1.
Heute ist es en vogue, fest im Realen verwurzelt, und gilt es als Stigma, realitätsfremd zu sein. Doch das ist ein phantasmagorischer Wahn. Denn wie heißt es bei Hegel? Was wirklich ist, muß notwendig sein. Was nicht mehr notwendig ist, existiert, ist aber nicht mehr real. Engels sollte dies später so kommentieren: „Nun ist aber die Wirklichkeit nach Hegel keineswegs ein Attribut, das einer gegebnen gesellschaftlichen oder politischen Sachlage unter allen Umständen und zu allen Zeiten zukommt. Im Gegenteil. Die römische Republik war wirklich, aber das sie verdrängende römische Kaiserreich auch. Die französische Monarchie war 1789 so unwirklich geworden, d.h., so aller Notwendigkeit beraubt, so unvernünftig, daß sie vernichtet werden mußte durch die große Revolution ...“[1] – Nun gilt dies heute nicht minder für das post-moderne Regime. Das Warensystem ist dabei, in die Unwirklichkeit abzugleiten, weil es bar aller Notwendigkeit ist.
2.
Notwendig ist es aber nicht mehr, weil die Bourgeoisie ihre Aufgabe glänzend erfüllt hat. Und so bleibt ihr heute nichts mehr zu tun. Wie ein Gerüst, das, wenn der Bau einmal fertig, funktionslos ist, nur mehr stört, so stört die Bourgeoisie, und die Form der Gesellschaft, die sie nach ihrem Bild aufgebaut hat, wird zu einem Klotz am Bein der Geschichte. „Die Bourgeoisie“, sagen Engels und Marx, „hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Erdteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.“[2] Beide konnten indes selbst nur ahnen (und Marx hat es tatsächlich geahnt), daß dies nur der Ausgangspunkt war. Seitdem hat sich die Produktivkraft der Arbeit beinahe ins Absolute gesteigert und mit ihr der potentielle Reichtum der Welt: Turbinen, Kraftwerke, Flugzeuge, Computer, Telekommunikationssysteme, die die Welt wie ein globales Netzwerk umspannen, automatisierte Fabriken, Roboterarme und was es dergleichen noch mehr gibt, sind kein Baconscher Traum, sie sind Realität.
Heute hat der Produktionsapparat Dimensionen erreicht, wie sie die Vorwelt kaum zu erträumen gewagt hat. In der Tat hat der Mangel als Schicksal dem Überfluß an dem, was notwendig ist, die Bahn freigemacht.
3.
Doch diese Bahn ist aus anderen Gründen blockiert: Während die Produktivkraft der Arbeit sich dem Punkt ständig nähert, wo die Produktion zur Natur wird, da sie fast automatisch erfolgt, beharrt die Gesellschaft störrisch darauf, dem Wert nach wie vor wie einem Götzen zu opfern. Sie unterwirft den Gebrauchswert, auf den alles ankommt, der Verwertung des Werts, für die der Gebrauchswert zu einem Vorwand verkam. Wie ein der Perversion Subsumierter, für den die Erfüllung an eine Handlung gebunden, die mit dem Zweck nichts zu tun hat, so muß der Wert sich verwerten, damit der Gebrauchswert produziert werden kann. Die Verwertung des Werts wirft sich zum Kriterium auf, das bestimmt, was, wie, wo und wozu hervorgebracht wird.
4.
Das Resultat ist diesem Prüfstein gemäß: Produziert wird, wo es am billigsten ist, so daß die Löhne überall sinken. Während die einen arbeitslos sind, ist man bestrebt, die Arbeitszeit derer, die noch beschäftigt sind, zu verlängern. Der Reichtum der wenigen wird erkauft mit der Misere der vielen. Während die Peripherie des Systems dem Zentrum der Welt tatsächlich total subsumiert ist, führt man nach wie vor Kriege, aus dem alleinigen Grund, um sich selbst zu versichern, daß man die Welt dominiert. Und nicht zuletzt wird in einem sinnlosen Taumel die Verwüstung der natürlichen Umwelt mit Akribie fortgesetzt. „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“[3] Prägnant formuliert und auf den Punkt gebracht: „Die Irrationalität des Zwecks negiert alle Verbesserungen der Mittel. Rationalität selbst wird zu etwas Irrationalem.“[4]
5.
Doch dem nicht genug. Unterliegt man auf der einen Seite dem lachhaften Wahn, „freier Bürger“ zu sein, der mittels Wahlen seine Welt kontrolliert, ist man tatsächlich auf der anderen Seite den „sachlichen Mächten“ oder den „übermächtigen Sachen“ total unterworfen. „Diese Art der Freiheit (die der Konkurrenz, E. N.) ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen annehmen.“[5] Und an anderer Stelle sagt Marx: „Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“[6]
6.
Das alles liegt offen zutage. Und dennoch: die Hegemonie der Bewußtlosigkeit könnte größer nicht sein. Der post-moderne Diskurs bewegt sich auf unterster Stufe: Alles, was man zu hören bekommt, ist, daß wir uns also mit dem, was gegeben, und mit der Form, wie es ist, abfinden müssen. Die Kritik coram publico ist zum Lamentieren verkommen oder zur konstruktiven Kritik, die den engen Gesichtskreis des aktuellen Systems nicht zu überschreiten vermag und es auch gar nicht versucht. Nicht vorwärts und auch nicht zurück. Denn hatte es früher für die Bourgeoisie immerhin noch eine Geschichte gegeben (die indes mit ihrem Triumph plötzlich abbrechen sollte), so will sie heute von ihr ganz und gar nichts mehr wissen: sie kennt nur noch Gegenwart, keine Geschichte, nur noch Zustände, keinen Prozeß. Und sie will in der Gegenwart aufgehen: „Die Urformel der Postmoderne ist das, was Goethe als Ursünde begreift. Also zum Augenblick zu sagen: ‚Verweile doch! Du bist so schön.’“[7]
7.
Mit einem Wort: das kritische Denken verschwand oder genauer: fristet sein Dasein im subliminalen Bereich. Die Aufgabe ist, es wieder faßbar zu machen, die Aufgabe ist, ihm erneut Präsenz zu verleihen. Wie das? Indem man die versprengten Kräfte radikaler Kritik in einem Zusammenschluß bündelt, in einem informellen „Verein“, dessen Funktion allein darin bestünde, die Kritik am System zu befördern, denn die Kritik ist der erste Nagel im Sarg des verblendeten Wahns: „Mit der Einsicht“, so Marx, „in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände.“[8]
Daß dies nur dann machbar ist, wenn viele über alle Grenzen hinweg kooperieren, ist klar. Quantität schlägt in Qualität um. Voraussetzung ist freilich, daß man sich auf das, worauf es tatsächlich ankommt, beschränkt. Fruchtlose Debatten über die Form der Gesellschaft, die die bürgerliche ablösen soll, über den Weg, um dorthin zu gelangen, darüber, wie man die DRR oder die Sowjetunion einschätzen muß, oder darüber, ob die Atomkraft ein Segen ist oder nicht, usw., sind von vornherein auszuschließen. In den Brennpunkt ist die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft zu rücken: die Kritik am Privateigentum und am Warencharakter der Welt.
8.
Der wahre Grund aber, warum das kritische Denken schon seit geraumer Zeit ein Schattendasein fristet, ist kein anderer als der, daß der Protagonist der prospektiven Geschichte, dessen Performance ihm letzten Endes den sex-appeal verlieh, assimiliert und völlig in das System integriert ist. Was daher früher die besondere Anziehungskraft ausgemacht hat – das Denken einer Klasse zu sein, die das Potential in sich trug, zum Subjekt der Geschichte zu werden –, ist heute im Gegenteil ein Handicap schlechthin: Wer sich auf eine untergehende Klasse bezieht, die, bevor sie verschwindet, zum Popanz verkommt, darf freilich nicht hoffen, daß man ihn ernst nimmt. Noch schlimmer allerdings steht es um das, was als Protest übrigblieb: Darf es verwundern, wenn die Bourgeoisie angesichts ihrer Macht (und diese ist real)[9] insgeheim die Spontaneität, die „Autonomie“, das Sektierertum, Happenings, Krawalle oder das Debattieren auf Foren verlacht und sich mitnichten bedroht fühlt? Solange die Kritik keine Distanz dazu findet, wird sie der Makel, out of fashion zu sein, wie ein Schatten verfolgen, und sie wird, anstatt daß sie aus der Defensive herauskommt, in ihr für immer eingesargt sein.
Was früher ihre Stärke war – ein Kraftquell so wie für Antaios die Erde –, ist jetzt eine Fessel: die „Erde“ ist zum Sumpf geworden, in den man versinkt. Wie immer man es wendet und dreht: Man kommt nicht umhin, mit der Tradition entschieden zu brechen. Die Kritik hat sich auf ihre eigenen Füße zu stellen. Sie kann nicht nur, sie muß aus eigener Machtvollkommenheit operieren.
9.
Dies ist so blauäugig nicht, wie es auf den ersten Blick aussehen mag. Denn das System selbst übernimmt die Funktion der opponierenden Klasse. Indem es die Produktivkraft bis zum äußersten steigert, kritisiert es sich selbst auf praktische Weise, höhlt es sich aus und führt einen Zustand herbei, wo es zuerst darauf ankommt, ihm das Bewußtsein zu geben, daß es schon tot ist. Die Kritik, weit davon entfernt, abgehoben im luftleeren Raum zu flottieren, schlüpft in die Rolle, das Denken des bewußtlosen Demiurgen zu sein – das Denken einer Tendenz, die das System schon innerhalb seiner eigenen Grenzen negiert. So hat man es nicht mehr mit einer Substanz, man hat es mit einer Fassade zu tun. Wie immer schließlich diese auch einstürzen mag – und man weiß, daß Untote hartnäckig sind –, dem Denken kommt ohne jeden Zweifel in dieser Abbruchgeschichte ein autonomer Part zu.
10.
Der Vorschlag ist also die Gründung eines informellen „Vereins“, dessen Vorbild man bei den philosophes finden könnte und dessen Leitspruch Marx exakt formuliert hat: Die Kritik „ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will. Denn der Geist jener Zustände ist widerlegt. An und für sich sind sie keine denkwürdigen Objekte, sondern ebenso verächtliche als verachtete Existenzen. Die Kritik für sich bedarf nicht der Selbstverständigung mit diesem Gegenstand, denn sie ist mit ihm im reinen. Sie gibt sich nicht mehr als Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel. Ihr wesentliches Pathos ist die Indignation, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation.“[10] Und ihr Objekt ist – die Unwirklichkeit.
[1] F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW 21, S. 266.
[2] K. Marx/ F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 467.
[3] K. Marx, Das Kapital I, in: MEW 23, S. 529f.
[4] P. Baran/ P. Sweezy, Monopolkapital, Suhrkamp (1973), S. 347.
[5] K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 551.
[6] K. Marx, Das Kapital I, in: MEW 23, S. 89.
[7] H. Müller, Zur Lage der Nation, Rotbuch (1990), S. 22.
[8] K. Marx, Brief an Ludwig Kugelmann vom 11. Juli 1868, in: MEW 32, S. 552.
[9] Um hier nur eine Andeutung zu machen: „The biggest companies’ annual sales now dwarf the annual GDP of most countries in the world.“ R. Went, The Enigma of Globalization, Routledge, 2002, S. 100.
[10] K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, S. 380.