Berichte

Ein neuer SDS?

Frankfurt/M., 19.-21. Januar 2007

März 2007

Auf Einladung des Die Linke.-Hochschulgruppenetzwerks diskutierten mehr als 500 Teilnehmer aus über 40 Städten in Workshops und Podiumsveranstaltungen über kritische Wissenschaft, Bildungs- und Hochschulpolitik sowie über linke Strategien gegen den Neoliberalismus, über Globalisierung und Widerstand. Das Programm bot Podiumsveranstaltungen und Workshops. Themen waren unter anderem das Verhältnis der Linken zum Parlamentarismus, die Rolle von Studierenden und Intellektuellen im gegenwärtigen Kapitalismus, der „neue“ kriegerische US-Imperialismus, der G8-Gipfel im Juni dieses Jahres, der Klassenbegriff, die Politik sozialistischer/ sozialdemokratischer Parteien und Präsidenten Lateinamerikas. Nicht zuletzt ging es auf dem Kongress um die Frage, welche Funktion ein sozialistischer Hochschulverband im Neugründungsprozess der Linken haben könnte.

Auf dem Eröffnungspodium zum Thema „Generation Précaire – Die Linke im Zeitalter der Unsicherheit“ stellte Klaus Dörre fest, dass es trotz der medialen Aufmerksamkeit im letzten Jahr noch keine lange Debatte über das „Prekariat“ in der BRD gegeben hat. Dörre definierte das Prekariat als die „Ausbreitung unsicherer Arbeitsverhältnisse“ in deren Folge die Marktmechanismen und -krisen der „Enteignungsökonomie“ an die Beschäftigten weitergegeben werden. Der Vorsitzende der Bundestagsfraktion Die Linke. Oskar Lafontaine sah den Kampf gegen die „Herrschaftsform Prekarität“ als Teil des Kampfes gegen den Neoliberalismus, dessen kulturelle Hegemonie durchbrochen werden müsse. Er forderte, dass die Linke ihre Sprache wieder finden und von Klassengesellschaft und Klassenkampf sprechen sollte. Lafontaine trat außerdem für ein klassisches Verständnis von Demokratie nach Luciano Canfora ein, wonach die Regierungsgeschäfte so geführt werden müssen, dass die Mehrheit der Bevölkerung und ihre Interessen vertreten werden. Im Parlament sei das Gegenteil der Fall, die große Mehrheit des Bundestags stimme regelmäßig gegen die Mehrheit des Volkes. Auf die Frage was die Linke tun könnte, um die von Prekarisierung betroffenen Menschen zu organisieren, plädierte Lafontaine für die Stärkung der Kampfbereitschaft von bestehenden gesellschaftlichen Organisationen, konkret stehe die Verankerung der Linken in den Gewerkschaften auf der Tagesordnung. In diesem Zusammenhang erinnerte er an die Forderung nach dem Recht auf den politischen Streik als direkte Form der Demokratie. Die Prekarisierung bringe das Problem mit sich, so die Ver.di-Bezirksleiterin von Baden-Württemberg, Sybille Stamm, dass gewerkschaftliche Durchsetzungsmacht schwinde und nach unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen segmentierte Belegschaften Schwierigkeiten haben, ihre Interessen zu verteidigen. Stamm warb für mehr Unterstützung für die Gewerkschaften von den Intellektuellen und für eine Erneuerung des „Bündnisses der Arbeiterklasse mit der Intelligenz“. Katja Kipping, stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei.PDS, forderte dagegen die Verteidigung des Sozialstaats mit einem neuen Gesellschaftsvertrag zu verbinden, welcher die Teilhabe aller Menschen jenseits von Erwerbsarbeit in Form eines erweiterten Solidaritätsprinzips ermöglichen solle.

Auch die Debatte über die erneute Regierungsbeteiligung der Linkspartei.PDS in Berlin war Thema. Oskar Lafontaine bezeichnete die geplante Privatisierung der Sparkassen als „Lackmustest“ des rot-roten Senats. Thomas Sablowski (Zeitschrift Prokla) riet in dem Crash-Kurs „Hegemonie, Alltagsverstand, linke Organisation – Eine Einführung in das Denken Antonio Gramscis“, aus der Regierungsbeteiligung keine Prinzipienfrage zu machen, sehr wohl aber Kriterien dafür festzulegen. Gramsci sei zwar ein Gegner der anarchistischen/linkssektiererischen Position des Wahlboykotts gewesen. Gleichzeitig könne er nicht als Rechtfertigungsgrund für jede Form der Regierungsbeteiligung herhalten. Das Bewertungskriterium für eine Regierungsbeteiligung sei, ob sie auf längere Sicht die Hegemonie nach links verschieben könne oder nicht. Man müsse nicht nur das bessere Argument haben, da sich das in einer Zivilgesellschaft, die durch ihren Herrschaftscharakter keine gleichberechtigte Diskussion zulasse, nicht unbedingt durchsetze. Zudem müsse man auch über die Mittel verfügen, die Menschen zu erreichen.

Frank Deppe diskutierte mit Stephan Lessenich über die Aktualität des Klassenbegriffs vor dem Hintergrund der Klassenspaltung in der BRD. Lessenich verwahrte sich gegen einen emphatischen Klassenbegriff, da neue Formen der Ungleichheit existierten, Deppe bestand auf einem analytischen Klassenbegriff, der die Frage nach sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit in den Vordergrund stellt. Gegenwärtig sei ein gewisses „comeback“ der (marxistischen) Klassenanalyse erkennbar, wobei es die Aufgabe junger Intellektueller sei, ihr Wissen über die Klassengesellschaft gesellschaftlich wirksam werden zu lassen und Alternativen zur bestehenden Klassengesellschaft zu entwickeln und anzubieten. Als ehemaliges Vorstandsmitglied des früheren SDS gab er so einem neu zu gründenden sozialistischen Studierendenverband die Aufgabe mit auf den Weg, inhaltlich alternative Arbeit voranzubringen sowie neue Formen disziplinierter politischer Arbeit zu entwickeln.

In einem Workshop von Morus Markard wurde der Begriff der Eigenverantwortung als zynische Psychologisierung entlarvt. Man verwechsle, so Markard, die subjektive Beschränktheit mit den objektiven Beschränkungen z.B. eines Hartz IV-Beziehers. Auch im Zuge der Hochschulprivatisierung werden die Studierenden beschränkt, praxisorientiert – was nur marktorientiert bedeutet – zu studieren, womit das, was nach Sartre den Wissenschaftler vom Intellektuellen unterscheidet, nämlich, über sein Fach hinaus zu denken, verloren geht. Markard zitierte den „alten Reaktionär“ Nietzsche, der auch schon wusste, dass allgemeine Bildung „nur ein Vorstadium des Communismus“ ist.

Auf der Auftaktveranstaltung am Samstag sprach Alex Demirovic über die Rolle von Intellektuellen und Studierenden. Unter Bezugnahme auf Gramscis Intellektuellen-Begriff ging Demirovic von einer intellektuellen Verantwortung linker bzw. sozialistischer Studierender aus, in ihren Lebens- und Arbeitsbereichen die Möglichkeiten freier theoretisch-intellektueller Tätigkeiten zu erkämpfen, um Alternativen gegen die neoliberale Hegemonie zu entwickeln und zu diskutieren. Die in Universitäten erzeugte „produktive Verunsicherung“ durch die Vielfalt des Wissens dürfe nicht abschrecken, sondern sollte als Herausforderung begriffen werden. Stefan Schmalz stellte im Workshop „Alternativen zum Neoliberalismus – Chavez’ ‚Sozialismus im 21. Jahrhundert’ als Modell“ die Politik Hugo Chavez’ in Venezuela vor und rekapitulierte die Wahlerfolge linker bzw. sozialistischer/sozialdemokratischer Parteien und Präsidenten in Lateinamerika in den letzten 5 Jahren. Abgesehen von der Debatte über die Frage, wie die Entwicklung in Lateinamerika insgesamt zu bewerten sei, waren sich die TeilnehmerInnen des Workshops einig, dass der dortige Prozess einer klaren Unterstützung der europäischen Linken bedarf. So solle auch ein zukünftiger sozialistischer Hochschulverband mit Blick auf die dortige Entwicklung internationalistisch orientiert sein.

Der Kongress war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Neugründung eines linken Hochschulverbands im Umfeld des Parteineubildungsprozesses von Linkspartei und WASG. Unisono begrüßten kritische Intellektuelle wie Politiker aus den beiden Parteien dieses Vorhaben. Bereits am Freitag hatte der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Gehrcke an die Geschichte der Studierendenverbände SDS, MSB Spartakus und SHB erinnert. In diesem Kontext hob er nicht zuletzt das MSB-Konzept der „gewerkschaftlichen Orientierung“ hervor, wonach es gelte Interessenpolitik von Studierenden mit einem gesamtgesellschaftlichen Mandat, der Auseinandersetzung mit gewerkschaftlichen Fragen und theoretischen Reflexionen über die soziale Rolle der Intelligenz im gegenwärtigen Kapitalismus zu verbinden. Klaus Dörre skizzierte seine Erwartungen an einen sozialistischen Hochschulverband als Ort der Organisation von Debatten und Lesezirkeln, um von einer tief greifenden Analyse gesellschaftlicher Zustände in den politischen Auseinandersetzungen zuspitzen zu können. (Linke) Hochschulpolitik ist Gesellschaftspolitik, und muss als solche die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in Augenschein nehmen und kritisieren. Und Oskar Lafontaine wagte den historischen Vergleich, als er dem begeisterten Publikum zurief, er würde sich wünschen, dass an den Universitäten wieder so etwas wie ein SDS entstünde. Insgesamt machte die Veranstaltung Mut, dass 36 Jahre nach der Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), die Zeit für einen neuen großen sozialistischen und demokratischen Studierendenverband der Linken gekommen ist.