„Dieses Buch wird etwas in Gang setzen“ ist das Leitwort Manfred Wekwerths in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe. Es hat in der Tat bislang erstaunlich viele Menschen bewegt, kluge, hochgeschätzte Geister darunter. Ob es indes der sozialistischen Bewegung einen neuen kräftigen Impuls zu geben vermag, wie von Vielen erhofft wird, kann bezweifelt werden. Ich glaube es nicht.
Sozialismus des 21. Jahrhunderts solle eine „demokratisch geplante Äquivalenzökonomie“ sein, sagt der Autor. Marx und Engels hätten für die Ausarbeitung eines konkreten Vorschlags zum Wirtschaftssystem des zukünftigen Sozialismus keine Zeit mehr gehabt (77).
Aber auch der Entwicklungsstand der Produktivkräfte erlaubte keine Konzipierung eines sozialistischen Ökonomie-Projekts. Es „gab weder Computer noch Datenübertragungsnetze noch die fortgeschrittene Mathematik“ (78). Deswegen basierten die sozialistischen Volkswirtschaften auch auf „Preis- und Kostenrechnung“, nicht auf wirklicher Wertrechnung. Dies sei nach Arno Peters ein „aquipretiärer Tausch“ (78).
Alle Versuche der Umgehung der marktwirtschaftlichen Wertrechnung – durch Input-output-Analysen Wassili Leontjews zum Beispiel – seien an der unzureichenden Informationslogistik gescheitert. In den achtziger Jahren habe es in der Sowjetunion etwa 12 Millionen Produkte gegeben, „während die Informationslogistik nicht viel mehr als für einige hundert Produkte reichte. Dies ist, in der Tat, die tiefliegendste, auf der Ebene der Produktivkräfte angesiedelte gesellschaftliche Ursache des inneren Zusammenbruchs der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder.“ (80)
Es habe nach Marx und Engels aber auch keine Weiterentwicklung der Sozialismus-Theorie gegeben, vergleichbar etwa der Entwicklung der Physik nach Newton durch Einstein, Heisenberg u.a. Natürlich sei Marx ebenso wenig veraltet wie Isaac Newton, Aber die Sozialismus-Theorie für das 21. Jahrhundert müsse erst noch geschaffen werden. Es müsse zum Beispiel die Frage beantwortet werden, „ob die im Jahre 2004 vorhandene Informationslogistik der Bundesrepublik Deutschland ausreiche, um eine arbeitswertorientierte nichtkapitalistische Wirtschaft zum zentralen Mobilisierungsfaktor eines antikapitalistischen Programms zu machen“ (86, 87). Es gelte, an die seit Marx und Engels stehen gebliebene Sozialismustheorie wieder anzuknüpfen mit dem „Neuen Historischen Projekt der postbürgerlichen Weltgesellschaft“ (88). Dies hieße, die „brachliegende Gattungsintelligenz“, auch über das Internet, zu erschließen, den „Weltgeist“ sozusagen. (96)
Die Begründung eines solchen historischen Projekts ist das Anliegen des Autors dieses Buches mit dem entsprechend anspruchsvollen Titel. Kern des Projekts ist die Idee der Äquivalenzökonomie. Ökonomisch ist damit ein Sozialismus mit Leistungsprinzip, aber ohne herkömmliche Geldwirtschaft gemeint.
Diese Vorstellungen sind denen von Marx und Engels über eine sozialistische Wirtschaft sehr nahe. Was erstaunlich wenige Marx-Kenner zur Kenntnis nehmen: Marx hat sich über Geld und Sozialismus sehr klar geäußert. Im Sozialismus, der ersten, „unreifen“ Phase des Kommunismus, solle es nach Marx zwar das Leistungsprinzip geben, nicht aber das Geld.
Marx und Engels verbanden ihre emanzipatorische Idee in einer zwingenden Weise nicht nur mit der Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums, sondern mit der Abschaffung der Warenproduktion, der Geldwirtschaft überhaupt. Im Sozialismus, „wo die Produktion unter wirklicher vorherbestimmter Kontrolle durch die Gesellschaft steht, schafft die Gesellschaft den Zusammenhang zwischen dem Umfang der gesellschaftlichen Arbeitszeit, verwandt auf die Produktion bestimmter Artikel, und dem Umfang des durch diese Artikel zu befriedigenden Bedürfnisses.“[1] Diese Herstellung des direkten Zusammenhangs zwischen der Gebrauchswertstruktur der Bedürfnisse und der Gebrauchswertstruktur der Produktion bedeute aber die „Umgehung des vielgerühmten Werts“, Abschaffung der Ware-Geld-Wirtschaft.
Die Geldverkleidung aller wirtschaftlichen Größen trägt den Verwertungstrieb – das Kapitalmotiv – in sich. Denn Geld unterscheidet sich von sich selbst nur quantitativ; Geld – mehr Geld heißt die allgemeine Formel des Kapitals. Deshalb auch konnte für Marx und Engels gar nicht in Betracht kommen, erst im Kommunismus (der zweiten Phase der kommunistischen Gesellschaft) auf die Ware-Geld-Wirtschaft zu verzichten, sondern bereits in der ersten Phase, den sie als Sozialismus bezeichneten, der noch ganz mit den „Muttermalen“ der alten Gesellschaft behaftet sei. Zu diesen Muttermalen rechneten sie das Leistungsprinzip, die Verteilung nach der Arbeitsleistung. Die Zertifikate, die für die Realisierung des Leistungsprinzips notwendig seien, wären kein Geld, „ebenso wenig wie eine Theaterkarte“, sie „zirkulieren nicht“.
Es ist deshalb nicht verwunderlich; dass es unter Sozialisten immer auch die Auffassung gegeben hat, dass nicht allein die kapitalistischen Verhältnisse, die kapitalistische Ausprägung des Geldsystems, sondern die Geldwirtschaft selber der Urgrund allen Übels sei. Die Abschaffung des Geldes sei die letztlich entscheidende, das Übel wirklich an der Wurzel packende Veränderung, die eine sozial gerechte, humanistische Gesellschaft ermögliche.
So verstand der Philosoph und Zeithistoriker Wolfgang Harich „die Abschaffung der warenproduzierenden Gesellschaft als aktuelle Aufgabe ... die Abschaffung des Geldes ... als eine Lebensnotwendigkeit“.[2] Ebenso der Philosoph und Zukunftsforscher Robert Kurz, der im Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ den zweiten Akt des „Kollapses der Modernisierung“ sieht, der durch die Ware-Geld-Wirtschaft verursacht sei. Der erste Akt dieser „Modernisierung“ sei der wirtschaftliche Niedergang der „dritten Welt“. Der dritte und letzte Akt der Modernisierung werde der wirtschaftliche Zusammenbruch der „ersten Welt“ sein, den Kollaps der Modernisierung vollendend. Alle „drei Welten“ hatten eine fundamentale Gemeinsamkeit, welche die entscheidende Ursache ihres Kollabierens darstelle – „der subjektlose Absolutismus des Geldes, d.h. der abstrakten Arbeit und ihrer betriebswirtschaftlichen Vernutzung.“[3]
Die historischen Erfahrungen, namentlich die im „realen Sozialismus“, haben die Tragfähigkeit des Gesellschaftsmodells ohne Geld, aber mit Leistungsprinzip nicht bestätigt. Im Gegenteil. Der „reale Sozialismus“ ist eher an der Geringschätzung, unzureichenden Entwicklung der Ware-Geld-Beziehungen gescheitert. Die Halbherzigkeit, Inkonsequenz der Handhabung der Ware-Geld-Beziehungen in Theorie und Praxis des „realen Sozialismus“, die bis zu dessen Ende wie Fremdkörper in dieser Gesellschaft verstanden und auch so behandelt wurden; ist auch darauf zurück zu führen, dass die „Politische Ökonomie des Sozialismus“ sich von diesem Marxschen Sozialismus-Modell nicht konsequent hat abwenden können. Den entschiedensten Versuch solcher Abwendung hatte die DDR unter der Ägide Walter Ulbrichts mit dem Konzept von der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, mit dem „neuen Ökonomischen System“ unternommen. Dieses NÖS aber ist niemals praktisch verwirklicht worden.
Der entscheidende Grund für einen Sozialismus mit Geldwirtschaft ist für mich nicht derjenige, mit dem üblicherweise die Notwendigkeit der Marktwirtschaft bewiesen werden soll: Die Bedürfnisse der Menschen seien so vielfältig und so starken Veränderungen unterworfen, dass eine direkte Beziehung zwischen Bedürfnisstruktur einerseits und Produktions- bzw. Leistungsstruktur andererseits nicht hergestellt werden könne. Die hierfür notwendige Koordination aus gesamtwirtschaftlicher Sicht müsse daran scheitern, dass keine Zentrale die Vielfalt dieser Bedürfnisse, Produktionen und Leistungen überschauen, erfassen und in ihren Veränderungen steuern könne. Marx und Engels haben aus den Erfordernissen eines direkten Zusammenhangs von Bedürfnis- und Produktionsstrukturen zwar auch, aber nicht allein die Notwendigkeit zentraler Koordination hergeleitet. Die Erfahrung werde hier eine große Rolle spielen, d.h. eben auch direkte Beziehungen zwischen den wirtschaftenden Einheiten, zwischen Einrichtungen der Produktion und denjenigen, die die Gebrauchsgüter an den Verbraucher bringen.
Es handelt sich bei der Synchronisation zwischen Verbrauchs- und Produktionsstrukturen nicht in erster Linie um ein technisches Problem, das eben die Marktwirtschaft schlechthin am besten zu bewältigen vermöchte. Die entscheidende Ursache für die in den sozialistischen Ländern stets gegenwärtigen „Versorgungsmängel“ lagen nicht in erster Linie in Koordinationsschwächen einer Planwirtschaft. Sie lagen vor allem darin, dass die Interessenstrukturen in dieser Wirtschaft einen Dauermangel, ein beständiges Zurückbleiben des Angebots hinter der zahlungsfähigen Nachfrage zur Folge hatten.
Und die Elastizität der Marktwirtschaften rührt nicht so sehr von ihrer vorzüglichen Koordinationsfähigkeit von Angebot und zahlungsfähiger Nachfrage her, sondern daraus, dass die in ihr wirkende Kapitallogik ein beständiges Überangebot im Verhältnis zur zahlungsfähigen Nachfrage hervorbringt, das die produzierten Güter in die Zirkulationskanäle presst und sie manchmal auch verstopft, allerdings auch die schnelle Rückkopplung der Marktinformationen zur Produktionsebene zu einer Überlebensfrage für die Produzenten macht. Die „Nebenkosten“ dieses Mechanismus sind enorm.
Bedenkt man, welche Rolle heute schon moderne Informations- und Kommunikationstechnologien bei der Synchronisation von Herstellung und Verbrauch spielen – zum Beispiel automatische Verarbeitung der Eingangsinformationen am Kassenterminal des Einzelhandels über die Steuerung einer optimalen Bestandshaltung bis hin zur automatischen Auslösung von Bestellungen beim Grossisten – dann verliert das Argument „technische Bewältigung der Informationsflut“ zugunsten einer marktwirtschaftlichen Regulierung zweifellos an Gewicht.
Marktwirtschaftliche Regulierung ist eben nicht nur die Koordination, Synchronisation arbeitsteiliger wirtschaftlicher Beziehungen, namentlich derjenigen zwischen den Verbrauchs- und Herstellungsstrukturen. Marktwirtschaftliche Regulierung ist durch eine Gesamtheit ökonomischer Beziehungen verursacht, welche den Austausch von Tätigkeiten in Warengestalt, als Ware-Geld-Beziehungen vollzieht und mit bestimmten sozialen Antrieben verbunden ist.
In den sozialistischen Planwirtschaften regierten nicht nur die Geld-Stellvertreter über die realwirtschaftlichen Größen, sondern Stellvertreter der Wert-, Geldkategorien. Das führte zu zahlreichen Erscheinungen „naturalwirtschaftlicher“ Regulierung – Planbeauflagungen im Naturalausdruck, in Tonnen Stahl, Zement usw. Naturalwirtschaftliche Tauschbeziehungen ohne „Dazwischenkunft“ des Geldes – waren, wie sich schließlich erwies, in vieler Hinsicht von wirtschaftlicher Rationalität weiter entfernt als die Marktwirtschaften. Dies lag auch daran, dass die Geldkategorien von den realwirtschaftlichen Vorgängen weiter entfernt waren als die Geldkategorien der Marktwirtschaft. Ich habe der praktizierten Politik widersprochen, die objektiven Kategorien und Prinzipien der Geldwirtschaft (Gewinn, Preis, Kredit ... aber auch Rentabilität, „Eigenerwirtschaftung“..) durch eine Vielzahl subjektivistisch begründeter ökonomischer Hebel zu ersetzen, „ohne daß an der Wirkungsweise der grundlegenden Prinzipien und Kategorien der Wirtschaftlichen Rechnungsführung (vor allem Vervollkommnung und höhere Wirksamkeit des Prinzips der Eigenerwirtschaftung, der Industriepreisbildung) etwas wesentliches geändert werden soll. ... (Dies müsse) dazu führen, daß sie immer mehr von einem wenig durchschaubaren Gestrüpp oft einander durchkreuzender ökonomischer Regelungen überwuchert würden. Letztlich liefen alle derartigen Versuche darauf hinaus, sich nicht an den grundlegenden Prinzipien und Kategorien der Wirtschaftlichen Rechnungsführung, an ihren ‚Originalen’ sozusagen, zu orientieren, sondern an ‚Surrogaten’ oder ‚Stellvertretern’. Dagegen spricht, daß diese Stellvertreter von vornherein nur aus subjektiven Überlegungen entsprungen sind, während den objektiven Kategorien und Prinzipien auch objektive Bestimmungsfaktoren zugrunde liegen.“[4] Eine Besserung aber ist zu DDR-Zeiten in diesem Punkte niemals eingetreten, im Gegenteil.
Die Ware-Geld-Beziehungen sind ein hochwirksames Mittel wirtschaftlicher Rationalisierung, eben weil sie alle vielgestaltigen und dynamischen wirtschaftlichen Vorgänge und Größen bis in alle noch so feinen Verästelungen hinein auf einen Nenner zu bringen, gegeneinander abzuwägen – dieser Nenner ist eben die Geldware, das Geld als Maß der Werte und Maßstab der Preise – und die jeweils beste Variante zu ermitteln und anzustreben vermögen. Dies ist, von allen anderen Bedingungen hier abgesehen, die Variante mit dem höchsten Gewinn bzw. Profit. In all diesen Punkten haben sich die bisherigen Planwirtschaften als unterlegen erwiesen: Weder vermochten sie neue soziale Antriebe hervorzubringen, die der Legierung von äußerem Konkurrenzzwang und innerem Profitmotiv gleichwertig oder gar überlegen waren, noch haben sie ordentliche Wirtschaftlichkeitsrechnungen ermöglicht.
Eine Abschaffung des Geldes, damit auch der Marktwirtschaft, eben eine über das ganze Geflecht arbeitsteiliger Beziehungen vermittelte direkte Synchronisation von Herstellungs- und Verbrauchsstrukturen, wäre an eine entscheidende Voraussetzung gebunden, die Marx auch deutlich benannt hat: Ein im Verhältnis zu den Bedürfnissen vorhandener Überfluss an Gütern und Leistungen; dies bedeutet natürlich nicht Vergeudung, wohl aber die Vermeidung jeglichen Mangels im Verhältnis zu den vorhandenen Bedürfnissen. Dieser „Überfluss“ wiederum hat eine zweieinige Voraussetzung: Ein im Verhältnis zu den Bedürfnissen hohes Entwicklungsniveau der Produktivkräfte und im Verhältnis zum Produktivkraftniveau „vernünftige“ Bedürfnisse. Alles in allem: Ein sehr hohes Niveau materieller und geistiger Produktivkräfte und eine andere Lebensweise, eine andere Lebenskultur als die heutige. Eine solche Lebenskultur, die materiellen Reichtum und seine Mehrung auf keinen Fall mehr als wichtigsten Gradmesser für wirkliche Bereicherung menschlichen Lebens versteht und praktiziert. Ich vermag auch heute noch keine anderen Voraussetzungen für die Abschaffung der Geldwirtschaft zu erkennen.
Heinz Dieterich plädiert nicht für eine Abschaffung der Wertrechnung, sondern für seine direkte Ermittlung, für eine objektive Wertbestimmung. „Die Notwendigkeit, den objektiven Wert zu bestimmen, so wie es die klassische Ökonomie forderte, ist die conditio sine qua non des Sozialismus, dessen fundamentale Forderungen a) Soziale Gerechtigkeit und b) reale Partizipative Demokratie sind.“ (145) In der kapitalistischen Marktwirtschaft werde der Preis durch die Macht der wirtschaftlichen Agenten bestimmt. Der Stärkere zwingt dem Schwächeren den Preis auf. Die bürgerliche Ökonomie mystifiziere dies mittels dreier Ideologismen: Dem „Gesetz von Angebot und Nachfrage“, der Theorie vom Grenznutzen, und durch die subjektive Wertlehre.
In einer sozialistischen Gesellschaft gäbe es erstens eine Bestimmung des objektiven Wertes und zweitens einen Austausch zu objektiven Werten. „Das erste löst sich mit der fortgeschrittenen Mathematik, der Informatik und der Computerkapazität, das zweite mit der Partizipativen Demokratie.“ (145) Die bürgerliche Wert- und Preisbestimmung sei subjektiv, die sozialistische objektiv.
Der Bezug auf die Marxsche Wertlehre ist ein fatales Missverständnis, eine Fehldeutung. Der Wert ist nach Marx ein gesellschaftliches Verhältnis. Eine direkte Wertbestimmung durch Ermittlung, Quantifizierung der Wertsubstanz, der Arbeitsmengen, ist unmöglich. Solche Versuche widersprechen dem Wesen des Werts. Sichtbare Gestalt gewinnt der Wert einer Ware in den Mengen von Gebrauchswert einer anderen Ware, im Tauschwert, bei entwickelter Warenwirtschaft im Geldausdruck, im Preis. Eine direkte Quantifizierung des Wertes ist unmöglich. Heinz Dieterich hätte sich an Wittib Hurtig erinnern sollen. „Die Wertgegenständlichkeit der Waren unterscheidet sich dadurch von der Wittib Hurtig, dass man nicht weiß, wo sie zu haben ist. Im graden Gegenteil zur sinnlich groben Gegenständlichkeit der Warenkörper geht kein Atom Naturstoff in ihre Wertgegenständlichkeit ein. Man mag daher eine einzelne Ware drehen und wenden wie man will, sie bleibt unfassbar als Wertding … (weil) ihre Wertgegenständlichkeit rein gesellschaftlich ist.“[5]
Auch Heinz Dieterich und Arno Peters verweisen darauf, dass nach Marx die die Wertgröße konstituierende Arbeitsmenge nicht einfach im „natürlichen Maß“ der lebendigen Arbeit, in Zeit, bestimmt werden kann. Es sind zumindest drei „Umrechnungen“ nötig:
1. Der Aufwand an vergegenständlichter, an „toter“, in den Vorstufen geleisteter Arbeit, enthalten in Material und Maschinerie, in bezogener Energie, muss in Aufwand lebendiger Arbeit umgerechnet werden;
2. Die Qualitäten der Arbeit – Bildung, Qualifikation, Verantwortung, Anspannung, körperliche Anstrengung, gesundheitsrelevante Umstände – müssen, in Worten von Marx, durch Umrechnung komplizierter in Einheiten einfacher Arbeit berücksichtigt werden.
3. Natürlich können nicht die individuellen Aufwendungen verschiedener Produzenten einer gleichen Ware als wertbestimmend angesehen werden, sondern der gesellschaftlich notwendige Aufwand. Den kann man sich auch nicht als „gewogenes Mittel“ der Aufwendungen aller Produzenten vorstellen, sondern als „Grenzaufwand“, als Aufwand des Produzenten mit dem höchsten Aufwand, dessen Ware aber für die Befriedigung zahlungsfähiger Nachfrage noch erforderlich ist.
Was könnte die „moderne Informationskapazität“ nun leisten? Das Problem Nummer 1 könnte sie bewältigen. Die Vielzahl von Vorstufen und ihre Verzweigungen wären in der Tat keine Schwierigkeit mehr. Problem Nummer 3 wäre möglicherweise lösbar; ich kann das nicht beurteilen. Sicher bin ich mir aber, dass Problem Nummer 2 nicht lösbar ist. Sich auf den Versuch einzulassen, objektiv „richtige“ und damit auch gerechte Koeffizienten der Umrechnung komplizierter in Einheiten einfacher Arbeit zu suchen, hieße, sich in ein undurchdringliches Dickicht subjektivistischer Schätzungen zu begeben, aus dem keine Auswege herausführen. Das gilt für jeden einzelnen der angeführten Komponenten komplizierter Arbeit. Damit aber fällt die ganze Konstruktion in sich zusammen. Dass Heinz Dieterich unterschiedliche gesundheitliche Belastungen außerhalb, neben seiner „Wertbestimmung“ berücksichtigen will, durch besondere „Gratifikationen“, wirft drei Fragen auf: Wieso gerade das? Was ist dann der „Wert“ noch wert? Ist das der Zipfel einer Ahnung, dass es sich hier um einen Irrweg handelt?
Am deutlichsten wird die Unmöglichkeit eines direkten Messens des durch die lebendige Arbeit geschaffenen Wertes sichtbar in der Unmöglichkeit, objektive Maßstäbe, Skalen für die Umrechnung komplizierter in einfache Arbeit zu finden. Auf diesem Wege ist Verteilungsgerechtigkeit nicht zu definieren. Die Geldwirtschaft dagegen liefert durchaus die Werkzeuge, um sich der Verteilungsgerechtigkeit zu nähern. Dass eine entfesselte Marktwirtschaft von solcher Gerechtigkeit immer weiter wegführt, ist eine andere Sache. Dass die Einkommensrelation zwischen dem Facharbeiter in der Industrie und dem Generaldirektor eines Kombinats in der DDR etwa 1:4 bis 1:5 betrug, hat die Antriebskräfte zweifellos geschwächt. Diese Differenzierung war viel zu gering. Dass die Einkommensrelation zwischen Industriearbeitern und den Spitzenmanagern der Konzerne in der BRD 1:300, ja 1:1000 beträgt, hat mit Leistungsunterschieden nichts mehr zu tun. Das ist einfach Kapitalismus. Welche Relation wäre denn gerecht? Es gibt nur einen Weg, sich der Antwort auf diese Frage zu nähern: Die aber hat mit Angebot und Nachfrage zu tun. Gerecht wären Einkommensrelationen, die einen genügenden Anreiz dafür schaffen, dass sich genügend Leute für die jeweils notwendigen Tätigkeiten bereit finden. Theoretisch ist dies ein präzises, völlig ausreichendes Kriterium. Der Teufel steckt natürlich auch hier im Konkreten.
Die Äußerungen Heinz Dieterichs über die Ursachen für das Scheitern des „realsozialistischen“ Versuchs sind in keiner Weise überzeugend. Es hätte eben keinen äquivalenten Austausch gegeben, meint er. Deshalb sei auch die Ausbeutung nicht wirklich beseitigt worden. Es sind Behauptungen, die nicht einmal erläutert, geschweige denn bewiesen wurden.
Die Überwindung der Geldwirtschaft, der „Wertrechnung“ durch eine Zeitrechnung im Sozialismus ist immer wieder erwogen worden. Sie folgt unvermeidlich der Marxschen Idee, wonach es im Sozialismus kein Geld geben solle, die „Wertrechnung“ aber eigentlich noch wichtiger werde. Die „Übel des Geldes“ sollten aus der Welt geschafft, aber Leistungsprinzip, „Äquivalenzprinzip“ erhalten werden. Eben weil die Zurückführung der komplizierten Arbeit in Einheiten einfacher Arbeit ohne Geldrechnung nicht zu bewältigen ist, wird auf einfache Zeitrechnung ausgewichen, in der eine Arbeitsstunde unabhängig von den Qualitäten der Arbeit – Qualifikation, körperliche Anspannung, Verantwortung u.a. – eben als eine Arbeitsstunde zählt.
In der DDR ist dieses Problem Mitte der sechziger Jahre lebhaft diskutiert worden. Vor allem Professor Ottmar Lendle trug diese Idee der Ablösung der „Wertrechnung“ durch eine Zeitrechnung vor, sekundiert von dem damals sehr bekannten und geschätzten Ökonomen Fritz Behrens. Meinem in Heft 7/1965 der „Einheit“ veröffentlichten Artikel „Wertrechnung oder Zeitrechnung?“ folgte in einem Dutzend Beiträge die lebhafteste Debatte, die in dieser Zeitschrift je geführt wurde. Mir selber trug sie die herbste Kritik ein, die jemals öffentlich an mir geübt wurde. „Wenn Genosse Nick … ausruft, ‚Die Stunde der Zeitrechnung hat noch nicht geschlagen’, so kann man ihm nur antworten, dass taube Ohren selbst den Donner nicht vernehmen!“ schrieb Fritz Behrens in der „Einheit“ 11/1965.
Ich bin auch heute noch der Meinung, dass die Stunde der Zeitrechnung noch nicht geschlagen hat, auch nicht für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Zeitrechnung funktioniert nur plausibel, wenn eine Stunde beliebiger Arbeit eben als eine Stunde veranschlagt wird. So wird das in den sympathischen „Tauschringen“ praktisch gehandhabt. Was sie so sympathisch macht, ist eben auch, dass eine Rechtsanwaltsstunde und eine Stunde Babysitting gleich bewertet werden. Eine Volkswirtschaft, die das Leistungsprinzip akzeptieren will, kann solche Rechnung nicht akzeptieren. Oder anders: Leistungsprinzip und Zeitrechnung sind unvereinbar. Die wichtigste Frage, die das Buch Heinz Dieterichs offen lässt, lautet für mich: Was wäre eigentlich gewonnen, wenn seine Ideen von der „Äquivalenzökonomie“ in der von ihm vorgestellten Weise verwirklicht werden würde? An mehr Gerechtigkeit gar nichts, im Gegenteil.
Die Zeit der Zeitrechnung, des Abschieds vom Äquivalenzprinzips, aber nicht von ökonomischer Rationalität, wird kommen. Für alle, die in der heute üblichen Gleichsetzung des Kommunismus mit Stalin, Pol Pot, Erich Honecker die Keule erkennen, den Kommunismus im Marxschen Verständnis zu erschlagen, steht zweifelsfrei fest: Die Zukunft kann nur einer Gesellschaft gehören, in der die Güter nicht nach dem Äquivalenzprinzip, sondern nach den Bedürfnissen verteilt werden. Das kann nur eine Gesellschaft mit viel höherer allgemeiner Produktivität sein, nicht nur eine mit viel größerer Leistungsfähigkeit des Informationssystems. Aber auch eine Gesellschaft, in welcher nicht nur in der Wirtschaft, sondern im Verständnis vom guten und besseren Leben die Diktatur des „Haben“ überwunden ist. Ohne Vernunft der Bedürfnisse kann es auch keine Vernunft der Wirtschaft und keine vernünftige Gesellschaft geben.
[1] Karl Marx, Das Kapital, Dritter Band, MEW Bd. 25, S. 197.
[2] Wochenpost Nr. 20/1992, S. 10
[3] Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung, Frankfurt/M. 1992, S. 53.
[4] Einheit, Heft 12/1973, S. 1418.
[5] Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, MEW Bd. 23, S. 62.