Demokratie – Herrschaft der Eliten?

Verfestigte Armut in der Demokratie

Zukunftsängste, politische Entfremdung, Notwendigkeit eines Politikwechsels

März 2007

Seit geraumer Zeit sind aus den Gewerkschaften Alarmrufe zu hören: „Deutschland entwickelt sich zu einer Ausgrenzungsgesellschaft, denn der wirtschaftlichen Ausgrenzung folgt oft die soziale. Besondere Risikogruppen sind Arbeitslose, Ausländer, Alleinerziehende und so genannte bildungsferne Schichten. Und wer einmal raus ist, findet nur schwer zurück.“ (Wetzel 2006: 23) Nach wie vor wächst das gesamtwirtschaftliche Produkt, aber – so die Kritik – die Lohnabhängigen werden von der Teilhabe an Arbeit, Einkommen und Bildung, von sozialen Mindeststandards und tariflichen Ansprüchen ausgegrenzt. „Immer weniger Menschen profitieren vom Wohlstand, immer mehr werden abgehängt.“ (ebd.)

Die Folgen dieser Entwicklung sind:

- Arbeitslosigkeit, Ausdehnung von prekären Beschäftigungsverhältnissen;

- beschleunigte Erosion der sozialen Sicherungssysteme;

- wachsende Probleme bei den öffentlichen Finanzen, verstärkt durch eine Steuersenkungspolitik für Unternehmen und Vermögende; Abbau öffentlicher Beschäftigung, geringere öffentliche Investitionen; Privatisierung von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen;

- wachsende Zukunftsängste, Vertrauensverlust in Politik und gesellschaftliche Institutionen; letztlich: Gefährdung des sozialen Friedens.

In einer demoskopischen Befragung wird Ende 2006 konstatiert – und zwar im Kontext einer beschleunigten Kapitalakkumulation und Wachstumsraten der Wirtschaft, wie sie in Deutschland zuletzt in der Boomphase des New-Economy-Zyklus auftraten: „Noch Ende der neunziger Jahre überwog die Einschätzung, dass die deutsche Wirtschaftsordnung Marktkräfte und soziale Belange erfolgreich miteinander verbindet. Heute bestreitet die überwältigende Mehrheit, dass Deutschland eine Soziale Marktwirtschaft hat; nur noch 24 Prozent sind davon überzeugt, während 62 Prozent den Eindruck haben, dass die soziale Ausrichtung aufgegeben wurde oder nie existierte. Gleichzeitig hat die Überzeugung abgenommen, dass wirtschaftlicher Erfolg auch dem Großteil der Leute zugute kommt.“ (Köcher 2006: 5) Und die Reaktion der Politik auf diesen Vertrauensverlust?

Politische Reaktionen auf die Vertiefung der sozialen Spaltung

Der Fraktionsvorsitzende der christdemokratischen Union Kauder und der Hamburger Regierungschef von Beust (CDU) proklamieren eine Strategie gegen die Ausgrenzungs- oder Abstiegsgesellschaft, womit sie freilich indirekt die Entwicklungstendenz bestätigen: „Zielperspektive christlich-demokratischer Politik muss eine Aufstiegsgesellschaft sein“ – und gegen über dem Misstrauen in die Parteipolitik betonen sie: „Die Aufstiegsgesellschaft muss kein leeres Versprechen bleiben.“ (von Beust/Kauder 2006: 24f.) Der Leitgedanke christlich-demokratischer Politik sei die Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, so dass auch jenen Menschen Chancen und Perspektiven eröffnet werden, die dem rasanten Veränderungsprozess in der Arbeitswelt unterliegen. Die Idee der Aufstiegsgesellschaft sei realisierbar. Die CDU-Politiker unterstreichen: „Es geht uns (…) nicht nur um einmaligen gesellschaftlichen Aufstieg, sondern um die Perspektive des jederzeitigen Wiederaufstiegs.“ Damit dieses Ziel erreicht wird, soll der Umverteilungsstaat rasch weiter entbürokratisiert werden. „Längst ging es nicht mehr um die notwendige Absicherung existentieller Lebensrisiken, sondern vor allem um die Absicherung von sozialem Status.“ Krasser kann die politische Hilflosigkeit allerdings kaum ausgedrückt werden. Würde die Umverteilung über den Sozialstaat noch weiter zurückgeführt, nähme die soziale Spaltung mit Sicherheit zu. Diese von keinerlei Sachkenntnis getrübte neoliberale Politik würde für Deutschland laut einer europäischen Armutsstudie bedeuten: „Ohne soziale Transferleistungen wäre ein Viertel (24 Prozent) der Bevölkerung armutsgefährdet.“ (Statistisches Bundesamt 2006: 5) Der Effekt wäre also etwa eine Verdoppelung der aktuellen Armutsquote.

Ende 2006 hat das Statistische Bundesamt die Ergebnisse einer europaweiten Untersuchung über Armut und Lebensbedingungen veröffentlicht. Genauer untersucht werden private Haushalte, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens im Monat (1808 Euro) zur Verfügung haben, d.h. es geht um Einzelpersonen, die mit 1079 Euro auskommen müssen oder um Zweipersonenhaushalte mit einem Kind, die von gut 2.500 Euro ihren Lebensunterhalt bestreiten. Ergebnis: Die Armutsgefährdungsquote beträgt in Deutschland 2004 rund 13 Prozent. Rund 10,6 Millionen BürgerInnen, darunter 1,7 Millionen Kinder unter 16 Jahren, gelten als armutsgefährdet. Andere Untersuchungen kommen z.T. zu noch schlechteren Ergebnissen. Darüber hinaus ist unstrittig, dass die Armutsrisiken in Ostdeutschland dramatisch höher ausfallen und dass die flächendeckende Ausbreitung von fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Anschauungen viel mit dieser Armutsentwicklung zu tun hat.

Es geht der CDU zudem nicht nur und in erster Linie um die Zurückdrängung von Arbeitslosigkeit und Armut. Sie will die bedrohten und verängstigten Mittelschichten wieder an die bürgerliche Politik heranführen. Daher das windige Versprechen von der Aufstiegsgesellschaft, das eine Veränderung bloß vorgaukelt und übliches Politikergeschwätz bleiben wird. Denn die CDU-Politiker wissen: Der tiefere Grund der Fehlentwicklung erschließt sich über die Verteilungspolitik. „Die Renditen auf Kapital und Arbeitskraft entwickeln sich auseinander. Und der Riss, der unsere Gesellschaft zu spalten droht, wird genau durch die Mitte laufen. Und eben diese Mitte ist es auch, die vor der Angst vor Statusverlust und gesellschaftlichem Abstieg betroffen ist.“ (von Beust/Kauder 2006: 24) Und diese unterschiedliche Entwicklung der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sowie aus dem Verkauf der Arbeitskraft kann – ohne grundlegende Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse – mit politisch-kosmetischen Korrekturen nicht eingedämmt oder gar umgekehrt werden.

Auch der SPD-Vorsitzende Beck macht sich angesichts der sozialen Spaltung und der Abkoppelung vieler Lohnabhängigen für einen sozialen Aufstieg durch eigene Leistung stark. Dass die Löhne in den letzten Jahren hinter anderen Einkommensarten weit zurückgeblieben sind, beklagt auch die SPD. In der Konsequenz dieser Verschiebung der Verteilungsverhältnisse und der Einschnitte in das System sozialer Sicherheit habe sich Unsicherheit ausgebreitet. Was Beck noch mehr beunruhigt: Die „Leistungsträger“ haben keine Aufstiegschancen in der Gesellschaft und die Bildungschancen ihrer Kinder haben sich dramatisch verschlechtert. Die Vorschläge zur Verwirklichung der Idee des „Leistung muss sich wieder lohnen“ lassen allerdings wenig Neues erkennen: kein weiterer Abbau beim Kündigungsschutz, Beitragsfreiheit für Kindergartenplätze und Gebührenfreiheit bei Bildungsinstitutionen; Vermögensbeteiligung bei Lohnabhängigen; keine weiteren Steuersenkungen und keine Einführung einer Vermögensbesteuerung; keine gesetzlichen Mindestlöhne.

Der SPD-Vorsitzende Beck zielt mit der politischen Konzeption einer Verbesserung der Aufstiegschancen wie die CDU auf die gesellschaftliche Mitte und bestätigt damit die zentrale These der Wahlforschung, dass es einen massiven Bruch zwischen der Sozialdemokratie und den unteren sozialen Schichten gibt. Die sozialdemokratischen „Spitzenleute überbieten sich in absurden Vorschlägen, wie man die Arbeitslosen auf Trab bringen kann. Insofern haben sich die Sozialdemokraten wirklich, nicht nur habituell, sondern auch politisch und sozial elementar von diese Gruppe entfernt, die sie früher im Parlament zuvorderst vertreten haben. Es handelt sich hierbei um eine substanzielle, nachhaltige Entkoppelung zweier grundverschiedener, mittlerweile einander zu tiefst fremd gewordener Lebenswelten und Interessenlagen.“ (Walter 2006: 2 )

Fremdenfeindlichkeit und Rechtspopulismus

Ein zentraler Aspekt dieser Tendenz zur gesellschaftlichen Spaltung ist die Verfestigung der Armut in einer Unterschicht, also bei BürgerInnen, die kaum Chancen haben am gesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben. Schon dem 2005 veröffentlichten zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung war zu entnehmen: Der Anteil der Menschen unter der Armutsgrenze ist seit 1998 von 12,1 Prozent auf 13,5 Prozent gestiegen. Jeder achte Haushalt war demnach betroffen, insgesamt elf Millionen Menschen. Die weitergehende spannende und kontrovers debattierte Frage lautet: „Kann die verfestigte Ungleichheit in Deutschland über die individuelle Betroffenheit hinaus eine kollektiv wahrgenommene Unterprivilegierung erzeugen – und damit einen Ausgangspunkt für so etwas wie Klassenbewusstsein? Werden auch in Deutschland Banlieus entstehen, brennende Vorstadtviertel wie in Paris?“ (Allmendinger/Wimbauer 2006) Dass in Deutschland eine verfestigte Ungleichheit existiert, ist seit langem eine gut belegte Tatsache. Kontrovers wird dagegen debattiert, ob diese Unterprivilegierung von den Betroffenen kollektiv wahrgenommen wird und dieses Bewusstsein eine Quelle von sozialen Protesten oder gar Widerstand sein kann.

Eine aktuelle Untersuchung (FES 2006) über die verfestigte Unterschicht in Deutschland löste ein großes Medienecho aus. Der Grund: 6,5 Millionen Deutsche leben nach dieser von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie in Armut und haben die Hoffnung aufgegeben, diesen Zustand noch einmal überwinden zu können. Das Entsetzen in den Medien ist groß. Gemäß der FES-Studie gehören dieser neuen gesellschaftlichen „Unterschicht“ 8 Prozent der Bevölkerung an – 20 Prozent der Ostdeutschen und 4 Prozent der Westdeutschen. Die Wissenschaftler der Studie sprechen vom „abgehängten Prekariat“.[1]

Die Forscher der Ebert-Stiftung haben soziale Gruppen definiert, die sich nicht nur aufgrund des Einkommens voneinander unterscheiden, sondern vor allem durch ihre Einstellungen, Werte, Bildung und das Interesse an politischen Prozessen. Die Gruppe, die in der Debatte nun als „Unterschicht“ bezeichnet wird, nennt Karl – Projektleiter der FES – das „Prekariat“. Dazu gehören Menschen, deren sämtliche Lebensumstände unbefriedigend sind: Sie sind arbeitslos, haben eine schlechte formale Bildung, sind eventuell alleinerziehend oder chronisch krank und haben schlechte Zukunftsaussichten.

13 Prozent der Bevölkerung seien „zufriedene Aufsteiger“ und hätten sich über ihre soziale Herkunft hinausgearbeitet in ein gehobenes Arbeiter- und Angestelltenmilieu. Die „bedrohte Arbeitnehmermitte“ (16 Prozent), großstädtisch und industriell geprägt, bange um ihre Arbeitsplätze und habe Angst vor sozialem Abstieg; die „selbstgenügsamen Traditionalisten“ (11 Prozent) hingegen seien zufriedene Arbeiter, die ihre Lage als sicher einschätzten. Knapp vor dem „Prekariat“ rangieren in der Studie die „autoritätsorientierten Geringqualifizierten“ (7 Prozent), unter denen die NPD ihre WählerInnen rekrutiere.

Das „Prekariat“ zeichne sich aus durch eine „tiefgreifende Hoffnungslosigkeit und Resignation“, stellen die FES-Forscher fest. Zwei Drittel der Angehörigen dieser Gruppe seien arbeitslos, und wer Arbeit habe, identifiziere sich nicht mit ihr. „Diese Menschen fühlen sich gesellschaftlich im Abseits und vom Staat allein gelassen, Veränderungsprozesse empfinden sie als zu komplex.“ Sie verlangten nach einem stark regulierenden, eingreifenden Staat, hätten aber weder Vertrauen in dessen Institutionen noch in Politiker. Der Anteil an Nichtwählern wie an Protestwählern sei hoch.

Allerdings: Latent oder manifest rechtsextreme Einstellungen finden sich in allen sozialen Schichten sowie zivilgesellschaftlichen und politischen Organisationen (Parteien, Gewerkschaften und Kirchen) und in allen Bundesländern. Auf autoritäre und ausländerfeindliche Einstellungen stoßen wir bei den WählerInnen aller Parteien. Selbst „gefühltes“ Linkssein schützt nicht vor rechtsextremen Einstellungen. Bei den manifest Rechtsextremen finden wir einen deutlich höheren Anteil von Rentnern und Vorruheständlern (41,8 Prozent). 38,4 Prozent sind erwerbstätig. Bildung und Einkommen sowie das Geschlecht haben Einfluss auf die Ausprägung von rechtsextremen Einstellungen (vgl. Brähler/Decker 2006).

Gewichtige Faktoren (nicht nur) bei latent oder manifest rechtsextrem eingestellten BürgerInnen sind die Neigung zum Autoritarismus („Gehorsam, Autorität, also Werte der Unterwerfung, sind den meisten Rechtsextremen wichtig, genauso wie die aggressive Verfolgung von Abweichung. Auffällig ist allerdings die Akzeptanz, die diese Position in der breiten Bevölkerung hat.“) und eine große Distanz zum politischen System, die noch stärker ausgeprägt ist als im Durchschnitt der Bevölkerung. Zudem finden wir bei manifest Rechtsextremen eine überdurchschnittlich hohe Gewaltbereitschaft und Tendenz zur Abwertung von ethnischen und sozialen Gruppen.

Politisch wurde dieses rechtspopulistische Potential bisher überwiegend von den großen Volksparteien integriert. Der Vertrauensverlust ins politische System und die politischen Parteien führt allerdings dazu, dass der Anteil der Nichtwähler kontinuierlich zunimmt. Die Volksparteien „verlieren ihre Leitziele, ihre historischen Subjekte, ihre sozialen Verwurzelungen.“ (vgl. Walter 2006b) Die Chancen der Formierung einer wahlpolitisch relevanten rechtsextremen Partei sind deutlich verbessert.

Zerstörung demokratischer Willensbildung

In der Diskussion um die Ursachen der massiven Ausbreitung von rechten Vorurteilsstrukturen und den Siegeszug rechtsextremer/rechtspopulistischer Parteien wird immer wieder auf einen unmittelbaren Zusammenhang von Krisenopfern und der Existenz von entsprechenden Mentalitäten verwiesen. Gegen solche monokausalen Erklärungen wendet sich die schon zitierte, bei der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienene Studie von Brähler und Decker: „Der Nachteil dieser sozialwissenschaftlichen Ansätze besteht in der Tatsache, dass eine Statusunsicherheit sehr wohl zu einer rechtsextremen Orientierung führen kann, aber nicht muss. Damit bleiben notwendige Bedingungen rechtsextremer Orientierung im Dunkeln.“ (Brähler/Decker 2006: 17) Zudem seien rechtsextreme Einstellungen „kein exklusives Problem von ‚desintegrierten’ und unter prekären Verhältnissen lebenden Personen, sondern sehr wohl auch von Personen mit höheren Einkommen, wie unter anderem die Untersuchung von rechtsextremen Einstellungen von Gewerkschaftsmitgliedern zeigte.“ (ebd.: 129) Deshalb müssten zur Erklärung auch Sozialisationserfahrungen und psychologische Faktoren (Persönlichkeitsstruktur und psychisches Befinden) herangezogen werden.

Die Konstruktion einer direkten Kausalkette von wirtschaftlicher Lage und der Herausbildung eines rassistischen Alltagsbewusstseins führt in der Tat in die Irre. Richtig ist auch, dass Sozialisation und Persönlichkeitsstruktur zur Erklärung von Anfälligkeiten für rechtsextreme Vorurteile und Handlungen herangezogen werden müssen. Gleichwohl bleibt die Feststellung zutreffend, dass wir heute mit einer gesellschaftlichen Grundstimmung aus Ohnmachtgefühlen und Zukunftsängsten konfrontiert sind. Fremdenfeindliche, rassistische Mentalitäten sind spezifische Verarbeitungsformen einer „prekären Normalität“ mit zunehmender sozialer Unsicherheit, deren Ursachen unbegriffen bleiben. Ein ganz wesentlicher Aspekt dieses Syndroms ist auch die weit verbreitete Einschätzung einer stark eingeschränkten Kompetenz der Politik bei der Steuerung oder Kontrolle der sozioökonomischen Prozesse.

Mit der Rückkehr der allgemeinen sozialen Unsicherheit stellen wir eine Ausbreitung des Ressentiments fest. Es handelt sich um ein Bündel von Emotionen bei Menschen, die die Überzeugung gewonnen haben, sozial, kulturell und politisch abgeschrieben zu sein. Das Ressentiment ist kein Gefühl, das zu Großzügigkeit oder Risikobereitschaft prädisponiert. Anstatt andere gesellschaftliche Gruppen in ihrer Diversität zu akzeptieren, suchen diese Zugkurzgekommenen nach einem Sündenbock, dem sie die Schuld für ihre Verlassenheit in die Schuhe schieben können.

Dass die Ängste vor einem sozialen Abstieg und ein ausgeprägter Vertrauensverlust in das politische System nicht auf bestimmte soziale Gruppen beschränkt sind, sondern eine verbreitete Verunsicherung zur dominanten gesellschaftlichen Grundstimmung geworden ist, bestätigt auch eine Bielefelder Langzeitstudie über Desintegration, in der dem Zusammenhang von sozioökonomischen Faktoren und individuellen Ängsten nachgegangen wird. Sie stellt fest, „dass Desintegrationsängste in der Bevölkerung weit gestreut sind und sich keinesfalls nur auf Personen der unteren Lage beschränken: Sie werden im Laufe der Jahre auch zunehmend von Befragten aus der sozialen Mitte geäußert ... Ein wachsender Teil der Bevölkerung stuft die eigene Position am Arbeitsmarkt als prekär ein. Mehr als die Hälfte der Erwerbspersonen in unteren sozialen Lagen, aber auch 40 Prozent der Befragten in mittleren Soziallagen und sogar ein Viertel in gehobener Position äußern große oder sehr große Angst vor Arbeitslosigkeit. (...) Es ist die Kombination von Desintegrationsängsten und Orientierungslosigkeit, die die feindseligen Mentalitäten in allen sozialen Lagen – und in jüngster Zeit eben deutlicher auch in der politischen Mitte – hervorbringt und verstärkt.“ (Heitmeyer/Hüpping 2006)

In der bundesdeutschen Gesellschaft haben sich mithin vor dem Hintergrund von hoher Arbeitslosigkeit, der Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse, verfestigter Armut, beschleunigter Erosion der sozialen Sicherheit und Rückkehr von sozialer Unsicherheit tiefsitzende Zukunftsängste und ein massiver Vertrauensverlust in gesellschaftliche Institutionen breitgemacht. Der gesellschaftliche Wandel erscheint als naturgegebener Prozess, der von der Politik nicht gesteuert und kontrolliert werden kann. In der letzten Konsequenz führt dies zu einer Entkoppelung der Politik und der demokratischen Willensbildung von den von der Ökonomie ausgelösten Veränderungen. Die wachsende Distanz drückt sich in rückläufigen Mitgliederzahlen bei den politischen Parteien und geringeren Wahlbeteiligungen bei Wahlen, aber auch in einem deutlichen Ansehensverlust der Politik aus. Laut einer Umfrage war die Kluft zwischen Politik und Bevölkerung noch nie so groß wie Ende des Jahres 2006. 82 Prozent der Bundesbürger gehen davon aus, dass die Politiker keine Rücksicht auf die Interessen des Volkes nehmen. In Ostdeutschland beträgt dieser Anteil sogar 90 Prozent. Nur 18 Prozent sind der Meinung, dass das Volk etwas zu sagen hat. Mit dem politischen System, wie es im Grundgesetz festgelegt ist, sind der Umfrage zufolge 36 Prozent der Deutschen unzufrieden, mit dem tatsächlichen Funktionieren des Systems 61 Prozent. (Forsa-Umfrage; vgl. Süddeutsche Zeitung 2006: 5)

Die starke Entfremdung zwischen demokratischer Willensbildung und ökonomisch-sozialen Verhältnissen schlägt sich aktuell noch nicht in einer politisch-gesellschaftlichen Krisenkonstellation nieder. Allerdings dürfte die Hoffnung auf eine Selbstkorrektur dieser Entwicklung auch illusionär bleiben. Entscheidend für die Wirksamkeit einer gesellschaftliche Alternative ist freilich die Beantwortung der Frage, was denn die Ursachen dieser Entwicklung sind.

Gesellschaftliche Gründe für die Tendenz zur
Ausgrenzungsgesellschaft

Wirtschaft und Sozialstaat, Unternehmensgewinne und Löhne waren in den Nachkriegsjahrzehnten – bei deutlicher sozialer Ungleichheit – in einer Balance. Im Alltagsbewusstsein großer Bevölkerungsteile werden für die entscheidenden Veränderungen neue Wertorientierung der herrschende Elite verantwortlich gemacht. Exemplarisch: „Die Werte stimmen nicht mehr, nach denen sich die Unternehmensspitzen richten. Kurzfristige Renditeerwartungen sind wichtiger als langfristige Strategien. (…) Auch die Politiker handeln nach verfehlten Maßstäben: Sie senken die Unternehmenssteuern, aber belasten Geringverdiener sowie Arbeitslose. Sie schränken Arbeitnehmerrechte ein. (…) Eine neue soziale und ökonomische Balance ist nötig.“ (Wezel 2006: 23) Es ist zwar zutreffend, dass sich die politischen Handlungsparameter von Management und Politik geändert haben. Aber diese Handlungsleitlinien sind selbst das Resultat veränderter Machtverhältnisse in der Ökonomie.

Die Herausbildung einer „prekären Normalität“ und ihrer Verarbeitung im Alltagsbewusstsein muss in den Übergang zum entfesselten Finanzmarktkapitalismus eingeordnet werden. Die finanzmarktgetriebene Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse setzt die sozialstaatlichen Regulationen außer Kraft. In der Logik dieser neuen Akkumulationsweise sind Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen lediglich Restgrößen. Die daraus resultierende – und politisch verstärkte – massive Ausweitung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse hat nicht nur die Wirkung, dass sie den davon Betroffenen kaum eine Möglichkeit eines relevanten Widerstandes oder gesellschaftlichen Protestes eröffnet, sondern die von der Prekarisierung ausgelöste Furcht erfasst rückwirkend auch die Mehrheit der Lohnabhängigen.

Kern der Restrukturierung der Kapitalakkumulation ist die über die Liberalisierung des Kapitalverkehrs Ende der 1970er Jahre herausgebildete neue Qualität der Finanzmärkte. Das daraus hervorgegangene „neue“ Akkumulationsregime verfügt über drei Säulen: erstens ein Netz von transnationalen Finanzinstitutionen, die jenseits der Kontrolle der Zentralbanken oder Finanzmarktagenturen arbeiten; zweitens die institutionellen Anleger (Fonds), die einen raschen Aufstieg erlebt haben; drittens das Leihkapital auf den internationalen Finanzmärkten, die einen markanten Bedeutungsgewinn zulasten der Bankkredite zu verzeichnen haben. Die Vorherrschaft der Finanzmärkte setzt sich einzelwirtschaftlich in eine Hegemonie des Shareholder value um, was zu einem beschleunigten Umbau der Unternehmenslandschaft und zu einer Ausweitung der Finanztransaktionen führt. Innerhalb der Unternehmen verändert sich die Machtstruktur (corporate governance). Dabei geht es darum, die Wertschöpfungskette kontinuierlich zu verschlanken, Quersubventionen zwischen Geschäftsfeldern drastisch einzuschränken, den Prozess der Marktreife von neuen Produkten zu verkürzen und Innovationen durch Zukauf von kleineren Unternehmen zu optimieren. Gemäß der Konzentration auf das Kerngeschäft erfolgt eine Neuorganisation der Unternehmensnetze.

Professionell geführte Kapitalsammelstellen – Fonds und Investmentgesellschaften aller Art – bestimmen heute den gesellschaftlichen Kernbereich der betrieblichen Wertschöpfungsprozesse. In der Folge registrieren wir eine Verschiebung der Verteilungsverhältnisse. „Der Nettoertrag einer Gesellschaft gehört den Aktionären (den Shareholdern mit ihrem breiten gesellschaftlichen Netzwerken). Sie erhalten ihn entweder in der Gestalt von Dividenden oder in der Gestalt eines Wertzuwachses bei den Aktien, welcher der durch die zusätzlichen, aus unverteilten Gewinnen finanzierten Investitionen geschaffenen Ertragskraft entspricht. Sie können diese Kapitalgewinne ohne weiteres in Konsum umsetzen. Soweit sie das nicht tun, schreibt ihnen das System sozusagen Ersparnisse gut. Was technischer Fortschritt, Kapitalakkumulation, Arbeit und Geschäftstüchtigkeit an Vermögen schaffen, fällt damit den Rentiers in den Schoß, während sie zu Hause sitzen oder sich anderen Aufgaben widmen.“ (Robinson 1966: 73)

Der Übergang zum Vermögenskapitalismus ist mit verschiedenen Veränderungen verbunden:

- der schrittweisen Machtverlagerung von den Managern der Großunternehmen auf die diversen Kapitalfonds, Vermögensverwalter und Finanzmarktinstitutionen;

- Umbauprozessen in der betrieblichen Wertschöpfung;

- der Auflösung des fordistischen Leistungskompromisses. Die Verschiebung in den Anteilen von Arbeitnehmerentgelten (Löhnen) und Gewinn- und Vermögenseinkommen läuft faktisch auf die Aufkündigung der Leistungsgerechtigkeit hinaus. Die Vermögenseinkommen (Zinsen, Dividenden, Preisentwicklung von Vermögenstiteln) stehen nur insoweit in Zusammenhang mit einer Leistung, als sie auf die genaue Beobachtung der Kapitalmärkte und der darauf basierende Entscheidungsprozesse zurückzuführen sind.

Die Auflösung des Leistungskompromisses schlägt sich zum einen gesamtgesellschaftlich nieder in einem verschärften Wettbewerb, bei dem vor allem viele kleinere und mittlere Unternehmen gegenüber den Großunternehmen strukturell aus einer ökonomischen Defensivposition nicht mehr heraus kommen. Diese Profitratendifferenzierung geht in die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur ein wie auch die Tendenz zur Absenkung der Arbeitseinkommen. Die Erträge aus Vermögen sind stärker gestiegen als die Arbeitseinkommen. Nicht zuletzt dadurch haben sich die Relationen in der Einkommensverteilung verschoben, ohne dass die Gewerkschaften dies mit ihrer Tarifpolitik hätten verhindern können. Schließlich zeigt sich die Machtverschiebung auch in den Angriffen auf die Betriebsverfassung und die Tarifautonomie, an der Erosion des Systems der Mitbestimmung und der Stellung der Gewerkschaften.

- Durch den Zwang zur Steigerung der Eigenkapitalrendite und die Ausrichtung der betrieblichen Wertschöpfung auf den Börsenwert der Unternehmen – Shareholder value-Strategie – wird der sozial regulierte Kapitalismus einem sich beschleunigenden Erosionsprozess ausgesetzt.

Selbst von den Verfechtern eines modernen Kapitalismus mit einer Vorherrschaft von Aktien und Wertpapieren wird nicht bestritten, dass diese Umwandlung mit einer Aufkündigung der bisherigen Verteilungsrelationen, der Verschärfung sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Ausgrenzung verbunden ist. Wenn die Aktiengesellschaften durch Verschlankung und Optimierung ihres betrieblichen Wertschöpfungsprozesses ihre Eigenkapitalrenditen auf 15-20 Prozent nach oben schrauben, dann bedeutet das nicht nur Outsourcing von weniger profitablen Unternehmensteilen und Erhöhung der Arbeitsintensität, sondern führt gesamtgesellschaftlich zu einem beschleunigten Rückgang des Anteils der Arbeitseinkommen am verfügbaren Reichtum und einer Bewegung der Masseneinkommen nach unten.

Die Botschaft lautet auf den Punkt gebracht: Die/der Bürger/in des 21. Jahrhunderts gewinnt als Konsument und Kleinaktionär, was sie/er – womöglich sogar in gleicher Person – als Arbeitnehmer/in verliert. Doch gerade diese Botschaft überzeugt immer weniger. Die Bürgerinnen und Bürger sind nie gefragt worden, ob sie einen Wechsel zu diesem System wollen. Die Erwartung, dass sich mit diesen Veränderungen für den größeren Teil der Bevölkerung ein verbesserter Zugang zu Produkten und Dienstleistungen ergeben würde, ist illusionär.

Gegen diese Politik richtet sich das Plädoyer für einen Eingriff in die Verteilungsverhältnisse, um einen grundlegenden Politikwechsel durchzusetzen. Aus der hartnäckigen Strukturkrise kann die Gesellschaft in Deutschland nur durch einen radikalen Politikwechsel herauskommen. Da der beständige Druck auf die Arbeitslöhne über die Schwächung der gesamtwirtschaftlichen (Binnen-)Nachfrage die Wertschöpfung hemmt, ist über ein ausreichend dimensioniertes und auf mehrere Jahre angelegtes Programm öffentlicher und öffentlich induzierter Nachfragesteigerung die Binnenkonjunktur zu stärken und zu steigern. Die Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage kann den Akkumulationsprozess beschleunigen. Die Ergänzung der öffentlichen Nachfragestabilisierung durch eine gesamtwirtschaftliche Strukturpolitik könnte die Nachhaltigkeit dieses neuen wirtschaftspolitischen Paradigmas steigern und mittelfristig einen neuen Typus von Kapitalakkumulation und öffentlicher Regulierung etablieren. Die Diskriminierung des ausufernden Niedriglohnsektors und die weitgehende Überführung ungeschützter Arbeitsverhältnisse in sozialversicherungsrechtliche Beschäftigungsverhältnisse wird die konsumtive Endnachfrage erhöhen.

Mit der neoliberalen Politik wird die Tendenz zu wirtschaftlicher Stagnation, sozialer Polarisierung und der Beschädigung der Fundamente der öffentlichen Finanzen dagegen weiter verfestigt. Die öffentlichen Finanzen und die finanziellen Grundlagen der sozialen Sicherungssysteme geraten sowohl durch die Verschiebungen in den primären Verteilungsverhältnissen zwischen Löhnen und Kapitaleinkommen als auch durch wachsende Anforderungen infolge der chronischen Krisenprozesse in eine immer stärkere Schieflage. Konsequenz der neoliberalen Wirtschaftskonzeption ist die anhaltende Verschärfung der Fiskalkrise. Die Erosion der finanziellen Fundamente bei öffentlichen und Sozialkassen wird durch eine Steuersenkungs- und Steuerverlagerungspolitik zugunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen verschärft. Das abflachende Wirtschaftswachstum, die Auflösung der Normalarbeitsverhältnisse, das Anwachsen von krisenbedingten Unterstützungszahlungen und die Ausbreitung des informellen Sektors haben entsprechende Rückwirkungen auf die öffentlichen Finanzen. Die Reaktion auf diese Zuspitzung ist zum einen eine Verschärfung des Konsolidierungskurses, was durch noch weiter zurückgefahrene Sozialausgaben und eine Beschränkung der Krisenintervention selbst wiederum zur einer Verfestigung der Akkumulations- und Wachstumsschwäche führt. Zum anderen verschlechtern die herrschenden Eliten durch Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen und die Verminderung der öffentlichen Investitionen die Rahmenbedingungen für eine gesellschaftliche Steuerung des Reproduktionsprozesses.

Zugespitzt lautet die These: Die soziale Sicherheit und der soziale Zusammenhalt fallen der Flexibilität zum Opfer. „Die soziale Unsicherheit schafft (...) nicht nur Armut. Wie ein Virus, der das Alltagsleben durchdringt, die sozialen Bezüge auflöst und die psychischen Strukturen der Individuen unterminiert, wirkt sie auch demoralisierend, als Prinzip sozialer Auflösung. Sie zersetzt den Charakter, wie es bei Richard Sennett in anderem Zusammenhang heißt. Sich in einer Situation ständiger Unsicherheit zu befinden bedeutet, weder die Gegenwart meistern noch die Zukunft positiv gestalten zu können.“ (Castel 2005: 38) Diese Unsicherheit wird mit der Informalisierung von Arbeit, Geld und Politik globalisiert. (Altvater/Mahnkopf 2002)

Die Hauptschwierigkeit für die Umsetzung eines grundlegenden Politikwechsel besteht darin, die sich verstärkende Tendenz größerer Bevölkerungsteile, sich von den Möglichkeiten demokratischer Willensbildung zu verabschieden, aufzuheben. Die verbreitete Ablehnung der ‚Marktwirtschaft’ und die große Kluft zur Politik beschränkt die Handlungsparameter einer gegen den neoliberalen Systemumbau gerichteten Opposition. Die politische Linke unterschätzt das massive Misstrauen gegenüber der Politik und setzt illusionär auf die Überzeugungskraft der eigenen Alternativen.

Auf der anderen Seite ist es auch verkürzt, die Auflösung der fordistisch-tayloristischen Betriebsweise nur als negativen, den Lohnabhängigen aufgezwungenen Prozess zu interpretieren. Die Veränderung im System gesellschaftlicher Lohnarbeit – Qualifizierung, Vermarktlichung, Entgrenzung – hat für Teile der Beschäftigten auch durchaus positive Aspekte. Die „Öffnung“ der hierarchisch strukturierten Arbeitsorganisation setzt auch subjektive Entfaltungspotentiale frei. „Führe Dich selbst“ appelliert dabei an ein erforderliches verändertes Verhalten und Handeln der Subjekte in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch und gerade der Lohnabhängigen. Selbstführung, Selbststeuerung, Selbstorganisation und Empowerment – oder wie auch immer die Charakterisierungen dieses geforderten neuen Arbeitnehmertypus, des sog. Arbeitskraftunternehmers, lauten mögen – sind Reaktionen und Folgen neuer Bedingungen und Strukturen der Lohnarbeit.

Die neoliberale Veränderung des Kapitalismus steht deshalb auch für erweiterte Spielräume von Individualitätsentwicklung, freilich mit einer erheblichen Ambivalenz und Verletzbarkeit. Der veränderte Zugriff auf die Leistungspotentiale des lebendigen Arbeitsvermögens zielt auf eine erweiterte „innere Landnahme“, d.h. die Ausweitung der Marktgesellschaft auch auf Bereiche von Bildung, Gesundheit und öffentliche Dienstleistungen. Die im Produktionsprozess abgeforderte und entwickelte Selbstorganisation bleibt eben nicht nur auf die Steuerung der Verausgabung der eigenen Arbeitskraft im Unternehmen (Arbeitskraftunternehmer) beschränkt, sondern wird auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen, beziehungsweise dort auch als Einstellung abgefordert. Die Zweischneidigkeit der Entwicklung von Produktivität und Individualität erhält eine neue Ausprägung.

Ohne Zweifel gibt es soziale Gruppierungen von Lohnabhängigen, die von der Tendenz zur Selbstorganisation und den größeren Individualitätsspielräumen in und außerhalb der Arbeit angesprochen sind. Deren Entwicklung von Fähigkeiten und Kompetenzen korrespondieren mit Ansprüchen, auch mit Blick auf die sonstigen gesellschaftlichen Sektoren individuell ausgerichtete Dienste und Absicherungen kaufen zu können. Es gibt ohne Zweifel Gewinner der Flexibilisierung und somit breitere soziale Schichten, die sich von dem Gesellschaftsbild der Neoliberalen angesprochen fühlen. Die Trennlinie zwischen Gewinnern und Verlierern der Entfesselung und Flexibilisierung des Kapitals verläuft „entlang der objektiven Ressourcen und der organisatorischen Basis, auf die sich die Individuen stützen können, um mit diesen neuen Situationen zurecht zukommen. (...) Diejenigen, die über kein wirtschaftliches, kulturelles oder auch gesellschaftliches Kapital verfügen, sind auf kollektive Sicherungsformen angewiesen.“ (Castel 2005: 64f.) Entscheidend für eine anti-neoliberale Politik ist daher: Entwicklung der eigenen politischen Glaubwürdigkeit und Ausrichtung der politischen Strategie auf die Herausbildung eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses, das sowohl die Ausgegrenzten und Verlierer, aber auch die Gewinner des ‚neuen Kapitalismus’ umgreift.

Eine moderne Politik müsste der Verschiebung der Verteilungsverhältnisse entgegenarbeiten und eine Politik der Regulation und Steuerung der nationalen, europäischen und internationalen Wirtschaftsprozesse verfolgen. Denn die politische Praxis sowohl der Parteien des bürgerlichen Lagers als auch der Mitte-Links-Koalition zielt weiter auf eine Entfesselung des Kapitals und die Verstärkung der Umverteilungseffekte.

In der letzten Konsequenz müsste zur Eindämmung dieser Entwicklungstendenz nicht nur ein anderes Regulationssystem durchgesetzt werden, sondern auch eine breite Demokratisierung der kapitalistischen Wertschöpfungsprozesse, was im Kapitalismus aber wegen der Machtverhältnisse nur in harten Konflikten durchzusetzen ist. Eine Politik der Sozialisierung der Investitionen (Keynes) wäre ein Ansatz für eine schrittweise Transformation.

Literatur

Allmendinger, J./Wimbauer, Ch. (2006): Klassengesellschaft, in ZEITWISSEN 4-2006

Beck, K. (2006): 35 Prozent plus ein dickes X, in: Stern Nr. 36, Hamburg

Bischoff, J. (2006): Zukunft des Finanzmarktkapitalismus, Hamburg

Bischoff J. (2006): Das »abgehängte Prekariat«. Zur aktuellen Debatte über Unterschicht und Klassengesellschaft in Deutschland, in: Sozialismus 11, S. 4-8

Bischoff, J./Radke, B. (2006): SPD als Hoffnungsträger? In: Sozialismus 10

Bourdieu, P. (1998): Prekarität ist überall, in: Gegenfeuer, Konstanz

Brähler E./Decker O. (2006): Vom Rand zur Mitte, Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland‚ Bonn

Brinkmann, U. u.a. (2005): Prekäre Arbeit, Bonn

Castel, R. (2001a): Die neue soziale Frage, in: Frankfurter Rundschau vom 3.9.2001

Castel, R. (2001b): Der Zerfall der Lohnarbeitsgesellschaft, in: Lohn der Angst, Liber Jahrbuch 3, Konstanz

Castel, R. (2005) Die Stärkung des Sozialen, Hamburg

FES (Friedrich-Ebert-Stiftung) (2006): Gesellschaft im Reformprozess, Bonn

Heitmeyer, W./Hüpping, S. (2006): Auf dem Weg in eine humane Gesellschaft, in: Süddeutsche Zeitung vom 21./22.10.2006

Köcher, R. (2006): Die Distanz zwischen Bürgern und Wirtschaft wächst, in: FAZ vom 20.12.2006

Robinson, J. (1966): Die fatale politische Ökonomie, Frankfurt

Statistisches Bundesamt (2006): Armut und Lebensbedingungen – Ergebnisse aus Leben in Europa für Deutschland 2005, Dezember, Wiesbaden

Süddeutsche Zeitung 2006, Tiefe Kluft zwischen Bürgern und Politik, Forsa-Umfrage, 28.12.2006

Von Beust, O./Kauder, V. (2006): Durch Leistung nach oben, in Focus Nr. 52, 22. Dezember 2006

Walter, F. (2006): Die Fata Morgana der SPD, in: Spiegel online vom 30.8.2006

Walter, F. (2006b): Wie Politik und Parteien implodieren, in: Spiegel online vom 21.9.2006

Wetzel, D. (2006): Wir dürfen uns nicht spalten lassen, in: Mitbestimmung 12

[1] Auch hier fällt auf, dass die quantitative Dimension der Armut eher unterschätzt wird.