Die Frage nach der Funktion und der Verantwortung des Intellektuellen ist eine der klassischen Fragen des Marxismus. Schon in der Formulierung aus der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, wonach die „Philosophie im Proletariat ihre materiellen“ und das „Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen“ finde (vgl. MEW 1: 391) wird die soziale Befreiung der Menschen als ein gleichermaßen intellektueller wie politischer und materieller Vorgang gedacht. An diesen Zusammenhang knüpfen auch die Intellektuellentheorien des zwanzigsten Jahrhunderts an, wie sie etwa von Jean Paul Sartre und von Antonio Gramsci – dessen Tod sich im April 2007 zum 70. Mal jährte – formuliert wurden. Wie stellt sich diese Frage im heutigen Neoliberalismus? Die Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen treibt zum einen die Auflösung einer einheitlichen Kampf- und Erfahrungskultur des Proletariats weiter voran. Zum anderen hat sich auch die Stellung des Intellektuellen und der Intelligenz als einer sozialen Massenschicht mit den Umbrüchen in Arbeit und Lebensweise, Kultur und Medien verändert. Dem soll in diesem Heft nachgegangen werden.
Ausgehend von den Konzeptionen Gramscis und Sartres entwickelt David Salomon eine historische Typologie des Intellektuellen. Das Auftreten eines Intellektuellen der Arbeiterklasse im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wird als ein Produkt des Scheiterns des idealistischen Avantgardismus der Aufklärung analysiert. In der Gegenwart bestehe die Aufgabe eines Intellektuellen der sozialen Frage darin, jene Kräfte in der Gesellschaft zu erkennen und zu befördern, die über sie hinausweisen und zu ihrer Überwindung beitragen können.
Lothar Peter untersucht den politischen Stellungswechsel von Intellektuellen in Frankreich, dem klassischen Land intellektuellen Engagements, anhand ihrer Parteinahme im französischen Wahlkampf. Einst ultralinke Maoisten wie André Glucksmann mutierten zu „medialen Kronzeugen gegen die Linke“, die nun sogar zur Wahl Sarkozys aufgerufen haben. Peter fragt auch nach den Gründen, warum das traditionelle Band zwischen den französischen Intellektuellen und der„linken Linken“, die nicht in der Lage war, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen, weitgehend zerrissen ist. Ausgehend von neoliberalen Hochschulreformen in Deutschland stellt Nele Hirsch die Frage nach den Perspektiven einer linken Hochschulpolitik, die sich gleichermaßen als Kampf um offene Hochschulen und kritische Wissenschaft verstehen müsse. Der neu gegründeten linke Hochschulverband, so Hirsch, habe dann eine Chance, wenn er die Vertretung studentischer Interessen mit einer allgemeinpolitischen und antikapitalistischen Orientierung verbinde.
Die Aktualität von engagierter Literatur untersucht Christina Ujma anhand der so genannten „Fräuleinwunderliteratur“. Insbesondere in der Schriftstellerin Tanja Dückers entdeckt sie dabei so etwas wie die „Intellektuelle ihrer Generation“. Die Autorin bezieht sich auf die geschichtspolitische Diskussion zwischen Dückers und Günter Grass ebenso wie auf tagespolitische Fragen. Heiko Bolldorf wendet die Literaturtheorie Gramscis auf die Autobiographie von Dieter Bohlen an, einem Medienstar mit Vorbildfunktion. Dabei entfaltet sich ein ganzes Panorama neoliberaler Alltagsideologie und -praxis. Bohlen pervertiert den Wunsch nach Selbstbestimmung. Aber, so Bolldorf, dieser Wunsch kann dann ein Anknüpfungspunkt für die Linke sein, wenn es gelingt, ihn gegen die Markt- und Konkurrenzzwänge des Kapitalismus zu wenden.
Zwei Beiträge von und über Domenico Losurdo setzen die in Z 69 begonnene Diskussion über Demokratie fort. Im Interview mit Sabine Kebir und Andreas Wehr analysiert Domenico Losurdo die Geschichte des liberalen Demokratieverständnisses als eine Geschichte der Ausschlüsse und Diskriminierungen. Erst in der Folge der Oktoberrevolution habe eine Universalisierung formaler Rechtsverhältnisse stattgefunden. Gleichzeitig kritisiert er am Rechtsverständnis des realen Sozialismus, dass die Bedeutung formaler Demokratie zu gering geschätzt wurde, und stellt – in Anknüpfung an Hegel – heraus, dass soziale Rechte nicht Gegensatz, sondern Bedingung von universellen Rechtsformen sind. In ihrer Vorstellung des Bandes „Hegel und die Freiheit der Modernen“ vertieft Sabine Kebir das von Losurdo betonte sozialstaatliche Element in Hegels Rechtsphilosophie.
Mit Beiträgen von Eike Kopf und Matin Baraki wird die Diskussion über die Entwicklung Chinas fortgesetzt (vgl. auch die Besprechung von Helmut Peters). Michael Krätke konfrontiert das Marxsche Programm der Kritik der Politischen Ökonomie mit dem herrschenden Ökonomismus und fragt nach ungelösten Problemen der Marxschen Ökonomiekritik. Tobias Bader analysiert die Globalisierungstheorie des amerikanischen Soziologen George Ritzer und ihre kulturellen Implikationen. Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung („Spiegelneurone“) für das Verständnis von menschlicher Kommunikation und die Kritik der „Informationsgesellschaft“ mit ihren digitalen Parallelwelten untersucht Harald Werner. Achim Kessler erinnert aus Anlass des dreißigsten Todestages des 1977 verstorbenen Ernst Bloch an dessen Unterscheidung von „Kältestrom“ und „Wärmestrom“ im Marxismus. In diesem Kontext analysiert er die Metapherntheorie Blochs als ein Mittel ästhetischer Erkenntnis.
Im Berichtsteil wird u.a. auf die Plenumsveranstaltungen der Berliner „Marxismus-Tagung“ (20.-22. April) eingegangen, an der Z sich (u.a. auch mit einem gut besuchten workshop „Die marxistische Linke und ihre Geschichte“) beteiligt hatte. Das Projekt einer solchen gemeinsamen Tagung verschiedener Strömungen der marxistischen Linken soll fortgesetzt werden und wird eine Zukunft haben, wenn es Raum für eine offene marxistische Diskussion schafft, die zur Analyse des Kapitalismus im 21. Jahrhundert und zur Strategiediskussion der Linken substantiell beiträgt.
***
Vorschau: Z 71 (September 2007) wird Veränderungen in der internationalen Rohstoffwirtschaft und damit verbundene ökonomische, politische und ökologische Konfliktfelder behandeln.