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Erneuerung der Politischen Ökonomie – Wo Marx unersetzlich bleibt

Juni 2007

1. Krise und Kritik der (unpolitischen) Ökonomie

Ob die Weltwirtschaft boomt oder von einer Krise in die nächste stolpert, die herrschende Lehre der Ökonomie hat stets die gleiche Empfehlung parat: Vertrau auf den (Welt)markt. Seit mehr als zwei Jahrzehnten predigen die Vertreter der offiziellen Ökonomie die immer gleiche Litanei: Lohnsenkung, Steuersenkung, Abbau des Sozialstaats, Steuersenkungen - um Investoren in Investitionslaune zu bringen. Nach diesem Patentrezept ist in allen kapitalistischen Ländern gehandelt worden – ohne nennenswerte Resultate. Daher kehren sich heute viele Ökonomen weltweit gegen die neoklassische Orthodoxie. Einige bemühen sich um eine erneuerte Politische oder Sozialökonomie. Dagegen regt sich Widerspruch, auch innerhalb der Ökonomenzunft. Ein Beispiel: Im Sommer des Jahres 2000 probten Pariser Ökonomie-Studenten den Aufstand. Sie zettelten eine Protestbewegung an, die Bewegung für eine „post-autistische Ökonomie”, die an den Pariser Grandes Écoles begann und sich rasch ausbreitete. Mittlerweile gibt es Gruppen der post-autistischen Ökonomen in vielen Ländern der Welt. Seit September 2000 erscheint ein inter-nationales Internet-Forum, Post-Autistic Economics Newsletter genannt, das von kritischen Ökonomen aus vielen Ländern, ohne Rücksicht auf Status und Prestige, eifrig genutzt wird. Sie wissen, was sie nicht (mehr) wollen: Die Neoklassik, den Modellplatonismus, die Pseudoaxiomatik, die Pseudomathematik, die Irrelevanz und den Dogmatismus der herrschenden Lehre. Was an die Stelle des abgedankten Paradigmas treten soll, ist weniger klar. Denn der Blick über die Disziplingrenzen, zu den anderen Sozialwissenschaften hat den kritischen Ökonomen einen herben Schock beschert. Wohin sie auch blicken, die (neoklassische) Ökonomie ist schon da, der „Imperialismus der Ökonomie”, die vermeintliche Königin der Sozialwissenschaften, hat überall ihre Spuren hinterlassen. Der (fromme) Wunsch nach mehr „Realismus” und weniger Axiomatik, mehr „Pluralismus” und weniger Einheitsdenken, gelegentlich ergänzt durch den schüchternen Ruf nach mehr „Interdisziplinarität”, richtet sich heute auch gegen das, was die „Ökonomisierung” der Sozialwissenschaften in jüngster Zeit in Soziologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Anthropologie usw. angerichtet hat.

Allerdings sind kritische Ökonomen heute keine Marxisten, nur wenige zeigen Interesse an der Marxschen ökonomischen Theorie. Sie halten Marx für einen Ricardianer, nicht mehr. Ein bedeutender Philosoph und vielleicht auch Soziologe, aber kein ernst zu nehmender Kritiker der Ökonomie. Einige nehmen Marx seine Kritik der Ökonomie nicht ab: Wie die (Neo)-Klassiker betrachte er Individuen nicht als handelnde Subjekte, sondern als Teil eines „Mechanismus”/„Automatismus”, wie die (Neo)Klassiker glaube er an „Naturgesetze” der Ökonomie, die sich mit „eherner Notwendigkeit” durchsetzten, wie die Neoklassiker orientiere er sich am Vorbild der Naturwissenschaften und behaupte ökonomische „Gesetze”, die vom Willen und Bewusstsein der Beteiligten ganz unabhängig wirkten (vgl. Brodbeck 1998, 44f., 54). Bis in die Details der Begriffsbildung hinein lasse sich die grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Marx und der neoklassischen Standardökonomie aufzeigen (ebd.1998, 59, 219). Schon in den siebziger Jahren wurde Marx als Epigone abgefertigt, der die „anthropologischen Prämissen” der (neo)klassischen Ökonomie teile. Daher sei jede radikale Kritik der Ökonomie, die an die Grundlagen dieser Wissenschaft gehe, „zugleich immer auch eine Kritik des Marxismus, nicht aber umgekehrt der Marxismus ein geeignetes Instrument zu einer grundsätzlichen Kritik der Nationalökonomie” (Kramm 1975, 11f).

Dabei steht heute die Politische Ökonomie wieder in voller Blüte. Die „Komparative” und die „Internationale Politische Ökonomie” sind ihre Hauptvarianten in der Politikwissenschaft. Auch da spielt Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie keine Rolle. Nicht einmal bei den Marxisten. In dem, was heute Politische Ökonomie heißt, kommt Marx nur als Negativsymbol für die akademischen Plagen des „Determinismus”, „Ökonomismus” und/oder „Reduktionismus” vor. Für die auffällige Abwesenheit der Marxschen Theorie in der gegenwärtigen Renaissance der Politischen Ökonomie gibt es Gründe: Sie ist schwierig, sie ist unvollendet, sie hat bis heute mit etlichen ungelösten Problemen zu kämpfen. Und sie ist noch immer weithin unbekannt.

2. Marx’ Kritik der „falschen Kritik der Politischen
Ökonomie”

Marx war nicht der erste, der die Politische Ökonomie kritisierte. Gleich am Anfang stieß er auf die wütende Kritik, die französische und englische Sozialisten an dieser merkwürdigen Wissenschaft geübt hatten. Eine radikale und parteiische Kritik, die Marx trotz ihres „proletarischen Standpunkts” für falsch hielt. Proudhons Versuch einer philosophisch begründeten Kritik der Politischen Ökonomie provozierte eine schneidende Polemik Marx’ gegen die „falsche Kritik der politischen Ökonomie” der Sozialisten (vgl. MEW 27, S. 451). Ihr hilfloser Anti-Kapitalismus führte zu illusionären Reformprojekten – „gerechter Tausch”, „Arbeitsgeld”, zinsloser Kredit usw. Proudhons Kritik ärgerte Marx, weil sie philosophisch, ja hegelianisch daher kam. Proudhon versuchte, wie Marx 1865 schrieb, „das System der ökonomischen Kategorien dialektisch darzustellen” (MEW 16, S. 27), und erlitt dabei exemplarischen Schiffbruch. In seinem Anti-Proudhon (Das Elend der Philosophie) von 1847 verteidigte Marx Ricardo. Ricardos Werttheorie galt ihm als „die wissenschaftliche Auslegung des gegenwärtigen ökonomischen Lebens” (MEW 4, S. 81). Proudhon dagegen konnte mit dem auf eine dogmatische Formel heruntergebrachten Hegel nichts anderes zustande bringen als eine „schlechte Metaphysik der politischen Ökonomie” (MEW 4, S. 129). Welche Kritik Marx selbst für richtig hielt, wurde in dieser Polemik nur angedeutet.

3. Die Eigenart der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie

Ab 1857 begann Marx, seine eigene Kritik der Politischen Ökonomie zu Papier zu bringen. Dabei erweiterte sich der Kreis der zu bearbeitenden und zu lösenden Probleme beträchtlich. Statt der ihm wohl vertrauten ungelösten Probleme der Geld- und Grundrententheorie, für die er eine Lösung parat zu haben meinte, stieß er nun auf immer neue, ungeahnte analytische Schwierigkeiten. Probleme, die er nicht mehr in den Schriften und Debatten der Politischen Ökonomen vorgefunden haben konnte, die vielmehr genuin „Marxsche” Probleme waren (und sind). Probleme, die nur dank seiner kritischen Neufassung und Neubildung ökonomischer Kategorien und Theorien zustande kommen konnten. Einige, wie das später sogenannte „Reduktionsproblem” sehen so aus, als seien sie nur die Wiedergänger gleichartiger Probleme aus der klassischen Ökonomie. Andere dagegen waren den klassischen Ökonomen noch unbekannt, stellten sich ihnen nicht. Ein Großteil der Marxschen Manuskripte von 1857 bis 1882 sind Forschungsmanuskripte, in denen er sich mit offenen Fragen, theoretischen Zweifeln und Skrupeln herumschlägt. Lange Passagen in diesen Texten sind nichts als wiederholte Anläufe zu Problemstellungen. Die dazu passenden Lösungen sind ihm keineswegs sofort klar.

Dazu kamen die Probleme der Darstellung, der „richtigen” Architektonik seiner Theorie. Seit Anfang der 1850er Jahre hatte Marx die „philosophische Form” der Kritik der Politischen Ökonomie hinter sich gelassen. Eine „dialektische Form” der Darstellung schwebte ihm vor, aber keine aus der Hegelschen Logik fix und fertig übernommene, sondern eine seinem Gegenstand angemessene. Daher enthalten Marx’ Forschungsmanuskripte einiges zur „Kritik der Dialektik” in der Hegelschen Form. Beim Arbeiten und Experimentieren mit dieser Form stieß er auf ihre Grenzen und ihre Tücken und löste sich von der Hegelschen Form der Dialektik.

Die Arbeit der Kritik half ihm. Einige kritische Ökonomen hatten tatsächlich die Grenzen der bisherigen Politischen Ökonomie erreicht und überschritten. Sie hatten die ökonomische Struktur der modernen Gesellschaft weitgehend verstanden, da sie – wie Sismondi und Richard Jones – auf historische Unterschiede und Besonderheiten pochten. Sie sahen bereits die „sociale Formbestimmtheit des Capitals als das Wesentliche” und erfassten die Bedeutung solcher „Formbestimmtheit[en]”, die eine historisch spezifische Produktionsweise wie die kapitalistische auszeichnen (MEGA II/3.5, S. 1856). Die „wirkliche Wissenschaft der politischen Ökonomie”, so Marx, endete damit, „die bürgerlichen Productionsverhältnisse als bloß historische aufzufassen” (MEGA II/3.5, S. 1860). Dieser entscheidende Schritt gelang den kritischen Ökonomen aber ohne Dialektik, ohne Parteinahme für das Proletariat. Sismondi, einer der schärfsten Kritiker Ricardos, überschritt die scheinbar „unüberschreitbare(n) Schranke” der Ökonomie, weil er sich auf das Wegerklären der unangenehmen ökonomischen Tatsachen nicht einlassen wollte. Daher repräsentierte er die Selbstkritik und den Selbstzweifel der politischen Ökonomie (vgl. MEW 23, S. 20; MEW 13, S. 46).

Manchen Ökonomen, räumte Marx ein, gelangen bisweilen Entdeckungen. Einige Ökonomen kamen der „richtigen Analyse der Ware” nahe, einige machten Fortschritte in der „richtigen Analyse des Geldes”. Viele traten auf der Stelle, gerade die erklärten Ricardianer, die die Probleme, die Ricardo der ökonomischen Theorie stellte, nicht lösten, nur umformulierten. Gerade die Systembildner wie James Mill, die eine „systematische Form” der Darstellung und „formell logische Consequenz” anstrebten, trugen zur Auflösung der Ricardoschen Theorie bei, weil sie deren Widersprüche nicht lösten, sondern dogmatisch weg erklärten (vgl. MEGA II/3.4, S. 1276ff). Einige gab es, die wie Samuel Bailey durch immanente Kritik Ungereimtheiten und Lücken der bisherigen Analyse aufzeigen konnten. Marx’ Kritik schloss da an. Selbst Baileys flache Kritik am „absoluten Wert” oder dem Wert als „immanenter Substanz” (später wieder auferstanden als „Pfannkuchentheorie” des Werts im „Marxismus”) half ihm weiter bei der Suche nach der „richtigen”, hinreichend differenzierten Wertbestimmung.

So stellte Marx seine eigene Theorie vor, als „kritische(s) Endergebnis der mehr als anderthalbhundertjährigen Forschungen der klassischen politischen Ökonomie” (MEW 13, S. 37; MEGA II/2, S. 130 ). Das „Geheimnis der kritischen Auffassung” lag nicht dort, wo es die Marxisten vermuten: Nicht bei der Dialektik, nicht beim Standpunkt der Arbeiterklasse, sondern in der konsequenten Fortführung und Berichtigung der mangelhaften Analysen und Systemversuche, die die früheren Ökonomen hinterlassen hatten. Als Marx 1959 den ersten Teil seiner lang erwarteten „Ökonomie” publizierte, da präsentierte er seine Kritik als die endlich gefundene Antwort auf alle ungelösten Rätsel der klassischen Ökonomie. Das erste Kapitel endete mit der ausführlichen Auflistung der Einwände, die seitens der Ökonomen gegen Ricardos Werttheorie erhoben wurden. Jeder dieser vier Einwände wurde von Marx in ein Problem übersetzt, dessen Lösung in den folgenden Kapiteln geliefert werden sollte: Die altbekannte Konfusion über den „Wert der Arbeit” und die Arbeit als Maß des Wertes übersetzte er in das Problem, wie auf der Grundlage der Wertbestimmung der „Arbeitslohn zu entwickeln” sei. Marx versetzte trocken: „Die Lehre von der Lohnarbeit gibt die Antwort” (MEW 13, S. 47). Die Frage, wie bei gerechtem Tausch der Arbeit„geber” irgend etwas gewinnen könne – bzw. wie Profit ohne „ungerechten Tausch” möglich sei, übersetzte Marx in die werttheoretische Frage, wie der Wert der Tagesarbeit kleiner sein könne als der Wert ihres Tagesprodukts. „Dies Problem”, verkündete er, „lösen wir in der Betrachtung des Kapitals”(ebd.). Den Einwand, dass der Preis der Waren nicht gleichzeitig durch Nachfrage und Zufuhr auf dem Markt und durch ihren „Arbeitswert” bestimmt sein könne, übersetzte Marx in die wissenschaftliche Frage, „wie das Gesetz des Tauschwerts nur in seinem eignen Gegenteil sich verwirklicht”. Wieder folgte die Ankündigung: „Dies Problem wird gelöst in der Lehre von der Konkurrenz” (MEW 13, S. 48). Schließlich übersetzte Marx das altbekannte „Wertparadoxon” der klassischen Ökonomie in die Frage: „woher [kommt] der Tauschwert bloßer Naturkräfte”? Wieder folgte das Versprechen: „Dies Problem wird gelöst in der Lehre von der Grundrente” (ebd.). Hier stellte sich Marx selbst als Fortsetzer und Vollender der klassischen Ökonomie dar. Sismondi wollte noch, gut aristotelisch, der Chrematistik, der „falschen” Wissenschaft der Politischen Ökonomie, die nur der Schattenwelt der Tauschwerte nachjage, die „wahre politische Ökonomie”, die Ökonomie des ganzen Hauses entgegenstellen (vgl. Grossmann 1924). Marx’ Projekt nahm sich zunächst viel bescheidener aus.

3.1 Das Marxsche Programm

Von Anfang an aber sollte die Kritik der Politischen Ökonomie mehr sein als eine Kritik einzelner „falscher” Theorien einzelner Ökonomen. Eine umfassende „Kritik der ökonomischen Kategorien”, hatte Marx sich zum Ziel gesetzt, wie er 1858 Lassalle schrieb, eine „allgemeine Kritik des Gesamtsystems der ökonomischen Kategorien”, wie er es später nannte (MEW 29, S. 550; MEW 26.3, S. 250). Eine Kritik, die aufs Ganze, auf das „System der bürgerlichen Ökonomie” gehen sollte. Marx wollte „zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben”. Die Last der Kritik hatte die Darstellung zu tragen, die „kritisch” und zugleich „ganz wissenschaftlich” sein sollte (vgl. MEW 29, S. 550, 551). Über die Reichweite dieses Kritikprogramms und das Ausmaß, in dem Marx es einlösen konnte, ist viel gestritten worden. Die dreifaltige Kritik, die Marx gemeint, aber nicht eindeutig formuliert hat, ist nicht leicht zu verstehen. So kommt es, dass gelegentlich die eine Kritik gegen die andere ausgespielt wird – etwa die vermeintlich fundamentalere Kritik der ökonomischen Denkweise gegen die Kritik falscher Theorien (so z.B. Backhaus 1997, S. 19, 20).

Von Anfang an wollte Marx die beschränkte, grob-materialistische Denkweise der Ökonomen kritisieren – und die ökonomische Struktur der modernen Gesellschaft wie deren „Gesetze” besser verstehen als sie. Marx wollte die wissenschaftlichen Fragen stellen, die die Ökonomen nicht stellten, und die wissenschaftlichen Probleme lösen, die sie nicht lösen konnten. Aber er wollte nicht nur der bessere (klassische) politische Ökonom sein, sondern die spezifisch ökonomischen Denkweisen des bürgerlichen Zeitalters in ihren diversen Formen, als Wissenschaft ebenso wie als Alltagsideologie, radikal kritisieren. Er wollte begreifen, warum selbst intelligente, integre ökonomische Forscher die moderne Ökonomie nicht verstehen und suchte daher den Grund für den „der bürgerlichen Ökonomie eigentümliche(n) Fetischismus” (MEW 24, S. 228) nicht in den Denkfehlern einzelner Ökonomen, sondern in der Formbestimmung der ökonomischen Verhältnisse, die die Denk- und Verhaltensweisen der ökonomischen Akteure prägen. Die ökonomische Metaphysik ist kein Zufall, die Welt der mystifizierten und mystifizierenden Vorstellungen und Denkformen bildet ein regelrechtes System – eine geschlossene Welt der ökonomischen Mystifikationen. Mit der Analyse der „Basis für den Fetischismus der Politischen Oekonomen” (MEGA II/4.1, S. 59) meint Marx zugleich den Schlüssel zu haben, um die notwendige Borniertheit des bürgerlich ökonomischen Denkens erhellen zu können.

Aber der eigentliche Zweck der Übung wird erst mit der dritten Kritik erreicht: Zum ersten Mal sollte eine Kritik vorgetragen werden, die nicht nur einzelne Phänomene und Resultate der kapitalistischen Produktionsweise angriff, sondern das Ganze der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, den Kapitalismus als historisch spezifisches System der gesellschaftlichen Produktion von Reichtum. Eine wissenschaftliche Kapitalismuskritik, die die eigentümliche Logik der modernen Ökonomie, den eigentümlichen Gang der kapitalistischen Entwicklung und die immanenten Schranken dieser Entwicklung aufzeigen soll, damit zugleich zum ersten Mal eine wissenschaftliche Begründung für die elementaren anti-kapitalistischen oder sozialistischen Bewegungen der Zeit liefern kann, auch wenn diese den Sozialisten nicht gefallen wird. Marx’ Kapitalismuskritik, die Kritik, um die es ihm eigentlich geht, ist zugleich – explizit und implizit – eine Kritik des bisherigen, naiven Anti-Kapitalismus.

Die drei Kritiken bedingten und ergänzten einander: Marx konnte z.B. die Lohntheorien der Klassiker nicht kritisieren, ohne die Form des Arbeitslohns als „Scheinform”, die einen ganz anderen, der Form entgegengesetzten Inhalt hat, zu kritisieren. Die Alltagskategorie „Wert” oder „Preis der Arbeit” (Arbeitslohn) konnte er nicht kritisieren, wenn er nicht den Verhältnissen der Lohnarbeit auf den Grund ging. Hatte er gezeigt, dass der formell freie Austausch am „Arbeitsmarkt” ein notwendiges Glied in einem umfassenden Ausbeutungsverhältnis darstellt, konnte er die Tragweite der Lohnform als Basis vieler „Rechtsvorstellungen” und „Freiheitsillusionen” der Arbeiter wie Kapitalisten klar machen (vgl. MEW 23, S. 562). In Marx’ Theorie bildet die systematische Kritik des „ökonomischen Fetischismus”, der historisch spezifischen Alltagsreligion der bürgerlichen Gesellschaft, die Vermittlung zwischen den drei Kritiken.

Schon vor Marx hatten kritische Ökonomen den historischen Charakter der ökonomischen Gesetze des modernen Kapitalismus geahnt und mit dem „Wahn, sie als Naturgesetze der Produktion” aufzufassen, gebrochen (vgl. MEGA II/3.5, S. 1861). Daher konnte Marx die Rede von den ökonomischen „Naturgesetzen” nur noch ironisch gebrauchen. Wie sollte er ausgerechnet in der Kritik der Politischen Ökonomie die „ökonomistische Einseitigkeit” reproduzieren, mit der alle ökonomischen Verhältnisse und Entwicklungen des modernen Kapitalismus als „selbstverständliche Naturnotwendigkeit”, ja als Wirkung von „Naturgesetzen” wahrgenommen wurden (vgl. MEW 13, S. 42; MEW 23, S. 95f)? Er tat das auch nicht. Überall, wo in den diversen Texten zur Kritik der Politischen Ökonomie von „Naturgesetzen” der kapitalistischen Produktion die Rede ist, hat das einen guten, ironischen und kritischen Sinn. Diese Gesetze, so Marx, „erscheinen als” Naturgesetze, haben die „Form” von Naturgesetzen oder wirken „in der Weise” von Naturgesetzen, weil es eben die Gesetze einer gesellschaftlichen Ordnung sind, deren Verhältnisse von den Beteiligten nicht gemacht und kontrolliert werden, von denen sie vielmehr beherrscht und gemacht werden. Es sind Gesetze, deren Wirkung „auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht”, wie Engels 1844 formuliert hat (MEW 1, S. 515). Anders gesagt, es sind Gesetze, die nur in der systematisch „verkehrten Welt” des modernen Kapitalismus als solche gelten und wirken können. Marx entwickelt einen spezifischen Begriff für die Wirkungsweise der scheinbaren „Naturgesetze” der kapitalistischen Produktionsweise: die Konkurrenz. Sie ist die Form, in der sich Notwendigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise als „äußerer Zwang”, den die Akteure aller Klassen aufeinander ausüben, durchsetzen kann und muss, eine Form, die die moderne Ideologie des „Sachzwangs Markt” unweigerlich hervorbringt.

3.2 … und was davon realisiert wurde.

Die drei Kritiken der Politischen Ökonomie sind in ihrer Eigenart wie ihrem Zusammenhang wenig verstanden worden. Karl Korsch hat als erster unter den „westlichen Marxisten” versucht, ihren Zusammenhang zu begründen. In Marx’ Kritik sah er sowohl Fortsetzung als auch Überschreitung der Systems der klassischen Ökonomie. Die gewollte „große Kritik” oder „Sprengung der Form der ökonomischen Wissenschaft” sei Marx nicht gelungen (Korsch 1967, S. 88), nur ausnahmsweise sprenge Marx den „Rahmen der ökonomischen Theorie” und gerate zu einer „direkt geschichtlichen und gesellschaftlichen Darstellung” der kapitalistischen Produktion (ebd. S. 122f). Nämlich dann, wenn Marx sich auf „Rand- und Endprobleme der Ökonomie” einlasse, die in der Form ökonomischer Theorie nicht mehr zu behandeln seien (ebd. S. 123). Korschs Intuition war richtig, aber die Begründung, warum und wo Marx’ Kritik den tradierten Rahmen ökonomischer Theoriebildung überschreitet, zu einer neuen Synthese von systematischer Theorie und Geschichte gelangt, fehlt. Die Entdeckung des „Fetischismus”, der „verkehrten Welt” der „verrückten” Formen, die den modernen Kapitalismus konstituieren, spielt hier die entscheidende Rolle. Aber diese Kritik hängt in der Luft ohne die beiden anderen Kritiken, diese Entdeckung war nicht zu haben ohne Kritik der falschen Theorien und Begriffe der Ökonomen. Ein naheliegender Grund für die Schwierigkeit, die drei Kritiken im Zusammenhang zu verstehen: Sie sind nie abgeschlossen worden. Wollen wir die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie verstehen, müssen wir sie als unvollendetes Projekt ernst nehmen.

Wir wissen, dass die Kritik der Politischen Ökonomie nicht in einem genialen Wurf entstanden ist. Der Weg zum Kapital war lang und mühsam – ein Lernprozess, der sich über fast vierzig Jahre hinzog (von 1843 bis 1882). Anfangs glaubte Marx, die adäquate theoretische Form für sein großes Projekt zu kennen. Das war ein Irrtum. Schon 1857/58 musste er einsehen, dass die dialektische Form ihre Tücken, vor allem aber ihre Grenzen hat. Deshalb gab er den Versuch einer streng „dialektischen” Entwicklung Schritt für Schritt auf, weil er seine Darstellung mangelhaft fand (vgl. MEW 31, S. 534). Gerade den schwierigen Anfang des Ganzen hat er mehrfach verbessert. Bis zuletzt behielt er sich eine „vollständige Umarbeitung” des Kapital vor. Es kennzeichnet den Rang des Wissenschaftlers Marx, dass er imstande war, die „Form der Logik” um der „Logik der Sache” willen aufzugeben – um in der Sprache seiner eigenen Kritik des Hegelschen Staatsrechts zu reden. Aber damit nicht genug. Marx glaubte 1864, die wichtigsten Probleme „seiner” Ökonomie bereits gelöst zu haben – und die ungelösten Probleme der klassischen Ökonomie obendrein. Das war ein Irrtum, wie ihm schon bald bewusst wurde. Wiederum kennzeichnet es den Rang des Wissenschaftlers Marx, dass er die ungelösten Probleme seiner Kritik der Politischen Ökonomie zumindest ahnte - und nach der richtigen Lösung suchte.

Beschränken wir uns auf zwei Beispiele: Vermutlich im Lauf des Jahres 1863 änderte Marx den Aufbauplan seines Werks. Er ließ die methodische Unterscheidung zwischen dem „Kapital im allgemeinen” und den „vielen Kapitalien” fallen, die ihm seit 1857 als Leitfaden gedient hatte. Marx befreite sich vom Joch des „dialektischen” Schemas und zog die Konsequenz aus der Einsicht, die Logik der Sache müsse Vorrang vor der Hegelschen Logik haben. Schon 1857/58 wurde Marx klar, dass der adäquate Begriff des Kapitals nicht ohne einen entwickelten Begriff der Konkurrenz zu haben sein würde (vgl. MEW 42, S. 550ff). Die Stoffeinteilung, mit der er begann, stand dem aber im Wege. Also war die berühmte Planänderung Marxens ein wichtiger Schritt weg von der Hegelei und hin zu der neuen Sozialwissenschaft der Politischen Ökonomie. Ein Schritt, der im Kontext seiner Kritik der ökonomischen Theorien unvermeidlich war: Er konnte nicht die willkürlichen Abstraktionen und Konstruktionen der Ökonomen angreifen und dann selbst eine Begriffskonstruktion a priori vorlegen.

Zweitens: In den Jahren nach der Veröffentlichung des ersten Bandes des Kapital ließ Marx sein großes Projekt keineswegs fallen. Er publizierte keine ökonomischen Schriften mehr, seine Arbeit schlug sich aber in einem gewaltigen Berg von Manuskripten, Entwürfen, Notizen und Exzerpten nieder, die zum größten Teil bis heute unveröffentlicht sind. Neben zahlreichen kleineren Entwürfen, in denen Teile der ursprünglichen Manuskripte zum zweiten Buch des Kapital (dem späteren zweiten und dritten Band) neu und anders gefasst werden, besteht der weitaus größte Teil der nachgelassenen Texte Marxens aus dieser Zeit aus Materialsammlungen, Exzerpten und Notizen zu zwei Gebieten: Geld- und Kreditverhältnisse und deren Veränderungen in Europa und in Nordamerika in jüngster Zeit und Grundeigentum und Agrikultur in Europa, Nordamerika und einigen anderen Ländern, die bereits in die kapitalistische Weltökonomie einbezogen waren. Marx’ Konzentration auf diese beiden Gebiete hat einen guten Sinn, wenn man diese Arbeiten als Vorarbeiten für die noch ausstehenden Bücher/Bände des Kapital ernst nimmt. In der Geld- und Kredittheorie sowie in der Theorie der Grundrente stecken die größten noch ungelösten Probleme, mit denen unser Autor fertig werden muss, bevor er mit der Kritik der politischen Ökonomie fertig ist. Dass er sich in seinen Studien seit 1869 stets stärker auf die Geld- und Kreditverhältnisse sowie auf die Entwicklung der Grundeigentumsverhältnisse und den Prozess der Industrialisierung der Landwirtschaft in Nordamerika konzentriert, war kein Zufall. Er wusste genau, wo die wichtigsten noch ungelösten Probleme und Schwachstellen seiner eigenen ökonomischen Theorie lagen. Er wusste noch nicht, wie die Lösung auszusehen hatte, die den Ansprüchen der dreifachen Kritik im Kapital genügen würde.

4. Einige ungelöste Probleme der Marxschen Ökonomie-Kritik

Keine Renaissance der Politischen Ökonomie ohne Marx. Um Marx’ unvollendetes Projekt nutzen zu können, muss man seine Grenzen und Lücken kennen. Marx wusste nur zu genau, was die Marxisten lieber verschweigen: Es gab 1883 und es gibt noch heute etliche ungelöste Probleme der Marxschen Ökonomie-Kritik. Einige davon sind seit langem bekannt, die meisten haben eine Geschichte, kaum eine der langwierigen, oft unterbrochenen Debatten um diese ungelösten Probleme kann im Ernst als abgeschlossen gelten (vielleicht mit Ausnahme der Debatte um das berühmt-berüchtigte „Transformationsproblem”, das in der Tat mathematisch gelöst ist). Einigkeit über die Rangordnung und logische Reihenfolge dieser Probleme besteht nicht. Die theoretische Form, die Marx einigen dieser Probleme und seinen vorläufigen Lösungen gegeben hat, ist nicht heilig. Dafür hat sie zu oft zu Missverständnissen geführt.

4.1 Die Sache mit dem „Wert“

Marx’ Probleme lassen sich in Marx’ Worten angeben. So z.B. die Probleme, die in der scheinbar so einfachen, quantitativen Wertbestimmung stecken. Das analytische Konzept einer „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit” ist weit komplizierter als es aussieht. Wenn, wie Marx unmissverständlich behauptet, nicht die tatsächlich verausgabte, vergangene Arbeit wertbestimmend ist, sondern die unter gegenwärtigen Bedingungen gesellschaftlich notwendige, dann kann sich die Wertgröße auch fertig produzierter Waren im nachhinein verändern – Entwertungsprozesse sind möglich. Sobald sich Wert in Kapital verwandelt, wird das zum Problem, denn die „Wertgrößen” oder die vergangenen Arbeiten, die in den Ausrüstungen und Anlagen stecken und für den Kapitalisten „konstantes Kapital” bilden, können beständig Wert verlieren. Ein Entwertungsprozess, der von der von Marx analysierten „Wertübertragung” im kapitalistischen Produktionsprozess deutlich verschieden ist, ihr aber in die Quere kommt. Entwertung des Kapitals (wie übrigens auch der Arbeitskraft) ist unvermeidlich, wo die kapitalistische Produktionsweise herrscht und die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit systematisch gesteigert wird – als probates Mittel der Plusmacherei. Woraus folgt, dass nach dem erfolgreichen Abschluss eines Produktionsprozesses, sobald die Ware als Gebrauchswert fertig und auf dem Markt ist, ja sogar nachdem sie verkauft wurde, ihr Wert keine einfach „gegebene”, fix und fertige und unveränderliche Größe darstellt, wie die Anhänger der „Pfannkuchentheorie” des Werts seit jeher glauben. Die gegenwärtige Wertschöpfung schlägt auf die vergangene Arbeit zurück – oder die Wertbestimmung bleibt ein asynchron, ja diachronisch verlaufender Prozess in der historischen, sozialen Zeit, der Verwertungsprozess des Kapitals ist zugleich ein Entwertungsprozess. Ein Problem, das Marx zwar bewusst war, das er gelegentlich auch benannte und ansprach, aber nirgends systematisch zu lösen versuchte. Kurioserweise haben es die Marxisten auch nicht versucht, obwohl sie seit jeher Marx als den Begründer einer durch und durch dynamischen Theorie preisen (vgl. z.B. Grossmann 1969). Würde dieser Punkt geklärt – keine leichte Aufgabe – hätten sie zum ersten Mal die „dynamische Theorie des Werts” vor sich, die Marx vor Augen hatte.

Ein Problem, das mit der kaum je zur Kenntnis genommenen, höchst paradoxen Kategorie des „Marktwerts” zusammenhängt, der allen gängigen werttheoretischen Vorstellungen der Marxisten glatt widerspricht. Dennoch taucht er an prominenter Stelle auf, systematisch ganz richtig, in Marx Analyse des Konkurrenzprozesses, in dem die „vielen Kapitalien” einander wechselseitig unter Druck setzen. Ohne diese Kategorie, ohne die Analyse der Bildung eines „Marktwertes”, bleibt die Marxsche Unterscheidung zwischen „individuellem” Wert und „gesellschaftlichem” Wert einer Ware, wie sie schon – hoch problematisch und höchst missverständlich – im ersten Band des Kapital auftaucht, ein reines Wortspiel. Dass die „Marktwertbildung” alles andere als einfach, ja geradezu ein tückisch widersprüchlicher Prozess ist, erhellt schon aus Marx’ richtiger Intuition ( zum ersten Mal im Manuskript von 1864 - 65), dass „am Markt” modifizierte Wertgrößen unter bestimmten Bedingungen einen „falschen sozialen Wert” angeben können. Die Marxisten, notorisch uninteressiert an scheinbar „ökonomischen Details”, sind der Sache nie systematisch nachgegangen, die akademischen Marxkritiker haben sie unter „metaphysischem Unsinn” abgelegt. Beide hatten und haben Unrecht.

4.2 Die Sache mit dem „Preis“

Selbstverständlich ist Marx’ Werttheorie auch eine Preistheorie bzw. verweist auf eine solche. Am Anfang steht die Analyse der Wertformen, die zur Kategorie der Geldform und ihrem Komplement, der Preisform führt. Dort angelangt, öffnet Marx sofort den Ausblick auf das weite Feld seiner Preistheorie: Der Möglichkeit nach, so heißt es im Kapital, steckt in der bloßen Preisform bereits die quantitative Inkongruenz von Preis und Wert – ebenso wie die Möglichkeit von Preisen, die ohne jede Wertbasis auskommen – irrationellen oder imaginären Preisen. Die Kategorie des „irrationellen” oder „imaginären” Preises unterstellt, dass es im Kontext der Marxschen Werttheorie auch so etwas wie „rationelle” Preise geben muss – Wertpreise, wenn dieser paradoxe (übrigens auch Marxsche) Ausdruck gestattet ist. Daraus folgt weiter, dass ein guter Teil der Preisphänomene der kapitalistischen Welt nicht mehr rein werttheoretisch zu erschließen ist. Beim Bodenpreis gibt es einen Marxschen Versuch, die Sache zu klären, die allerdings wegen der Konstruktionsfehler seiner Grundrententheorie auf sehr schwachen Füßen steht.

4.3 Die Sache mit dem Geld und der „Geldware“

In der Lehrbuchökonomie gilt Marx als Metallist, also völlig veraltet; die Marxisten werfen sich auf seine Werttheorie und lassen die Geldtheorie liegen. Marx’ Kritik der „falschen Geldtheorien” der Ökonomen ist aber mit dem ersten Abschnitt des ersten Bandes des Kapital noch keineswegs abgemacht. Denn die verrücktesten Geldtheorien, so Marx, kommen erst bei der Behandlung des modernen Kreditwesens zum Vorschein, wo „gemeinplätzliche Definitionen des Geldes” nicht mehr ausreichen (MEW 23, S. 95 Fn). Geld und Kredit bezeichnen in Marx’ Werk den Anfangs- und Endpunkt eines weiten Spannungsbogens: An deren Beginn steht die Analyse der „einfachen” Geldzirkulation, an deren Ende sollte die Analyse der „entwickelten” Geldzirkulation in einer vollentwickelten kapitalistischen Ökonomie stehen (vgl. z.B. Marx’ Plannotiz von 1862: MEGA II/3.5, S. 1861). Das Mittelglied bildet die höchst skizzenhaft gebliebene Analyse des modernen Kredit- und Bankensystems. Das beschreibt Marx als das „künstlichste und ausgebildetste Produkt, wozu es die kapitalistische Productionsweise überhaupt bringt” (MEGA II/4.2, S. 661). Da sieht Marx den Höhepunkt seiner theoretischen Entwicklung: Der Kredit verdrängt das „einfache” Geld und nimmt seinen Platz ein (so MEGA II/4.2, S. 626). Das hat Folgen, und keine geringen. Das „entwickelte Geldsystem” des modernen Kapitalismus, das sich zum Kreditsystem gemausert hat, ist alles andere als ein „naturwüchsiges”, schon gar kein „automatisches” System. Daher gerät Marx in seinem fragmentarischen Forschungsmanuskript sofort mitten hinein in die Geldpolitik und die Akteure der „Finanzmärkte”. Versucht man, derlei noch werttheoretisch zu behandeln – Marx deutet es an – dann wird die Sache vertrackt. Man hat es nur noch mit „fiktiven” Formen zu tun, Fiktionen, die gleichwohl noch an Wertbewegungen gekoppelt sind. Da die Kapitalien die „Wertschöpfungsprozesse” beherrschen, da sie wiederum von Kreditbeziehungen und -bewegungen beherrscht werden, kann man so weit gehen, nicht nur von einer „monetären”, sondern sogar von einer „fiduziären” oder Kredittheorie des Werts zu sprechen. Wie bereits mit dem Kapital wird vollends mit dem Kreditsystem die Zeitstruktur der Wertbestimmung entscheidend verändert: Antizipation der Kapitalverwertung und Antizipation der Kapitalakkumulation spielen nun die Hauptrolle. Mit dem Kredit, nach Marx’ Ansicht die „direkt vom Capital gesezte Form der Circulation ... – die spezifisch aus der Natur des Capitals hervorgeht” (MEW 42, S. 573), und dem Kreditgeld erreicht Marx’ Geldtheorie erst das Ziel, für das sie konzipiert ist, als Theorie des Geldes im modernen Kapitalismus. Wiederum haben die Marxisten mit diesen keineswegs geklärten „ökonomischen Details” nichts anzufangen gewusst.

4.4 Reiner Kapitalismus und kapitalistische Entwicklung

In Marx’ Darstellung wird keineswegs nur der „reine Kapitalismus” dargestellt. Das wäre nur möglich, wenn der moderne Kapitalismus tatsächlich als ein autopoetisches System gedacht werden könnte, in dem alles, was je in den Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion und Reproduktion eingehen muss oder kann, auch die dem modernen Kapitalismus adäquate Form einer Ware, und zwar einer kapitalistisch produzierten Ware annehmen könnte, folglich innerhalb des „rein kapitalistischen” Systems selbst erzeugt werden könnte. Das ist aus systematischen Gründen nicht der Fall, der Kapitalismus ist nur als „offenes System” zu denken. Woraus folgt, dass die ökonomischen Kategorien des modernen Kapitalismus allesamt ihre „historische Spur” tragen und nur adäquat zu behandeln sind, wenn man diese historische Spur kennt. Ein bleibendes Ärgernis für die Modellbauer und Freunde der „reinen Dialektik”. Marx ist sich des Problems bewusst, er weiß, dass er immer wieder auf „historische Voraussetzungen” zurückgreifen und eine Art von „histoire raisonnée” betreiben muss, um den Bedeutungswandel ökonomischer Kategorien zu fassen. Da gibt es große Lücken. Z.B. die Kategorie des Handelskapitals. Wie die Kategorie der Ware als solcher am Anfang nicht mit der Kategorie der Ware als Produkt des Kapitals bzw. des Warenkapitals identisch sein kann - Marx ist da im Gegensatz zu seinen Interpreten völlig klar – so kann die Kategorie des „Handelskapitals”, wie sie beim Übergang von der Analyse der „einfachen Zirkulation” zur Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses notwendig auftritt (als Erinnerung an die erste selbständige Form des Kapitals, die aber zu Anfang, an diesem Punkt der Marxschen Analyse ein vollständiges Mysterium sein muss), niemals identisch sein mit der Kategorie des Handelskapitals, wie sie zu einem entwickelten kapitalistischen System gehört. Marx wusste das, formulierte ein entsprechendes Untersuchungsprogramm, führte es aber zum größten Teil nicht aus.

Die Sache mit der Grundrente

Marx’ Theorie der Grundrente stellt ein ungleich größeres Problem dar. Sie ist nicht nur unfertig, sie ist in wesentlichen Teilen widersprüchlich und fehlerhaft geblieben. Ricardo konnte das Problem der „absoluten Grundrente” nicht lösen; Marx beanspruchte für sich, es gelöst zu haben. Aber seine Lösung widersprach nicht nur seinen eigenen werttheoretischen Aussagen – da sie eine andere, abweichende Logik der Wertgrößenbestimmung für die Landwirtschaft, im Unterschied zu allen anderen Produktionszweigen unterstellte, sie war auch ganz offensichtlich nicht als „allgemeine” Lösung des Problems brauchbar. Denn sie koppelte die Existenz einer „absoluten Rente” an Voraussetzungen – eine niedrigere organische Zusammensetzung des Kapitals in der Landwirtschaft gegenüber der Industrie –, die im Gang der kapitalistischen Entwicklung aufgehoben werden mussten bzw. konnten – oder für die kapitalistische Weltökonomie als Ganzes ohnehin nicht galten. Wenn die Industrialisierung der Landwirtschaft in großem Stil so fortging, wie Marx das in den 1870er Jahren am Beispiel der USA sah, musste seine „werttheoretische” Erklärung der absoluten Rente obsolet werden. Verschwand die „absolute Rente” trotzdem nicht, musste sie fortan einen anderen Charakter tragen, sich zum Monopolpreis wandeln. Um das zu vermeiden, operierte Marx mit einer werttheoretischen, aber willkürlichen Annahme: Die Grenze der absoluten Rente bleibe stets durch den Wert der landwirtschaftlichen Produkte bestimmt. Gibt man diese entweder nur historisch, für bestimmte Perioden gültigen, oder willkürlichen Annahmen auf, dann zeigt sich, dass die allgemeine Profitrate unbestimmt bleibt, da die absolute Rente die Masse des Profits verändert, die sich die Gesamtheit der Kapitalisten aneignen kann. Außerdem wird der Bodenpreis eine unbestimmte Größe. Marx sah die Schwierigkeiten und vertiefte sich in immer weitläufigere Studien der Agrarverhältnisse in den USA und Russland – damals zwei Extreme der kapitalistischen Entwicklung in der Landwirtschaft, kam aber zu keiner neuen Lösung. Er hat den Marxisten ein wissenschaftliches Problem ersten Ranges vererbt, mit dem diese wenig anzufangen wussten.

5. Die nächste Renaissance der Politischen Ökonomie

Eine vermeintliche Orthodoxie, die diese altbekannten Probleme entweder leugnet oder für gelöst erklärt, hat dafür gesorgt, dass das Marxsche unvollendete Projekt unfertig blieb und die Marxisten weit hinter dem zurück sind, was die Marxsche Theorie zu bieten hat. Dabei weisen gerade diese Probleme über die Grenzen der Ökonomie hinaus: Um sie erfolgreich zu behandeln, muss der ökonomische Theoretiker sich auf Politik und Geschichte einlassen, also alles an Bord nehmen, was neoklassische Ökonomen als „exogene” Faktoren aus ihrem Gesichtskreis verbannt haben. Indem man derlei Probleme bearbeitet, also zum Begreifen des modernen Kapitalismus und seiner Krisen beiträgt, reproduziert und erweitert, ja erneuert man die Politische Ökonomie, statt sie abzuschaffen. Man verwandelt den alten Marx aus einem Säulenheiligen der Theoriegeschichte in einen nach wie vor gefährlichen Gegner der heutigen herrschenden Lehre der Ökonomie. Lässt man sie liegen, bleibt Marx zahnlos. Keynes, der nur zwei der traditionellen Dogmen der Ökonomie bestritt, Say’s Gesetz und die Quantitätstheorie des Geldes, wird noch stets gefürchtet. Marx, der sämtliche Dogmen der Ökonomie angegriffen hat, nicht nur Say’s Gesetz und die Quantitätstheorie, auch das eherne Lohngesetz, das Ertragsgesetz, die Theorie der komparativen Kosten usw., wird nicht mehr ernst genommen. Weil ihn die Marxisten selbst nicht ernst genommen haben.

Die Internationale Politische Ökonomie bildet das Paradebeispiel für den gemeinten Sachverhalt. Sie hat sich auf dem Boden der akademischen „Internationalen Beziehungen” entwickelt und etabliert. Was vor allem mit dem in dieser wohlgenährten Disziplin herrschenden „Elend der Theorie” zusammenhängt. Offiziell haben die Fachvertreter stets bestritten, die Weltökonomie könne etwas mit der internationalen Politik zu tun haben, sie gar bestimmen. Als in den 80er Jahren auf die wachsende politische Bedeutung internationaler Finanzmärkte hingewiesen wurde, reagierte die „Fachwelt” nicht einmal mit ungläubigem Staunen. Sie schwieg. Als die „Globalisierung” in aller Munde kam, konnte sie dem Ruf, „economics do matter” nichts entgegensetzen. Dennoch ist die Internationale Politische Ökonomie ein theorieloses „Gebiet” ohne klare Grenzen, ohne Forschungsprogramm, ohne Struktur, eine Ansammlung von Wissen und Wissenswertem, das den Namen Wissenschaft nicht verdient. Völlig kritiklos wird der kategoriale Wirrwarr der etablierten sozialwissenschaftlichen Disziplinen aufgegriffen und munter reproduziert: „Politik” und „Ökonomie”, „Staat” und „Markt”, das „Nationale” wie das „Internationale” gelten fraglos als erste, nicht weiter zu befragende oder analysierbare Kategorien. Sie reihen sich in die etablierten Denkschemata dieser Disziplin ein, die sich damit zufrieden gibt, ab und an neue verbale Verknüpfungen von „Markt” und „Staat” zu verkünden (vgl. Krätke/Underhill 2006). Unter den Adepten herrscht ein wilder Eklektizismus, der durch einige wenige Konstanten gemildert wird. Dazu gehört die ritualisierte Verbeugung vor einigen toten Größen wie Karl Polanyi ebenso wie die nicht minder ritualisierte Ablehnung des bzw. Abgrenzung zum „Marxismus” und Marx. Auch die erklärten Marxisten in diesem Feld geben sich die größte Mühe, auf Distanz zum Schreckbild des „Marxismus” zu gehen. Sie präsentieren sich mit Vorliebe als Gramscianer, um nur ja nicht in den Verdacht des „Ökonomismus” zu geraten. Schlichte Ignoranz gehört mittlerweile zum guten Ton, auch bei den „Marxisten”, die in der Tat so tun als hätten sie von Marx’ und Engels’ zahlreichen Beiträgen zur Geschichte und Theorie der internationalen Politik noch nie etwas gehört und sich daher lieber an Gramscis fragmentarische Randbemerkungen halten (vgl. z.B. die Beiträge in Gill 1993; Cox 2002). Da sie von der schwierigen Kritik des alten Marx an der Theorie des internationalen Handels (bzw. deren Ricardianischem Kern, der Theorie der „komparativen Kostenvorteile“) und der Theorie des internationalen Geld- und Kapitalverkehrs, wie sie in den Hochzeiten der ökonomischen Klassik entwickelt wurden, nichts wissen und nichts wissen wollen, haben sie der gängigen Lehrbuch-Ökonomie auf diesem Feld nichts entgegen zu setzen. Marxistische Analysen des internationalen Handels, der internationalen Finanzmärkte, des internationalen Kapitalverkehrs sehen heute so aus, als hätte es eine Kritik der Politischen Ökonomie nie gegeben.

Nach wie vor ist Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie die einzige durchgeführte Kritik des Ökonomismus, der heute weltweit dominanten Denkweise, die nur noch ökonomische „Naturgesetze”, „Naturnotwendigkeiten” und „Sachzwänge” wahrnimmt und keine Politik mehr kennt. Es ist die einzige, die wir haben, die einzige, die der neoliberalen „Metaphysik der unpolitischen Ökonomie” Paroli bieten kann - auch auf der Linken, wo vorkritisches, metaphysisches Denken wieder das Feld beherrscht. Die richtige Kritik der Politischen Ökonomie kann zeigen, wie aufhaltsam und widerstehlich diese angeblichen „Sachzwänge” der „Globalisierung” sind, wie angreifbar und bestreitbar die „Übermacht” des Kapitals sich ausnimmt – sobald man es so hochkomplex und so politisch nimmt, wie es in der Marxschen Kritik auf seinen, durchaus nicht einfachen Begriff gebracht wird. In der Ökonomie, der politisch wichtigsten Sozialwissenschaft des bürgerlichen Zeitalters, ist die Krise der Hegemonie des herrschenden Denkens heute unübersehbar. Daher brauchen wir Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie. Heute mehr denn je.

Literatur

Karl Heinz Brodbeck 1998, Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie, Darmstadt

Robert Cox 2002, The Political Econommy of a Plural World, London

Steven Gill (ed) 1993, Gramsci, Historical Materialism and International Relations, Cambridge

Henryk Grossmann 1924, Sismonde de Sismondi et ses théories économiques, Warschau

Henryk Grossmann 1969, Marx, die klassische Nationalökonomie und das Problem der Dynamik, Frankfurt/M. (1941)

Michael R. Krätke/Geoffrey Underhill 2006, Political Economy. The Revival of an „Interdiscipline”, in: Richard Stubbs/Geoffrey Underhill (eds), Political Economy and the Changing Global Order, 3rd ed., Oxford – New York

Karl Korsch, 1967, Karl Marx, Frankfurt a.M (engl. 1938)

Lothar Kramm 1975, Die politische Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, Berlin