I. Linke Legenden?
Der Veröffentlichung des Buches „Eine kurze Geschichte der Demokratie“[1] von Luciano Canfora ging im November 2005 ein kurzer, aber heftiger Literaturskandal voraus. Der Altphilologe Luciano Canfora, Professor für lateinische und griechische Sprache und Literatur in Bari, Jahrgang 1942, war aufgefordert worden, einen Beitrag für die Reihe „Europa bauen“ zu leisten. Das Buch wurde bis Mai 2006 in Italien, Spanien und Frankreich und später in England veröffentlicht. Der Beck-Verlag hatte sich die deutschen Rechte gesichert. Auf der Grundlage „mehrerer Gutachten“ entschied aber der Cheflektor des Verlages, Detlef Felken, das Buch nicht zu bringen.
Sein Kronzeuge war Hans-Ulrich Wehler, Historiker, lange Zeit mächtiger Großwissenschaftler in Bielefeld. Eine ganze Reihe von Kritiken ergab sich aus Fehlern der deutschen Übersetzung des Verlages. Anderes resultierte aus dem heutigen Konsens, wie er etwa in einer Resolution des Europarates über die „Notwendigkeit einer Verurteilung der Verbrechen kommunistischer totalitärer Regime“ von Januar 2006 zum Ausdruck kam und wie er soeben zum Verbot der Jugendorganisation der KP Böhmens und Mährens führte wegen ihres Programmpunktes, „Privateigentum an Produktionsmitteln in einem anzustrebenden Sozialismusmodell“ solle „durch öffentliches Eigentum ersetzt werden“. Besonders die Delegierten aus Osteuropa wollten sich mit dieser Resolution von der Vergangenheit ihrer Länder trennen, so Georg Fülberth weiter in seinem Vorwort zur Antwort Canforas an seine Kritiker. Dieses liberale Anliegen sei „zugleich westliches Erbe. Dort kämpft man immer aufs Neue gegen 1789 – unter Berufung auf die englische Revolution von 1688 und die nordamerikanische von 1776 ff.“ [2]
Nach der Süddeutschen Zeitung handelte es sich für Wehler „nicht nur um eine extrem dogmatische Darstellung, sondern um eine so dumme, dass sie an keiner Stelle den Ansprüchen der westlichen Geschichtswissenschaft genügen kann“.[3] Felken hätte sich an der Darstellung der BRD unter Adenauer gestoßen. (Canfora, 129-131) Aus einem von der jungen Welt im Rahmen eines Artikels von Otto Köhler abgedruckten Ausriss des Wehlerschen Gutachtens vom 6.10.2005 wird seine grundsätzliche Position sehr deutlich: „Tatsächlich wiederholt der Verfasser nur die linke Legende über die Unterdrückung der Kommune. Es gibt zahlreiche genozidähnliche Massenmorde, die weit über 1871 hinausreichen. Zu den Legenden gehört auch die Identifizierung der Kommune mit Demokratie. ... Geradezu empörend finde ich die Behandlung des Hitler-Stalin-Paktes. ... Dass die liberalen Demokratien den Faschismus hervorgebracht hätten, führt an der Ursachenanalyse so gut wie vollständig vorbei.“[4]
Köhler zitiert hier auch Volker Ulrich aus der ZEIT, der unter anderem rügt, dass hier wieder die „Legende von der maßgeblichen Unterstützung Hitlers durch die Großindustrie“ wiederholt werde, ebenso wie diejenige „von der Inszenierung des Reichstagsbrands durch die Nationalsozialisten“. Deshalb sei dem „renommierten“ Beck-Verlag „dieses Pamphlet im Gewand seriöser Wissenschaft“ nicht zuzumuten.
Sieht man von den monierten Tatsachenfeststellungen ab, die sich fast gänzlich aus Übersetzungsfehlern des Verlages herleiten und die jedenfalls durch ein einfaches Gespräch von Verlag und Autor hätten geklärt werden können, so bleibt die tiefgreifende Abneigung „gegen die ganze Richtung des Buches“. Es geht um die Bewertung der Zeit seit 1789, darunter der gegensätzlichen europäischen Entwicklung im 20. Jahrhundert; und dabei vor allem um den Demokratiebegriff und den Zusammenhang von Demokratie und Revolution. Diese Fragen stehen für den Autor im Mittelpunkt, hier ist er tatsächlich weit vom mainstream entfernt und gerade daraus ergibt sich auch der Wert des Buches für jeden, der sich über eine deutschzentrierte Sicht hinaus mit dem Blick auf 2400 Jahre Geschichte in Europa und Nordamerika fundiert mit dem heute herrschenden Geschichts- und Demokratiebild auseinandersetzen möchte. Dass ihm dabei ein Altphilologe behilflich sein kann, ist eine zusätzliche Pointe.
II. Maßstäbe der Demokratie
Schon in seiner Einleitung postuliert Canfora am Beispiel des Cäsarismus/Bonapartismus/Faschismus, dass der Begriffsverwirrung nicht beizukommen sei, „wenn man die klassenspezifischen Inhalte im Dunkeln lässt, die unter der Oberfläche der ‚politischen Systeme’ verborgen liegen“ (14). Deshalb kritisiert er auch den Bezug eines früheren Entwurfs der EU-Verfassung auf ein Perikles-Zitat bei Thukydides, in dem in Wahrheit Demokratie der Freiheit entgegen gestellt wurde (16). Zudem habe ja Perikles als Prinzeps regiert. Sein „Streifzug durch die Werke der alten Griechen“ ermöglicht Canfora dann die Schlussfolgerung: „Es existieren keine Texte athenischer Autoren, die die Demokratie hochleben lassen“ (20).
Bürger waren nur die wehrfähigen Männer, die sich selbst ausrüsten konnten (das Verhältnis von Freien und Sklaven lag bei 1:4). Mit dem Ausbau der mächtigen Flotte Athens mussten auch die besitzlosen Seeleute den Bürgerrang erhalten (36f.). Die Führungsrolle innerhalb der „Volksherrschaft“ wurde von dem Teil der Reichen und Herren übernommen, der dieses System akzeptierte (44). Dabei unterstützten die „bestimmenden“ Besitzlosen rückhaltlos die Eroberungspolitik (49). Die Begrenztheit dieser „Demokratie“ wurde ganz offensichtlich, als der womöglich lebensrettende Vorschlag, gegen den Sieger Mazedonien die Sklaven freizulassen und zu bewaffnen, als undemokratisch zurückgewiesen wurde (52).
Für Canfora schloss also das Bestehen von Sklaverei Demokratie aus. Er bricht damit mit einer langdauernden Tradition, die Demokratie mit einer Mehrheitsherrschaft (und sei es innerhalb der Ausbeuter) gleichsetzt und die demokratischen Vorbilder im Altertum sucht. Für Canfora setzte die Demokratiepraxis erst seit dem 18. Jahrhundert ein, vornehmlich in den beiden großen Revolutionen, der französischen und der russischen. Als Maßstab im Vergleich der englischen, der US-amerikanischen und der französischen Revolution wählt er ihr Verhältnis zur Sklaverei.
Einen anderen Maßstab hatte Hannah Arendt angelegt, aber mit genau der entgegengesetzten Wertung. Für sie war es der eigentliche Vorzug der US-amerikanischen Revolution, daß hier der „Mensch Herr seiner Geschicke zum mindesten im politischen Bereich ist“[5], sie nicht gesellschaftliche Notwendigkeiten vollstreckte (Arendt, 64), was seit der Oktoberrevolution zur wahren Besessenheit wurde, und die gerade deshalb nicht wie die französische Revolution in einer Katastrophe endete (ebd., 69f.).
Die von ihr abgelehnte Notwendigkeit sei nicht historisch-politischer, sondern biologischer Natur, sei die soziale Frage, oder treffender, die Tatsache der Armut (ebd., 73f.). In den USA konnte die „Gründung der Freiheit ... nur gelingen, weil den ‚gründenden Vätern’ die politisch unlösbare soziale Frage nicht im Wege stand“ (ebd., 85). Keine Revolution habe „je die ‚soziale Frage’ gelöst“, ja mehr noch, „jeder Versuch, die soziale Frage mit politischen Mitteln zu lösen“, ende im Terror (ebd., 142f.). Niemandem fiel es damals ein, „den Blick auf das furchtbare und furchtbar erniedrigende Elend der schwarzen Sklaven zu werfen“ (ebd., 89). Unbeachtet bleiben (auch für Arendt) die weiteren „Verbrechen und die Unmenschlichkeiten, die aus der Geschichte der amerikanischen Kolonisation zu berichten sind“, da sie „doch immer die Taten von Einzelnen bleiben“, nicht im Namen historischer Notwendigkeiten erfolgen (ebd., 118). Die Indianer werden mit keinem Wort erwähnt. So konnte denn auch die US-amerikanische Revolution die einzige bleiben, „in der gerade das Mitleid keinerlei Rolle spielte“ (ebd., 89), was Arendt durchaus positiv bewertet, sei doch die Leidenschaft des Mitleides „die stärkste und vielleicht gefährlichste aller revolutionären Leidenschaften“ (ebd., 91f.).
Dieselbe unhistorische Sicht bestimmt die Darstellung des Weges von der harmonischen Bundesfeier am Jahrestag des Sturms auf die Bastille am 14.7.1790 bis zur Erstürmung des Tuilerienschlosses durch die „Straße“ am 10.8.1792 durch Francois Furet und Denis Richet unter der Überschrift „Die Revolution kommt vom Wege ab“.[6] „Weil die liberalen Bürger es 1789 nicht wie die Engländer im Jahre 1688 gewagt haben, die Dynastie zu wechseln, haben sie sich selbst zum Untergang verurteilt.“ (Furet/Richet, ebd., 176) In Frankreich waren grundlegende ökonomische Veränderungen unabdingbar, der englische Weg war nicht wiederholbar. Canfora distanziert sich deshalb nachdrücklich vom Begriff der einheitlichen atlantischen Revolution. „Die allzu abgehobene Sicht eines beide Seiten des Atlantiks überspannenden ‚Weltgeists’ birgt jedenfalls die Gefahr, sich im Allgemeinen zu verlieren. Zwischen beiden Ereignissen klafft ein Abgrund.“ (33)
Ihn belegte Canfora bereits im ersten Kapitel mit einem Zitat von Tocqueville. Der hatte nach einem Besuch der USA 1831/32 selbst für den Norden der Union die Diskriminierung der Schwarzen für normal erklärt: „So wurde Freiheit und politische Gleichberechtigung ganz plötzlich Leuten zuteil, von denen unter Hundertausenden kaum Einer die sittliche Kraft hatte, auf eigenen Beinen zu stehen. ... Das ist ein Zustand, der an sich und vor allem in einem, wenigstens der Form nach, freien und demokratisch regierten Lande ganz unhaltbar erscheint.“ (Tocqueville) Nur, fährt Canfora fort, „die Französische Revolution, die seit nunmehr zweihundert Jahren nicht nur aus der Geschichte Europas nicht mehr wegzudenken ist, sprengte auf ihrem Höhepunkt den Teufelskreis des rassistischen Vorurteils. Und es ist eben diese Radikalität (die Kehrseite der ‚Härte’ dieser Revolution), die bis heute zugleich Skandalon und Prüfstein der europäischen Geschichte ist. ... Im liberalen England des 19. Jahrhunderts wurde die Französische Revolution durch Burkes Reflections on the Revolution in France (1790) wie von einem Peitschenhieb getroffen. ... Doch jenseits des vordergründigen Schauderns vor der ‚Schreckensherrschaft’ ist das eigentliche Skandalon des Jahres 1793 die Forderung nach Gleichheit aller Menschen über die Grenzen Europas hinaus.“ (29f.)
Wenig später schildert Canfora sehr eindrucksvoll den Beschluss des Nationalkonvents vom 4.2.1794 zur Abschaffung der Sklaverei auf dem gesamten Territorium der Republik, der auf Initiative eines der drei in Santo Domingo gewählten Deputierten getroffen wurde (58-60). Die liberalen Engländer führten mit gleicher Energie die Sklaverei auf den Antillen nach ihrer Eroberung wieder ein. Triebkraft bei den Engländern und ebenso bei den US-Amerikanern waren für Canfora ökonomische Interessen, aber auch das Neue Testament mit seinem Brief des Paulus an die Epheser (Kap. 6, Vers 5) zum Umgang mit den Sklaven: „Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern und aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus.“ (63) Ungeachtet der Formulierung in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, dass „alle Menschen gleich erschaffen worden“ seien, wurde die Sklaverei keineswegs in Frage gestellt. „Mochte Jefferson in Paris auch seinen Sympathien für die Enzyklopädisten huldigen, er entging nicht der Peinlichkeit, von seinen französischen Freunden und Gesprächspartnern ... auf die Fortdauer der Sklaverei in einem freien und republikanischen System hingewiesen zu werden.“ Auch Jefferson selbst hielt Sklaven (57f.).
Es geht Canfora also um die Größenordnung der Umwälzung, die in die ökonomischen Verhältnisse eingreift und dafür der Mitwirkung der Volksmassen bedarf. Höhepunkte der Demokratie sind damit die Revolutionen und hier wieder diejenigen, die über den Bereich der Politik hinaus die bestehenden ökonomischen Strukturen verändern. Für England benennt Canfora die Erklärung des Rumpfparlaments (nach der Verhaftung der neunzig presbyterianischen Abgeordneten) vom 4.1.1649. In der Debatte berief man sich einzig auf die Bibel und das Christentum (55f.).
III. Absterben oder Fortexistenz des Staates?
Canfora kennt damit nicht die gegenwärtig in Politikwissenschaft wie in politischer Publizistik absolut vorherrschende antagonistische Gegenüberstellung von Demokratie und Diktatur. Marx und Engels wollten diesen Widerspruch durch einen Staat nach dem Vorbild der Pariser Kommune aufheben. Nach dem ruhmlosen Zusammenbruch des Kaiserreichs Napoleons III. hatte ein Pariser Aufstand zur Flucht des Staatschefs und der Regierung nach Versailles geführt, gefolgt von den Beamten. Die bürokratisch-militärische Staatsmaschine hatte ihre Tätigkeit eingestellt.
Die 85 Mitglieder – darunter 25 Arbeiter – der am 26. März 1871 gewählten Pariser Volksvertretung, der Kommune, mussten eine neue Macht organisieren. Ihr waren bis zu ihrer blutigen Niederschlagung nur 72 Tage gegeben. Marx sah in seiner Schrift über den „Bürgerkrieg in Frankreich“ in der Kommune ungeachtet aller Fehler und Versäumnisse vornehmlich eine Bestätigung seiner theoretischen Konzeption. Sie war für ihn das welthistorische Experiment, durch das die Richtigkeit seiner Theorie bestätigt wurde. Es war möglich, wenn auch nur für 72 Tage, eine Ordnung ohne die alte bürokratisch-militärische Maschinerie zu gestalten.
Entscheidende Bestandteile der neuen Ordnung ohne Staatsmaschine waren die Ersetzung des stehenden Heeres durch das bewaffnete Volk, die Kommune als nicht parlamentarische, sondern arbeitende Körperschaft, ihre Mitglieder verantwortlich und jederzeit absetzbar, die Besorgung des öffentlichen Dienstes für Arbeiterlohn und die lokale Selbstregierung „nun nicht mehr als Gegengewicht gegen die, jetzt überflüssig gemachte, Staatsmacht.“[7]
Marx hat das Gesamtgebäude dieses Entwurfs der neuen politische Ordnung ohne Staat auf einem unsicheren Grund errichtet. Das betraf nicht nur die einmalig günstigen Umstände, sondern vor allem die zu bewältigenden politischen und ökonomischen Widersprüche. Er hatte Gewaltanwendung gegen die Feinde der Kommune gefordert, aber war sie mit der konsequenten unmittelbaren Demokratie zu vereinbaren? Wie verhielt sich das Modell der Pariser Kommune zur vom Proletariat auszuübenden Diktatur und wie zur Aufgabe, das „ ... ‚spontane Wirken der Naturgesetze des Kapitals und des Grundeigentums’ ... durch ‚das spontane Wirken der Gesetze der gesellschaftlichen Ökonomie der freien und assoziierten Arbeit’...“ zu ersetzen?[8] Marx hatte seinen Gegenentwurf zur bürgerlichen Staatlichkeit entwickelt, als Möglichkeit. Die Probe auf die Realisierbarkeit war noch abzulegen.
Canfora sieht im Anschluss an Arthur Rosenberg hier das Bestreben von Marx, seiner Lehre eine wirklich revolutionäre Tradition zu sichern. Die neue Ära sei aber in Wahrheit durch den „langen Marsch des deutschen Sozialismus auf dem Wege der Wahlen“, durch parlamentarische Systeme bestimmt worden (152). Die Vorstellung, dass nur noch die „Person des isolierten ‚Cäsar’“ niedergerungen werden müsse, erwies sich als irrig (150). Der alte Engels sah für die nahe Zukunft die Armee als sozialistisch an, ein übermäßiger Optimismus, dem Liebknecht in Kenntnis der Militärkaste entgegentrat (161f.).
1917 nahm Lenin in seinen Aprilthesen, die er unmittelbar nach seiner Ankunft in Russland verkündete, das Projekt der Kommune voll auf. Er forderte statt der parlamentarischen Republik „Abschaffung der Polizei, der Armee, der Beamtenschaft. Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn eines guten Arbeiters hinaus“ und die Nationalisierung des gesamten Bodens, die Verschmelzung aller Banken zu einer Nationalbank, die Kontrolle der gesamten Produktion.[9] Lenin zitierte wenig später die Formulierung von Engels, dass die neue Macht „schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr“ sein werde (Lenin, ebd., 52f.). Während eine Reihe der führenden Bolschewiki die Wendung Lenins mit Zurückhaltung betrachteten, trat Trotzki sofort an die Seite Lenins und gab seine bisherige Sonderposition auf.[10]
Im August 1917 hat Lenin sich dann mit dem Werk „Staat und Revolution“ das Ziel gestellt, mittels „der Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat“ die theoretische Grundlage der unmittelbar bevorstehenden Revolution verbunden mit einer Abrechnung mit dem Kautskyanertum zu geben.[11] Dabei steht erneut das Projekt der Kommune im Mittelpunkt.
Diese Arbeiten Lenins sind von innerer Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Auf der einen Seite soll ein „Kommunestaat“, ein Staat, der schon eigentlich kein Staat mehr ist, geschaffen werden, auf der anderen Seite soll bürgerliches Recht bestehen bleiben, ist vom staatskapitalistischen Monopol, ist von einem Büro und einer Fabrik die Rede. Lenin wollte einerseits den tiefsten Sehnsüchten der unter dem Krieg, dem reaktionären Beamtentum, der Herrschaft der Gutsbesitzer leidenden Menschen entsprechend den „Schmarotzer Staat“ verabschieden und damit die Massen zur Revolution aufrufen. Auf der anderen Seite wollte er in der internationalen Diskussion der Marxisten „seine“ Revolution legitimieren. Und schließlich wußte er, daß es ohne Diktatur, ohne staatliches Eigentum nicht abgehen würde, was notwendig der Selbstregierung widersprach.
Nach dem Sturz der provisorischen Regierung am 7. November 1917 schien mit den Sowjets der Kommunestaat Wirklichkeit geworden zu sein. Sehr schnell aber entwickelte sich die Notwendigkeit der Schaffung eines eigenen Apparates der neuen Macht. Den Anfang machte die neugebildete Rote Armee. Dann stellte Lenin mit äußerster Entschiedenheit in der Schrift „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ im April 1918, nicht einmal ein halbes Jahr nach dem Beginn der Revolution, die Frage der Disziplin für die gesamte Verwaltung, für die Volkswirtschaft. Gleichzeitig forderte er die Gewinnung bürgerlicher Spezialisten „durch außerordentlich hohe Gehälter“ unter „Abweichung von den Prinzipien der Kommune“[12]. Aus der maschinellen Großindustrie ergäbe sich notwendig die „unbedingte und strengste Einheit des Willens, der die gemeinsame Arbeit von Hunderten, Tausenden und Zehntausenden Menschen leitet“ (Lenin, ebd., 259). Lenin wollte diese diktatorische Leitung mit der Kontrolle von unten verbinden, sah darin eine Verwirklichung des Prinzips des demokratischen Zentralismus. Tatsächlich hatte sich ein grundlegender Kurswechsel vollzogen, von Lenin sicherlich vorbedacht. Ohne eine solche Radikalität der Fragestellung würde die Revolution im Jahre 1793 stehen bleiben (ebd.).
Das Scheitern des Projekts eines Kommunestaates hat die Konsequenz einer Absage an die Vorstellung vom Absterben des Staates. Canfora ist diese Vorstellung so fremd, dass er sie nicht einmal erwähnt. Die Entwicklung im „Realsozialismus“ gab keinerlei Anhaltspunkt für die Herausbildung eines Staates „im nicht eigentlichen Sinne“. Das betrifft nicht nur die Entwicklung in der Sowjetunion, wo der Staat immer mehr zur zentralen Antriebskraft wurde, die Zentralisierung der Macht einen welthistorischen Höhepunkt erreichte und das politische System viele über die Erfordernisse einer Erziehungsdiktatur hinausgehende exzessiv diktatorische, ja barbarische Züge trug. Canfora kommt in seiner Abschlussanalyse zu dem Ergebnis, „daß es der ‚sozialistischen’ Alternative trotz ihrer Prämissen und Ambitionen nicht gelungen ist, ‚eine neue Epoche’... zu eröffnen, daß vielmehr gerade beim dauerhaftesten und am tiefsten verwurzelten Versuch (in der UdSSR) das Element der geschichtlichen Kontinuität in Verbindung mit dem nicht zu übergehenden Staatsinteresse und der Herausbildung neuer Eliten schließlich überwog und das System in die Krise führte“ (Canfora, Das Auge des Zeus, 25f.).
Aber auch in den Ländern, die in Europa nach 1945 den Weg der Volksdemokratie gegangen sind, war vom Absterben des Staates nicht die Rede, auch wenn öfter die Verwirklichung der Prinzipien der Pariser Kommune beschworen, die DDR als „Staat im nicht eigentlichen Sinne“ charakterisiert wurde.[13] Es erwies sich, dass das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln eine staatliche Wirtschaftsplanung in mehr oder weniger dirigistischer Form erforderte, dass die Verteilung nach der Leistung der staatlich sanktionierten rechtlichen Regelung bedurfte, dass bei fortbestehenden Ausbeuterklassen Repression notwendig blieb, aber auch nach deren Enteignung fortbestand, dass vornehmlich die äußere Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Nachbarn ohne Staat nicht auskam bis hin zum Extrem der Errichtung der Mauer an der Westgrenze der DDR. Diese Repression nahm sicherlich im Laufe der Jahre ab, blieb aber bestehen. Der Staat fiel keineswegs von selbst. Er ist nicht minder zählebig als die Gesetze des Marktes.[14] Solange der Staat aber besteht, ist von vollständiger Demokratie, von wirklicher Volksherrschaft nicht zu sprechen, kann es nur um Demokratisierung im Sinne einer Erhöhung des Einflusses des Volkes auf den Staat gehen, ein Prozess, der zugleich stets von Rückschlägen bedroht ist.
Im bürgerlichen Staat hatte die von Bernstein wie von Kautsky vorausgesagte ständige Entwicklung der Demokratie nicht stattgefunden. Erst nach 1945 entwickelte sich erstmals für eine längere Periode eine in bestimmten Umfang auf Integration zielende Staatsmacht in Gestalt der bürgerlichen repräsentativen Demokratie. Das war dem Scheitern des Faschismus, den Kämpfen der linken Bewegung, der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, aber auch der Systemkonkurrenz geschuldet. Auch hier ist es auf Grund einer Reihe wesentlicher formeller und informeller Einschränkungen, insbesondere durch den Fortbestand der Herrschaft des kapitalistischen Eigentums letztlich ausgeschlossen, von Herrschaft, von Macht des Volkes zu sprechen.
IV. Demokratie und Diktatur als Alternativen?
Noch ein weiterer Gesichtspunkt ist von großer Bedeutung. Die Entwicklung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie und ihrer Freiheitsrechte im Innern ist eng verknüpft mit kolonialer Unterdrückung nach außen. In diesem Zusammenhang konstatiert Canfora einen grundlegenden Strukturwandel – das Entstehen chauvinistischer Massenorganisationen als Element der „Demokratie“: „Die Politik hatte die Massen durch politische Parteien an den Entscheidungsprozessen beteiligt, um sie dem Einfluss des Sozialismus zu entziehen. Das war eines der wesentlichen und gefährlichsten Merkmale des neuen Imperialismus.“ (164)
Der Zynismus der Bourgeoisie kommt gerade darin zum Ausdruck, dass sie aus den zu Hause bestehenden „demokratischen“ Verhältnissen das Recht ableitet, andere Völker auszubeuten und zu unterdrücken, wobei dies eben im Namen der Demokratie geschieht. Eine Nation kann aber nicht frei werden, „und zugleich fortfahren, andre Nationen zu unterdrücken“ erklärte Engels 1847.[15] Die Zustimmung des eigenen Volkes, das ja auch bestimmte Früchte genießt, kann die Unterdrückung anderer Völker nicht rechtfertigen.
Die dem gerade entgegenstehende Gegenüberstellung von guten Demokratien und bösen Diktaturen und die damit verbundene Aufhebung der formellen Gleichheit der Staaten ist das ideologische Zentrum der bürgerlichen Ideologie seit 1917. Bestimmte Regime der guten Art dürfen Regime der schlechten Art angreifen. Für diesen Konflikt gilt demnach auch nicht das Völkerrecht, wie im Zusammenhang mit dem Irakkrieg wieder ganz unverhohlen erklärt wurde. Hat man dann den Krieg gewonnen, ist der Ruf nach freien Wahlen erst einmal erledigt, weil man eine antiimperialistische Mehrheit der „Befreiten“ fürchtet. Jede Opposition gegen den global aktiven Imperialismus, wenn sie ein ganzes Land erfasst, muss sich, wenn sie dauerhaft bleiben soll, auf die Staatsmacht stützen. Gerade deshalb ist der Kampf gegen die „Schurkenstaaten“ ein zentraler Bestandteil der imperialistischen Strategie. Das allgemeine Wahlrecht dient dabei der eigenen Legitimation, sein Fehlen der Delegitimation des Opfers. Die ungeheure ökonomische und ideologische Dominanz des Imperialismus kann tatsächlich bedeuten, dass der „Schurkenstaat“ eine solche Selbstlegitimation scheuen muss. Das ist unzweifelhaft ein wesentliches demokratisches Manko. Domenico Losurdo stellt aber mit Recht die Frage: „Wie sollte das nikaraguanische Volk (1990, U.-J. Heuer) frei wählen können mit dem Messer des Embargos an der Gurgel und angesichts der Drohung, die Aggression in großem Maßstab wiederaufzunehmen?“ Und zu Kuba schreibt er: „Ein Sieg des Parteienpluralismus etwa in Kuba nach Jahrzehnten eines erbarmungslosen Embargos und des Drucks eines monströsen Militär- und Medienapparats würde zwar die Lage von wenigen ‚Dissidenten’ verbessern und wahrscheinlich Fortschritte in Sachen Meinungs- und Versammlungsfreiheit mit sich bringen. Doch zugleich würden die ökonomischen und sozialen Rechte und die nationalen Rechte des kubanischen Volkes liquidiert, und auf internationaler Ebene würde das Recht des Stärkeren bestätigt. Insgesamt wäre das ein verheerendes Debakel für die Sache der Demokratie.“[16] Im Falle der Hamas-Regierung nützen ihr dann aber selbst die „freien Wahlen“ nichts.
Die Ablehnung einer Alternative ‚Demokratie oder Diktatur’ kennzeichnet auch das Herangehen von Georg Lukács in seiner nachgelassenen Schrift „Sozialismus und Demokratisierung“, in deutscher Sprache zwischen März und November 1968 verfasst. Lukács wandte sich gleich eingangs gegen jegliche Enthistorisierung. „Man spricht z.B. oft von Demokratie als Zustand und vergißt dabei, die wirklichen Entwicklungsrichtungen in der Charakteristik dieses jeweiligen ‚Zustands’ zur berücksichtigen, obwohl nur so sein angemessenes Bild entstehen kann. Um dies deutlich hervorzuheben, ziehen wir den Ausdruck ‚Demokratisierung’ dem der ‚Demokratie’ vor.“[17] Sein erstes Anliegen ist es, entsprechend der Überschrift des I. Teils seiner Schrift, „die bürgerliche Demokratie als falsche Alternative für eine Reform im Sozialismus“ zu charakterisieren (Lukács, ebd., 11): Ein solcher Ansatz liefe darauf hinaus, „den objektiv sozialistischen Charakter des bestehenden Sozialismus“ (ebd., 108) in Frage zu stellen. Jeder Verwirklichungsversuch einer solchen Alternative würde „unweigerlich zur Liquidation des Sozialismus und auch der Demokratie selbst führen“ (ebd., 37). Die heutige Demokratie sei „aktuelle Aufgipfelung einer jahrhunderte langen Entwicklung, die eines manipulierten, mit Hilfe von Manipulationen herrschenden Imperialismus.“ Und er fügt hinzu: „Ich weiß, daß ich gegen jede Etikette der heute als respektabel betrachteten Wissenschaftlichkeit verstoße, wenn ich Wörter wie Imperialismus oder Kolonialismus ohne Anführungszeichen niederschreibe.“ (ebd., 24) Der entscheidende Gegensatz ist für Lukács der zwischen dem „im Volk fundierten Demokratismus“ und dem „parlamentarischen Liberalismus“, der jetzt siegt (ebd., 22).
Ein Vortrag, den Jörg Roesler in der Leibniz-Sozietät am 19. April 2006 hielt, trug den Titel „Vom Dialog zum Monolog“ und bezog sich auf die beiden deutschen Staaten. Nach seiner Auffassung wäre ein wirklicher Vergleich auch auf diesem Gebiet der Politik nur möglich, wenn es einheitliche Begriffe gäbe, an denen beide Staaten gemessen werden könnten. Bei einer Gegenüberstellung ‚Diktatur einerseits und Demokratie andererseits’ sei ein solcher Maßstab von vornherein ausgeschlossen (bei Demokratisierung ist das natürlich anders). Roesler sieht dann diesen Maßstab in der innergesellschaftlichen Rolle des Dialogs. Der Monolog vollziehe sich nur innerhalb der administrativen Elite, der Dialog würde mit Kräften außerhalb geführt, ob institutionalisiert oder nicht, ob aus tieferer Einsicht oder aufgezwungen.
Roesler machte das zuerst deutlich an der Entwicklung in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg. In der Bundesrepublik gab es mit der „Währungsreform“ 1948 einen durch die Aufhebung des Preisstopps unter Beibehaltung des Lohnstopps einseitig auf Wirtschaftswachstum orientierten Kurs, der erhebliche soziale Einschnitte für große Teile der Bevölkerung in Kauf nahm. Es brachen offene Gegenbewegungen aus. Sie gipfelten im Oktober 1948 in Massendemonstrationen in Stuttgart, die durch Einsatz von Militär niedergeworfen wurden. Dazu sei allerdings heute keinerlei archivalisches Material mehr aufzutreiben. Die Reaktion war dann die teilweise Wiedereinführung gebundener Preise.
In der DDR vollzog sich ein paralleler Prozess mit dem 17. Juni.[18] Derartige Dialoge gab es mehrfach, abschließend in der DDR nur noch den Monolog der Elite. Bei Kohl vollzog sich 1990 ähnliches in Ostdeutschland. Heute drücke sich ähnliches in der These aus, dass es keine Alternative zur Globalisierung gäbe. Meist, so Roesler, seien die Vorhaben der Oberen nicht lupenrein verwirklicht worden (im Sinne der ordnungspolitischen Zielsetzung) wegen Widerstandes im Volk, dadurch aber sei im Ergebnis ein tragfähiger Kompromiss erreicht worden. Der Beitrag der Volksmassen sei so größer als gemeinhin angenommen werde.[19]
V. Rückzug und Zukunft der Demokratie
Die letzten drei Kapitel des Buches von Canfora tragen die Überschriften „Der kalte Krieg: Die Demokratie auf dem Rückzug“, „Auf dem Weg zu einem ‚gemischten System’“ und „Eine ‚neue Geschichte’?“.
Der Rückzug der Demokratie wurde für Canfora durch den McCarthyismus eingeleitet, dem das Ziel eines Roll back in Bezug auf die Sowjetunion entsprach (283ff). Dazu gehörten in der Bundesrepublik Globke und das KPD-Verbot als Wiederholung dessen, „was Hitler mit Hilfe des Reichstagsbrandes bewerkstelligt hatte“ (298), und die dann beschlossene Sperrklausel von 5 Prozent als erstem Eingriff in das Verhältniswahlrecht in Westeuropa nach dem Ende der faschistischen Regime.
In Frankreich vergifteten „die praktisch ohne Unterbrechung geführten Kolonialkriege“ die politische Atmosphäre (291). De Gaulle schaffte 1958 das Verhältniswahlrecht ab und führte ein gemischtes Wahlsystem mit einem Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen zur Vernichtung der KP ein. Die Kommunisten erlangten im gleichen Jahr 20,1 Prozent der Stimmen, aber nur 10 von 369 Mandaten. Damit wurde die Vorherrschaft des gemischten Systems eingeleitet. Das neue Wahlgesetz „veränderte ... das politische Leben des Landes von Grund auf.“ (303f.). Notwendig drängten sich den Wählern der KP „zwei vorteilhaftere Optionen auf: entweder gleich die Partei zu wählen, die (im zweiten Wahlgang, U.J. Heuer) von ihrer Stimme profitiert, oder erst gar nicht zur Wahl zu gehen“ (307).
Durch die (auch außerhalb Frankreichs) „immer raffiniertere Suche nach Wahlgesetzen auf der Basis des Mehrheitswahlrechts“ mit dem Ziel, „den immer noch unerwünschten Auswirkungen des allgemeinen Wahlrechts entgegenzuwirken“, kommt es „auf einem anderen Weg erneut zu dem Phänomen, das typisch war für die Epochen des beschränkten Wahlrechts: zu einer drastisch reduzierten Vertretung der weniger ‚wettbewerbsfähigen’ Klassen“, „zur Umsetzung des ‚gemischten Systems’“, also „ein bißchen Demokratie und viel Oligarchie“. (308).[20] Gleichzeitig sinkt die Effizienz der Parlamente und das Ansehen der Parlamentarier. „Die ‚weiche’ Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts wird durch das freundliche Zugeständnis kompensiert, sich in regelmäßigen Abständen durch Wahlen zu legitimieren.“ (312) Das Problem besteht darin, „die radikalen Minderheiten in den ‚Überflußgesellschaften’ daran zu hindern, in diesem System mitzureden und es zu stören“ (315). Hinzu kommen der Kult des Reichtums, insbesondere in der Werbung, sowie die Mythen des Sports (322f.). Günter Gaus schrieb am 23.8.2003 in der Süddeutschen Zeitung, dass er vor allem kein Demokrat mehr sei, „weil aus dem gesellschaftlichen Zusammenwirken von Wählern und Gewählten mehr und mehr eine Schauveranstaltung geworden ist. ... Unter Wahrung der demokratischen Formen ist der Inhalt dieses politischen Systems gegen wechselnde Events ausgetauscht worden“.[21] Zum Beweis der vom „wissenschaftlichen Sozialismus“ nicht vorausgesehenen Reaktionsfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft schon im ersten Weltkrieg hebt Canfora „die großen ‚präfaschistischen Massenformationen’„ hervor (200). Es siegt im europäisch-transatlantischen Raum eine gemischte Verfassung, in der im Zentrum nur die Reichen zählen. „Und der Rest des Planeten wird mit der Waffe in der Hand in Reih und Glied gebracht.“ (324)
Benedetto Croce war gegen Demokratie, weil sie, um mit Aristoteles zu sprechen, die Klassenbeziehungen „mit einem tendenziellen ‚Übergewicht des demos’ verband“. Tocqueville verfocht die Freiheit gegen die Demokratie (354 f.) die nichts anderes war als die „(zeitweilige) Vorherrschaft der besitzlosen Klassen in einem unablässigen Kampf um Gleichheit“ (325). Im zwanzigsten Jahrhundert wurde sie dann zum positiven Gegenpol des „Sozialismus“ oder „Kommunismus“. Arthur Rosenberg habe mit Recht darauf hingewiesen, „daß man ‚Demokratie’ nicht auf ein Synonym für ‚parlamentarisches System’ reduzieren kann und daß Rußland im Jahr eins der Revolution eine ‚Demokratie’, die zeitgenössische französische Dritte Republik aber eine ‚Oligarchie’“ war (355).
„Was am Ende – oder besser: beim gegenwärtigen Stand der Dinge – die Oberhand gewonnen hat, ist die ‚Freiheit’. Sie ist im Begriff, die Demokratie zu besiegen. Wohlgemerkt nicht die Freiheit aller, sondern die Freiheit derjenigen, die aus dem Konkurrenzkampf als die ‚Stärkeren’ hervorgehen (seien es Staaten, Regionen oder Individuen) ... .“ Die Freiheit aber herrsche entweder total oder gar nicht „und jede Begrenzung zugunsten der weniger ‚Starken’ wäre eine Einschränkung der Anderen“. Die Freiheit hat in den reichen Ländern gesiegt. „Die Demokratie ist auf andere Epochen verschoben und wird von anderen Menschen neu konzipiert werden. Vielleicht nicht mehr von Europäern.“ (356f.)
Mit diesem Schluss ist ein ganz anderes Gegensatzpaar entwickelt: oligarchischer Liberalismus (verbunden mit ‚Neo’kolonialismus) oder Demokratismus. Im Interesse der Demokratisierung, um bisherige Formulierungen aufzunehmen, kann es auch liegen, Gewalt anzuwenden, Freiheiten einzuschränken. Die Behauptung, daß jeder Schritt allseitig demokratisch sein muß, ist eben nichts anderes als eine Phrase. „Die Geschichte zeigt, wie ein Unternehmen zur Einführung der Demokratie durch (vorzeitige) Demokratie verunglückt. Die Erarbeitung einer Grundlage für Demokratie kann in den seltensten Fällen auf demokratische Weise erfolgen.“[22] Natürlich kann Gewalt auch diesen Prozeß behindern, stärkt der Dialog das System. Aber totale Freiheit aller auf jeder Entwicklungsstufe dürfte für absehbare Zeit unmöglich sein.
[1] Luciano Canfora, Kurze Geschichte der Demokratie: Von Athen bis zur Europäischen Union, Köln [PapyRossa] 2006. Seitenzahlen im Text ohne weitere Angabe beziehen sich auf dieses Buch.
[2] Luciano Canfora, Das Auge des Zeus. Deutsche Geschichtsschreibung zwischen Dummheit und Demagogie – Antwort an meine Kritiker. Mit einem Vorwort von G. Fülberth, Hamburg 2006, S. 17.
[3] Johan Schloemann, Verlag C.H.Beck lehnt Buch ab. in: Süddeutsche Zeitung vom 17.11.2005.
[4] Otto Köhler, Sabotage am Bau, in: junge Welt vom 23.5.2006.
[5] Hannah Arendt, Über die Revolution, [New York 1963], München 1963, S. 62.
[6] Francois Furet/Denis Richet, Die Französische Revolution, [Paris 1965, 1966], Frankfurt/Main 1968, S. 139.
[7] Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW 17, S. 338-341 (Zitat: S. 341).
[8] Karl Marx, [Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“], in: MEW 17, S. 546.
[9] W. I. Lenin, Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, in: LW 24, S. 5.
[10] Leo Trotzki, Mein Leben, Berlin 1990, S. 297f.
[11] W.I. Lenin, Staat und Revolution, in: LW 25, S. 397.
[12] W.I. Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: LW 27, S. 239.
[13] Vgl. dazu die bei Uwe-Jens Heuer, Marxismus und Demokratie, Berlin bzw. Baden-Baden 1989, auf den S. 363-367 angeführten Autoren.
[14] Domenico Losurdo, Der Marxismus Antonio Gramscis, Hamburg 2000, erklärte die Überlegungen von Marx zum Absterben des Staates für anfechtbar. Lenin hätte in „Staat und Revolution“ in der notwendigen Abrechnung mit dem Sozialchauvinismus den Marxismus auf den Anarchismus heruntergebracht (S. 95-97).
[15] Friedrich Engels, Rede über Polen, in: MEW 4, S. 417.
[16] Domenico Losurdo, Die Demokratie als universeller Wert, in: Marxistische Blätter, H. 1/2001, S. 23, 22.
[17] Georg Lukács, Sozialismus und Demokratisierung, Frankfurt/Main 1987 (Hrsg. F. Benseler), S. 9.
[18] Vgl. Bertolt Brecht, Arbeits-Journal, Berlin vom 20.8.1953: “Alles kam darauf an, diese erste Begegnung voll auszuwerten. Das war der Kontakt. Er kam nicht in der Form der Umarmung, sondern in der Form des Faustschlags, aber es war doch der Kontakt – Die Partei hatte zu erschrecken, aber sie braucht nicht zu verzweifeln.“ Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. XXVII, S. 346.
[19] Vgl. dazu das kürzlich erschienene Buch von J. Roesler, Momente deutsch-deutscher Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1945 bis 1990: eine Analyse auf gleicher Augenhöhe, Leipzig 2006.
[20] Ich selbst wurde übrigens bei einer gemeinsamen Tagung der Ausschüsse für Deutsche Einheit am 26. Juli 1990 genau mit dieser Frage konfrontiert, als es um die 5 Prozent-Klausel für das gesamte Wahlgebiet ging. Richard Schröder (SPD-Ost) erklärte, das Parlament sei „kein Repräsentantenhaus, das möglichst das politische Spektrum vollständig widerspiegeln soll. Das ist Aufgabe der Medien.“ Dem wurde von Hans-Jochen Vogel (SPD-West) mit den Worten sekundiert: „Die Parteienzersplitterung war mit eine der Ursachen und der Schwierigkeiten des Endes der Weimarer Republik.“
[21] Günter Gaus, Warum ich kein Demokrat mehr bin, in: Freitag vom 21.5.2004.
[22] Bertolt Brecht, Tui-Geschichten 1933, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. XVII, S. 105.