellenländern wirkte sich das, wie es scheint, zumindest auf die ökonomische Entwicklung positiv aus. China soll sich Cho zufolge (80f.) an den „kleinen Tigerstaaten“ orientiert haben, doch in der entscheidenden Frage ist das gerade nicht der Fall: in deutlichem Gegensatz zu ihnen sind, so Cho selbst, die „strategisch wichtigen Sektoren“ nach wie vor dem privaten Zugriff (weitgehend) entzogen (78), darunter auch der Devisenmarkt. China bewahrte das u.a. davor, in den ostasiatischen Bankenkrach 1998 hineingezogen zu werden; dagegen traf er jene Staaten mit voller Wucht. Chos Behauptung, der KP-Staat steure Chinas Wachstum den „‘Sachzwängen‘ der neoliberalen Globalisierung getreu“ (76), gilt also nur mit großen Einschränkungen – wenn sie denn überhaupt Sinn macht.
Der Kapitalismus mag Spätkapitalismus sein. Jawohl, wie der (westeuropäische) Spätfeudalismus, der es dennoch auf einige Jahrhunderte brachte. In beiden Fällen ist die Möglichkeit und der beiderseitige Wille zum Klassenkompromiß die Voraussetzung dafür. Der Weg damals hin zur bürgerlichen Gesellschaft schloß ebenfalls eine „Zwischenphase“ ein: den Absolutismus – daß dieser Umweg unumgänglich war, dafür spricht einiges; jedenfalls wies er einen Ausweg aus der Sackgasse, in die die Städte geraten waren. Sie verloren ihre Autonomie, aber wurden, gefördert von ihren jeweiligen Landesherren, zur Pflanzstätte des modernen Kapitalismus. Auch die Bewegungsmuster ähneln sich: zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück, könnte man sagen. Oder: „einige entwickeln sich zuerst“, werden wieder zurückgepfiffen, aber das alte System kann sie nur schlucken, indem es sich selbst progressiv verändert und, nunmehr auf breiterer Basis, zur historischen Voraussetzung des neuen wird oder zumindest werden kann. Sozialstaatliche Demokratie, das enthält selbst ein zentrales Element des Sozialismus, natürlich in einer dem kapitalistischen System zuträglichen Form und Dosierung, gleichzeitig bleibt ihr über es hinaustreibendes Potential virulent.
Daß die kapitalistische Produktionsweise ihr Potential auch nur annähernd erschöpft habe, wird man heute jedenfalls nicht behaupten können. Wenn es also richtig ist, daß Marx zufolge „eine Gesellschaftsformation nie untergeht, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist“ (MEW 13, 9), dann gibt es gute Gründe, die Position der KP-Führung ernst zu nehmen[3]: daß der Sozialismus ihr Ziel bleibt, daß seine Zeit kommt, aber noch lange nicht gekommen ist; und sie nicht abzutun als bloße Schutzbehauptung einer korrupten und/oder debilen Führung, die einfach nur den bequemsten Weg, den der Unterwerfung unter das neoliberale Diktat, gegangen ist.
[1] Zu Hyekyung Cho, Chinas Weg zum Staatskapitalismus, in: Z 67 (September 2006), S. 76-88.
[2] Zum Vergleich empfehle ich Zhang Guangming: Chinesischer Sozialismus im Wandel, vor allem auch Helmut Peters‘ Anmerkungen dazu (in Z 65, März 2006)
[3] Im Gegensatz dazu Chos Bemerkungen vor allem auf S. 82f.